An den Grenzen der Festung Europa im Balkan

Zu Fuß nach Westen

Seit der Zaun um Ungarn die Flüchtlinge von der Einreise in die EU abhalten soll, campieren Tausende Menschen an der Außengrenze. Auch Kroatien hat, nachdem sich die Balkanroute verschoben hat, seine Grenzen erneut abgeriegelt. Konfrontiert mit Polizei und Militär, erleben die Flüchtlinge dort kriegsähnliche Szenen.

»Die serbischen Polizisten sind hilfsbereiter als die ungarischen. Ich glaube, sie versuchen ihm wirklich zu helfen.« Samaras Blick streift die Uniformierten, deren ruhige Handbewegungen allem Anschein nach dazu dienen, den Mann vor ihnen zu besänftigen. Wenige Meter dahinter der schmale Grenzkorridor, der mit Klingendraht eingewickelt ist, als wäre es Geschenkpapier. »Doch wenn sie ihn nicht durchlassen, hat er gedroht, sich vor ihren Augen umzubringen.«
Der Mann, so erzählt Samara weiter, hat vor wenigen Stunden seinen achtjährigen Sohn verloren. Die ungarischen Sicherheitskräfte haben ihn mitgenommen, kurz bevor sie die Grenze abriegelten. Der Mann, ein Iraker höheren Alters, steht mittlerweile neben ihr. Große Furchen graben sich in sein Gesicht, seine Lider hängen tief in den Augen. Er braucht seinen Sohn, sagt er leise, sonst will er nicht mehr weiterleben.
Der Grenzübergang zwischen dem serbischen Horgoš und dem ungarischen Röszke war eben noch Schauplatz hässlicher Szenen: Zunächst schien es, als würde das EU-Land kurzfristig seine Grenze öffnen. Gerüchte kursierten, dass Frauen und Kinder durchgelassen würden. Menschen strömten auf Tor zu, Sprechchöre ertönten, es gab hoffnungsvolles Aufatmen, hier und da ein Lachen. Dann, plötzlich, stürmten die Uniformen in die Menge: Schläge, Tritte, Gas aus der Dose. Bereitschaftspolizisten und Angehörige der ungarischen Antiterroreinheit TEK schlugen auf Flüchtlinge und Journalisten ein, feuerten wahllos Tränengas in die Menge, die sich wenige Minuten vor ihrer Einreise in die EU gewähnt hatte.

Noch immer ist die Luft scharf und rauchig, der Asphalt noch feucht von den Fontänen des Wasserwerfers. Leichte Windböen tragen die letzten Moleküle des Reizgases auf die Maisfelder hinaus. Einige Wunden werden von Freiwilligen versorgt, andere unter dem T-Shirt verborgen. Bei Rami, einem Architekturstudenten aus Damaskus, rufen solche Szenen schmerzliche Erinnerungen hervor: »Ich komme aus einem Bürgerkriegsland. Ich will keinen Krieg mehr. Warum schießen sie auf uns?«
Wem es bisher noch nicht klar war, dämmert es spätestens seit diesem Mittwoch: Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán führt nicht nur das Wort wie ein Schwert, sondern er handelt auch entsprechend. Das Land, das noch in den neunziger Jahren für seine Flüchtlingspolitik vom UNHCR gelobt wurde und als erster ehemals realsozialistischer Staat der Region die Flüchtlingskonvention ratifizierte, nahm damals Zehntausende auf, die vor den Jugoslawienkriegen flohen. Heute sind die Grenzen dicht. Seit dem 16. September verriegelt ein 175 Kilometer langer Zaun den Weg von Serbien.
Auf der anderen Seite, einige Kilometer gen Osten, liegt die kleine Gemeinde Röszke. Die Häuserreihen an der südlichen Dorfgrenze gehen beinahe unmittelbar über in die vier Meter hohe Wand aus Draht und Stahl, die Soldaten, Arbeitslose und sogar Gefangene tags zuvor fertiggestellt haben. Die Umgebung scheint sich noch nicht so recht an den Drahtkoloss gewöhnt zu haben. Er wirkt wie ein Fremdkörper in diesem ländlichen Idyll: plump in die Landschaft geklatscht, zwischen Maisfeldern hüben wie drüben. Die gesamte Szenerie hat etwas Künstliches, Beklemmendes.
Die Polizisten patrouillieren stoisch über den Feldweg. Die Maisfelder zittern unter dem Rotorenlärm eines herannahenden Helikopters, ansonsten ist es seltsam still. Immer wieder tauchen Flüchtlinge auf der gegenüberliegenden Seite auf, als ob sie überprüfen wollten, ob er immer noch da ist. Gibt es vielleicht ein Schlupfloch?
Am Rande liegen verstreut die Sachen, die die Geflüchteten zurückgelassen haben: Schlafsäcke, Babytücher, UNHCR-Decken, eine aufgerissene Kekspackung. Eine Stimme meldet sich aus dem hohen Gras. »Halt! Freund! Warte, bitte.« Ein Dreiergrüppchen nähert sich dem Zaun von der anderen Seite, bittet um Auskunft. In welchem Land sie sich befinden und ob hier Ungarn ist, fragt der eine unvermittelt. Ist es, nur leider nicht auf seiner Seite. »Saleem, aus Bangladesh«, stellt er sich vor. Er schaut übermäßig freundlich, eine Art Antithese zu dem rasiermesserscharfen Drahtgestrüpp, durch das sein Gesicht lugt. Ob die Armee schon da ist, will er wissen. Doch bevor er die Antwort vernehmen kann, hat er die ungarische Polizeibeamtin entdeckt, die plötzlich dasteht und dem Gespräch lauscht. Die drei hüpfen zurück ins Gestrüpp.

