Das wirtschaftliche Desaster in der Ukraine

Brüning in Kiew

Das wirtschaftliche Desaster der Ukraine nutzt die Regierung des Landes im Bund mit dem Internationalen Währungsfonds zu umfassenden sozialpolitischen Einschnitten.

Es scheint, als habe sich der ukrainische Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk ausgerechnet im eins­tigen Deutschen Reich sein Vorbild gesucht. Heinrich Brüning, Reichskanzler zu Zeiten der Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre, schrieb später in seinen Memoiren über die von ihm eingeleitete »scheinbar planlose Deflationspolitik«, sie habe »die Welt zu einer Initiative für Streichung der Reparationen (…) zwingen« sollen. Er schrieb sich die Leistung zu, die Krise zur Senkung der Löhne und Sozialleistungen genutzt zu haben. Die Ziele des »Hungerkanzlers« waren die Revision des Versailler Vertrags und größere Handlungsfähigkeit beim »Drang nach Osten«. Jazenjuk will die Auszahlung weiterer Tranchen aus dem Hilfsprogramm des Internationalen Währungsfonds (IWF) über insgesamt 17 Milliarden US-Dollar und die Gewährung weiterer, eventuell ebenso hoher Kredite erwirken, über die derzeit verhandelt wird. Zwar ist die Ukraine anders als das imperiale Deutsche Reich selbst aus dem Blickwinkel der aggressivsten ukrainischen Nationalisten beim besten Willen nicht in der Lage, nach Osten zu drängen, aber im Bund mit der Nato wenigstens dabei, seinen östlichen Nachbarn in die Schranken zu weisen. Immerhin, der Feind bleibt geostrategisch der gleiche. Die zweite Ebene heißt heute »Herstellung der Wettbewerbsfähigkeit« bei weitgehender Schonung des Kapitals und ist nicht nur die Voraussetzung der IWF-Hilfen für das Land, sondern ebenso Jazenjuks Herzensangelegenheit.

Dass man sich an diesen Parametern in Kiew orientieren würde, daraus hat Jazenjuk bereits im Februar 2014 keinen Hehl gemacht (Jungle World 15/2014). Nun aber wird die Schlagzahl erhöht. In seiner Regierungserklärung hatte der alte und neue ukrainische Ministerpräsident Anfang Dezember bereits angekündigt, dass auf die Ukrainerinnen und Ukrainer in den nächsten Jahren »schmerzhafte Reformen« zukommen würden. Er müsse in 23 Monaten schaffen, »was in den vergangenen 23 Jahren nicht getan wurde«, kritisierte er gleich alle Vorgängerregierungen ob ihrer geringen Reformfreudigkeit. Keine Alternative gebe es zu seinem Programm – Brüning hatte in seiner Regierungserklärung vom 1. April 1930 noch gedroht: »Einen Aufschub der lebensnotwendigen Arbeiten kann niemand verantworten.« Um nichts weniger – aber für die meisten Ukrainerinnen und Ukrainer eben auch nicht um mehr – als »2015 zu überleben« gehe es, so Jazenjuk gegen Ende der Rede.
Die Zahlen scheinen das zu bestätigen. Auf mindestens 15 Milliarden Euro bezifferte das ukrainische Finanzministerium Ende Dezember die Summe, die die Ukraine zusätzlich zu dem laufenden Programm des IWF kurzfristig für das Überleben brauche. Geleitet wird das Finanzministerium von der eigens für diesen Job ein­gebürgerten Natalia Jaresko. Sie hatte in den neunziger Jahren als Expertin des US-Außenministe­riums dem IWF bei den Strukturanpassungsprogrammen beratend zur Seite gestanden, später in Kiew die Wirtschaftsabteilung der US-Botschaft geleitet und zuletzt die auch in der Ukraine tätige Private-Equity-Firma Horizon Capital.
Im vergangenen Jahr war die Wirtschaftsleistung der Ukraine um etwa sechs Prozent gesunken, das Vorkrisenniveau von 2007 ist noch lange nicht erreicht, die Devisenreserven sind binnen zwei Jahren von über 30 Milliarden US-Dollar auf weniger als acht Milliarden geschrumpft und die Industrieproduktion ist um 13 Prozent abgestürzt. In den umkämpften Regionen des Donbass, die vor dem Bürgerkrieg noch etwa 20 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) des Landes beigetragen hatten, ist der Einbruch besonders stark und die Perspektive einer wirtschaftlichen Wiederbelebung mindestens zweifelhaft. Hinzu kommt, dass nach Angaben der Zentralbank drei Dutzend Banken kurz vor dem Kollaps stehen. Auf den internationalen Finanzmärkten kommt die Ukraine schon lange an kein frisches Kapital mehr heran.
Zeit für Krisenmanagement also – wie eigentlich stets in der Geschichte der Ukraine seit der Unabhängigkeit. Einen ersten Erfolg ihrer spezifischen Vorgehensweise konnten Jazenjuk und ­Jaresko mit der Annahme des am 29. Dezember in den frühen Morgenstunden durchs ukrainische Parlament gepeitschten Haushaltsentwurfs verbuchen, der in seiner letzten Fassung den Abgeordneten zwar nicht einmal vorgelegen hatte, aber dennoch eine, wenn auch knappe Mehrheit der Abgeordneten der Regierungsparteien fand. Stellen- und Lohnkürzungen im öffentlichen Dienst – Lehrer müssen mehr Unterrichtsstunden geben, Gerichte werden zusammengelegt und Verwaltungen zu mehr Effizienz angehalten – sind darin genauso vorgesehen wie die Privatisierung von 1 200 der 1 500 Staatsbetriebe sowie die Streichung der bisher in der Verfassung festgeschriebenen kostenlosen Gesundheitsversorgung und der kostenlosen Schulspeisung sowie die Verringerung der Schulpflicht von elf auf neun Jahre.

