Arbeiterfotografie in der Weimarer Republik

Späte Wertschätzung

Der Kunstmarkt entdeckt die Arbeiterfotografie der Weimarer Republik.

Auf der Suche nach krisensicheren Anlagen stoßen Vermögende in Bereiche vor, in denen man sich lange nicht über die Aufmerksamkeit des bürgerlichen Geldadels freuen konnte. Im Herbst 2011 beispielsweise boten das britische Auktionshaus Christie’s und eine Pariser Galerie ein Foto an. Der Wert des Gelatineabzugs mit den Maßen von rund 40 mal 30 Zentimetern wurde auf bis zu 12 390 Dollar veranschlagt: »Nude« stammt von der Fotografin Cami Stone, die sich über weite Strecken ihres Lebens sehr darüber gefreut hätte, so viel Geld zu besitzen. Zwar waren die gebürtige Belgierin und ihr Ehemann Sasha Stone mit den in Berlin und Brüssel betriebenen Fotostudios durchaus erfolgreich, aber 1945, das vermeldete das Feuilleton der FAZ in einem Artikel über die anberaumte Auktion, musste sie ihre über den Krieg geretteten Glasnegative verkaufen, um mit den Silbersalzen der Emulsion ein wenig Geld zu verdienen.
Das wiederum lag auch daran, dass Cami Stone in Brüssel unter der deutschen Besatzung ein Porträtstudio betrieben und auch für die Deutschen gearbeitet hatte. Nach Kriegsende war das eine schlechte Empfehlung. Ihr Ehemann Sasha Stone dagegen war im Mai 1940 nach Südfrankreich geflohen und an der spanischen Grenze abgewiesen worden, unmittelbar nach diesen Vorkommnissen war er im August 1940 schwer erkrankt und verstorben.Fotografen und Fotografinnen der Weimarer Republik wie Sasha und Cami Stone erfreuen sich seit einigen Jahren eines kommerziellen Interesses, das ihnen zu Lebzeiten nur bedingt zuteil wurde. Das Interesse des Kunstmarktes und der Auktionshäuser richtet sich zusehends auch auf die Arbeiterfotografie der Weimarer Republik und die Ins-Bild-Setzer engagierter Sozialreportagen, auf die Chronisten des Niedergangs, die Rebellen, Verzweifelten, Linksradikalen und Widerständler.
Cami Stone hatte sich mit den Nationalsozialisten arrangiert. Ihr Ehemann Sasha, 1895 als Aleksander Sergej Steinsapir in St. Petersburg geboren, war ein russischer Jude, der nach Studien- und Arbeitsaufenthalten in Warschau und den USA 1924 in Berlin sein erstes Fotostudio eröffnete und um die Jahreswende 1931/32 nach Brüssel ging. Zwischen 1924 und 1933 war er ein renommierter Fotograf; er porträtierte etwa die Schauspielerin Tilla Durieux, den Schriftsteller Egon Erwin Kisch und den Regisseur Erwin Piscator. Bald wurde er vergessen, bis der Historiker Eckhardt Köhn 1990 im Rahmen einer Ausstellung im Essener Folkwang-Museum an ihn erinnerte. »Mit dem holländischen Schriftsteller Nico Rost«, schreibt Köhn im Rückblick über den vielseitigen Stone, »gestaltete er eine Reportage für den Querschnitt über die berühmte Straße der Diamanten in Antwerpen, mit Karl Otten realisierte er für die Beilage des Berliner Tageblatts eine Bild-Text-Montage über Dachdecker als ›Akrobaten des Alltags‹. Im gleichen Sinne finden Bilder von Sasha und Cami Stone auch Verwendung in dem ungleich schärfer politisch konturierten Buch von Kurt Tucholsky und John Heart­field ›Deutschland, Deutschland über alles‹ von 1929.«
Jüdische Chronisten des Untergangs wie Erich Salomon oder Abraham Pisarek, der Krieg und Holocaust als Zwangsarbeiter in Berlin überlebte, oder Lotte Jacobi und Gisèle Freund, die noch rechtzeitig fliehen konnten, sind längst kanonisiert worden. (Freunds Arbeiten sind noch bis zum 10. August dieses Jahres in der Berliner Akademie der Künste am Hanseatenweg zu sehen.) Bei der Suche nach weiteren Chronisten oder Chronistinnen der Weimarer Republik ist das Jüdische Museum Berlin fündig geworden und hat 2008/09 erstmals Fotografien von Ruth Jacobi gezeigt, der jüngeren Schwester von Lotte. Auch die fotografischen Arbeiten des jüdischen Juristen Leo Rosenthal, der vor den Nationalsozialisten in die USA fliehen musste, wurden bereits einer interessierten Öffentlichkeit vorgestellt, und nun wird sukzessive auch die Linke entdeckt, Mitglieder der Bewegung der sogenannten Arbeiterfotografie, die sich mit der kommunistischen Arbeiter ­Illustrierte Zeitung (AIZ) entwickelt und 1927 mit einem Kongress in Erfurt konstituiert hat.
Die AIZ, 1924 aus der Zeitschrift Hammer und Sichel hervorgegangen, wurde vom Neuen Deutschen Verlag herausgegeben und vereinte politische Agitation mit gut gemachter Unterhaltung, interessante Texte mit einem verwegenen Layout und den atemberaubenden Fotomontagen von John Heartfield. Die renommiertesten Autoren haben für die AIZ geschrieben, Leute wie Kurt Tucholsky, Egon Erwin Kisch, Heinrich Mann, Maxim Gorki und Anna Seghers. Die Fotografen blieben allerdings anonym; viele von ihnen waren erwerbslos, andere machten einen Beruf aus dem Fotografieren. Walter Reuter zum Beispiel: In den deutschsprachigen Ländern ist er eher unbekannt geblieben, doch in seinem letzten Exilland Mexiko brachte er es als Fotograf und Regisseur zu Anerkennung und einem gewissen Bekanntheitsgrad. In der AIZ hatte er Sozialreportagen aus dem Bayerischen Wald, aus Schlesien und über die Zeltstädte um Berlin beigesteuert, in denen es sich die zahlreichen kommunistischen und sozialdemokratischen Arbeitslosen der Stadt einigermaßen nett machten, bevor die Katastrophe über sie hereinbrach.
Reuter, seine Freundin Sulamith Siliava und eine weitere gemeinsame Freundin verließen Deutschland im Frühjahr 1933 zu Fuß. Sie schlugen sich nach Südspanien durch und lebten von Straßenmusik. Reuter nahm am Spanischen Bürgerkrieg teil – auf republikanischer Seite, versteht sich –,wurde in Marokko interniert und entkam 1942 nach Mexiko, ein Exilland, das er mit dem russischen Anarchisten Senya (Simon) Fléchine teilte. Fléchine stammte ursprünglich aus Kiew, war aber im Jahr 1913 mit seiner Familie in die USA emigriert. Wie zahlreiche andere russische Anarchisten entschloss er sich nach der Oktoberrevolution, in sein Herkunftsland zurückzukehren. Wegen seiner Beteiligung an der anarchistisch ausgerichteten Machno-Bewegung in der Ukraine wurde er von den Bolschewiki jedoch zum Tode verurteilt, von Lenin persönlich begnadigt und – nach einer weiteren Inhaftierung und einem Hungerstreik – im Sommer 1923 aus der Sowjetunion ausgewiesen.
Fléchine arbeitete von Berlin und Paris aus für in der Sowjetunion inhaftierte Anarchisten. 1929 kehrte er nach Berlin zurück, um für Sa­sha Stone in dessen Fotostudio in Berlin-Schöneberg tätig zu sein, bis die Nationalsozialisten ihn und seine Lebensgefährtin Mollie Steimer ins Exil trieben, nach Mexiko, wo sich seine Fotos heute in der Fototeca Nacional in Pachuca Hidalgo befinden.
Auf Walter Reuter in den deutschsprachigen Ländern aufmerksam gemacht zu haben, ist das Verdienst des inzwischen verstorbenen Kunstpädagogen Diethart Kerbs, der auch über John (Max Johann) Graudenz publiziert hat. Graudenz führte vermutlich ab 1921 ein Fotostudio und eine Pressebildagentur in Berlin und war Ende der dreißiger und Anfang der vierziger Jahre im Widerstand gegen die Nationalsozialisten aktiv: Graudenz war Mitglied im Rahmen der als »Rote Kapelle« bekannt gewordenen Widerstandsorganisation, wurde im September 1942 verhaftet und am 22. Dezember 1942 in Berlin-Plötzensee hingerichtet.