Am härtesten dürften die Einsparungen Rentnerinnen und Rentner treffen. Hier bestehen aufgrund der Altersstruktur der ukrainischen Gesellschaft und des geringen Beschäftigungsstandes trotz des mickrigen Rentenniveaus offensichtlich die größten Sparpotentiale. 2013 betrugen die Ausgaben für die Zahlungen mehr als 17 Prozent des BIP, während der OECD-Durchschnitt bei gerade einmal acht Prozent lag. Nicht nur sind nun alle Sonderrentenzahlungen, etwa für ehemalige Soldaten, Staatsangestellte sowie Opfer der Tschernobyl-Katastrophe, sondern auch »Privilegien« wie die kostenslose Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel und vor allem die allgemeinen Gassubventionen rücksichtslos gestrichen worden. Diese hatten vor allem den Rentenempfängern bei einer Durchschnittsrente von umgerechnet zwischen 60 und 70 Euro überhaupt noch ein Überleben ermöglicht. Zudem soll die Aussetzung der automatischen Anpassung der Rentenhöhe an die Inflation – bei einer Rate von zuletzt 90 Prozent im vergangenen Jahr nicht ganz unerheblich – »bis zur Stabilisierung der Volkswirtschaft«, so Jazenjuk, vermutlich also recht lange, den Staatshaushalt entlasten.
Natürlich gibt es auch Gewinner unter der neuen Regierung – überwiegend die Altbekannten. Vorgesehen sind etwa eine noch durch Steuergesetze zu regelnde Reduzierung der Steuerarten und vor allem die zweistufige Senkung des Einheitssteuersatzes sowie ein Verbot der Überprüfung von Unternehmen durch die Finanzbehörden innerhalb der nächsten beiden Jahre. Selbst die reduzierte Steuer auf Gewinne aus dem Rohstoffhandel, ein spezifisches Privileg der Oligarchen, bleibt unangetastet. Und auch die größere Eigenverantwortlichkeit der Regionen beim Haushalt – so dürfen sie nun beispielsweise selbständig Kredite am internationalen Finanzmarkt aufnehmen – und die vergrößerte Quote der Zuweisungen von Steuereinnahmen an die Regionen dürften als Einladung an Oligarchen und ihre politischen Sachwalter zu Korruption und Nepotismus »im korruptesten Land Europas«, wie eine IWF-Delegation im Dezember festgestellt hatte, zu verstehen sein.
Hinzu kommt, dass die Regierung sich die Herstellung eines »Wettbewerbsarbeitsmarktes« vorgenommen hat, den Jazenjuk beim Werben um seinen Haushalt ausdrücklich mit der Zurückdrängung der bereits geschwächten Gewerkschaften sowie mit Lohnkürzungen (bei einem Duchschnittslohn von weniger als 250 Euro) und der Reduzierung von Sozialabgaben verbunden wissen wollte. Auf viel Widerstand ist Jazenjuks Regierung dabei bisher nicht gestoßen. Auch das erinnert an Brüning, der stolz verkündet hatte, die Löhne gesenkt zu haben, »ohne dass es zu irgendeinem Streik gekommen wäre«. Wenn überhaupt – und auch hier gibt es historische Parallelen – gibt es Proteste von rechts. Anlässlich der Haushaltsannahme randalierten vor dem Parlamentsgebäude etwa 500 Anhänger des »Rechten Sektors«.

International ist die Unterstützung für diese Deflationspolitik, die den Sparkurs mit dem politisch intendierten Verzicht auf Steuereinnahmen aus Kapitalerträgen und der Verbilligung der Arbeitskraft verbindet, weiterhin ungebrochen. Viel Lob für seine Reformen erntete Jazenjuk nicht nur aus den USA – der Begründer der unter anderem vom Außenministerium der USA und der Nato finanzierten »Open Ukraine Foun­dation« gilt im Gegensatz zum EU-freundlichen Präsident Petro Poroschenko als deren strikter Parteigänger –, sondern auch aus Deutschland, wohin ihn die erste Reise des neuen Jahres führte. Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel fand am 7. Januar genauso lobende Worte für die »nachhaltigen Reformen« der ukrainischen Re­gierung wie einen Tag später Angela Merkel für den »riesigen Erfolg« der Haushaltsverabschiedung. Ob aus historischer Reminiszenz heraus? Mit einem Kredit der EU in Höhe von immerhin 500 Millionen Euro als Soforthilfe für den »schwierigen Weg der politischen und wirtschaftlichen Stabilisierung«, so Gabriel, konnte der ukrainische Ministerpräsident den Rückweg nach Kiew antreten. Lange wird auch das nicht reichen. Aber er wird mehr bekommen, der Hungerkanzler aus Kiew, für seine Treue zum »Westen« und seine fast beispiellose Schocktherapie im Innern.