Forscher wie Eckhardt Köhn und Diethart Kerbs haben durch ihre Arbeit nicht nur ein Stück verschütteter Kulturgeschichte wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit geholt. Die von ihnen und anderen – oft unentgeltlich – geleistete Arbeit kommt letztlich dem Kunstmarkt zugute, wo man durch biographische Vorarbeiten, Forschungen und Ausstellungen in kleinem Rahmen erst auf die Werke aufmerksam wird. Doch die Forscher und Universitäten profitieren nicht von den teilweise spektakulären Auktionserlösen; die Kunstgeschichte führt eine Existenz am Rande der für produktiv erachteten Forschungslandschaft.
Dabei gestaltet sich die Recherche mühsam, denn die meisten derjenigen, deren Biographie die Forschung zu rekonstruieren sucht, haben unter schwierigen Bedingungen gelebt. Die vertriebenen Fotografen und Fotografinnen der Weimarer Republik haben sich in allen möglichen Ländern aufgehalten und waren ständig auf der Flucht.
Forschung ist teuer: Man muss reisen, Archive einsehen, kopieren.So recherchierte beispielsweise Ian Craven, Theaterwissenschaftler an der Universität von Glasgow, lange in mehreren Ländern, um das Leben und die Arbeit von Alex Strasser zu dokumentieren. Er verfolgte Spuren in Wien, wo Strasser Ende des vorvergangenen Jahrhunderts geboren worden war, im heutigen Liberec (damals Reichenberg), fuhr nach Prag, wo Strasser aufgewachsen war, und nach Berlin, von wo aus auch er samt seiner Familie ins britische Exil hatte flüchten müssen.
Alex Strasser, Neffe des linken Verlegers Franz Pfemfert und Sohn der Schriftstellerin Nadja Strasser, war in der damaligen deutschen Reichshauptstadt ein bekannter Fotograf gewesen, der sich bald auch in Großbritannien einen Namen als Regisseur machen konnte. Doch ohne die Arbeit von Ian Craven wäre er sicher der Vergessenheit anheim gefallen.
In anderen deutschen Städten blühte das Genre allerdings ebenfalls, beispielsweise in Köln. Der Kölner Fotograf August Sander (1876 –1964) wurde jedoch nicht erst kürzlich wieder entdeckt, sondern gilt längst als wichtiger Fotograf. Sein Foto »Werkstudenten« aus dem Jahr 1926 erzielte im April 2008 bei Sotheby’s den stolzen Preis von 493 000 Dollar. Es ist einer der höchsten Preise, die jemals für ein Foto bezahlt wurden. Doch nicht nur die Forschung, die sich mit Sander beschäftigt hat, muss sich mit weitaus weniger zufrieden geben, auch der Fotograf und die vier abgebildeten jungen Männer hatten wenig Glück im Leben: August Sander selbst musste im Jahr 1934 erleben, dass sein Sohn Erich, der sich gegen Ende der Weimarer Republik der SAP, der Sozialistischen Arbeiterpartei, angeschlossen hatte, in einem deutschen Zuchthaus verschwand, in dem er 1944 verstarb. Sein Freund Richard Creutzberg hatte bereits 1933 Selbstmord begangen und Georg Hanser wurde in Großbritannien interniert, weil man den Linkssozialisten für einen sowjetischen Spion hielt. Einzig der Vierte in der Runde überlebte: Hans Schoemann war über die KPD und deren interne oppositionelle Strömung, die Kommunistische Partei Opposition (KPO) zur SAP gekommen, ging 1933 ins belgische Exil und musste im Jahr 1940, nach dem Einmarsch der deutschen Truppen, abtauchen. Schoemann kämpfte anschließend im belgischen und französischen Untergrund gegen die Deutschen.
1982 wurde er vom Brüsseler Goethe-Institut eingeladen, um der Eröffnung einer Nussbaum-Ausstellung beizuwohnen. Er begrüßte den damaligen Direktor des Instituts mit den Worten: »In einem dieser Räume hier ist mein Todesurteil unterschrieben worden. Es könnte in Ihrem Büro gewesen sein.«