In Horgoš hat hat sich die Situation mittlerweile beruhigt. Dunkelheit legt sich über das Camp. Mit der Nacht kommt auch die Müdigkeit. Manche sitzen im Kreis zusammen und unterhalten sich, andere suchen den Schlaf. In Reih und Glied liegen sie am Straßenrand. Von Ermattung übermannte Körper sind in Schlafsäcke eingewickelt oder liegen auf Kartons, je nachdem, was die momentanen Besitzverhältnisse so hergeben. Die Übertragungswagen der Fernsehsender stehen ebenfalls hier – für alle Fälle –, ihre Generatoren schnurren bis tief in die Nacht. Am Morgen werden sie wie die meisten hier nach Westen aufbrechen, nach Kroatien, zur neuen Etappe der Balkanroute.
Jemand, der noch wach ist, bittet um einen Anruf. Er hat junge Gesichtszüge, aber sieht aus, als hätte er schon mehrere Leben gelebt. Es fällt schwer, ihm in die Augen zu blicken. Auf ein Gespräch hat er keine Lust, auch seinen Namen will er nicht nennen. Er muss dringend telefonieren, nach Schweden. Die freundliche, hilfsbereite Stimme im Hörer sagt ihm, dass die von ihm gewählte Rufnummer nicht existiert. Mit ebenso freundlicher und hilfsbereiter Stimme wiederholt sie das bei seinem zweiten Versuch, und beim dritten. Dann gibt er auf.

Knapp 200 Kilometer westlich, im serbisch-kroatischen Grenzgebiet, zeigt der Zaun bereits seine Wirkung. Der Feldweg, der von Šid über die grüne Grenze ins kroatische Tovarnik führt, schob sich noch am Dienstag gelassen durch die aufgequollenen Ackerschollen der Getreidefelder. Nun wandern Tausende den schmalen Pfad entlang, über den sonst nur die Traktoren der örtlichen Bauern rattern. Ein Exodus von Flüchtlingen, die über den kleinen Bahnhof ins Landesinnere gelangen wollen.
Die Hoffnung auf rasche Durchreise hatte unlängst die kroatische Regierung beflügelt. Ministerpräsident Zoran Milanović versprach, sich menschlicher zu verhalten als die Nachbarländer, und bot Kroatien als Transitland an. Erwartungsgemäß folgten Tausende seinem Aufruf und in weniger als 24 Stunden hatte sich die Balkanroute geändert.
Doch Tovarnik entwickelt sich zu einer Sackgasse. Kurz nach Ankunft der ersten Durchreisenden riegelte die Polizei den Bahnhof ab. Diejenigen, die Richtung Dorfmitte entkommen wollen, erwartete eine Polizeikette von der anderen Seite, so dass die bald über 7 000 Menschen de facto eingeschlossen waren. Am Asphaltrand und in den begrünten, ausgetrockneten Bachläufen hocken sie hingekauert und warten. Mutlose, fragende, wütende Gesichter. Ein paar Kinder spielen Fangen.
Eine Frau redet auf einen Polizisten ein: »Ich kann nicht mehr warten. Ich bin mit meiner Familie hier. Seit gestern sagen Sie mir, dass ich hier warten soll. Bitte lassen Sie mich doch einfach.« Weiter kommt sie nicht. Ihre Stimme bricht, Tränen benetzen ihre Wangen. Ein junger Iraker versucht es auf seine Weise, erbittet Informationen von Freiwilligen, Journalisten und allen, die für ihn so aussehen, als wüssten sie etwas. Er wirkt verstört, aber zugleich seltsam klar. Seit gestern sei er schon hier, er wolle nach Zagreb reisen, aber die Polizei lasse nicht mit sich reden. Niemand scheint etwas zu wissen. Die Polizisten lassen sich nur mürrisch Informationen abringen, die obendrein widersprüchlich sind: Busse würden kommen und die Flüchtlinge wegbringen. Nur wohin? Einer sagt, in die Hauptstadt, ein anderer, in ein Camp, wieder ein anderer nennt Orte, die hier nur denen etwas sagen, die über einen Internetzugang verfügen.
Nach Milanovićs öffentlichkeitswirksamem Aufruf brauchte die kroatische Politik keine 24 Stunden für die Kehrtwende. Innenminister Ranko Ostojić warnte, das Land sei überfordert und werde ein Einreiseverbot erlassen, wenn der Zustrom anhalte. Präsidentin Kolinda Grabar-Kitarović wies die kroatische Armee an, sich bereitzuhalten, die »nationale Grenze zu schützen«. Selbst Milanović machte einen Rückzieher. Auf der Website der Bundesregierung ist später zu lesen, dass er sich telefonisch mit der deutschen Kanzlerin darauf verständigt habe, dass das »Problem an der EU-Grenze gelöst werden muss«.
Ob es Überforderung, schlechte Planung oder politisches Kalkül war – für Ismail ist das einerlei. Er will nur weg hier. »Ein Polizist sagte mir, in fünf Stunden wird ein Zug fahren. Jetzt sind fünf Stunden vorüber und wir sind immer noch hier. Die Leute werden verrückt. Wir haben nichts zu essen und zu trinken.« Sein hektischer Gang, seine wachen Augen, sein knappen Sätze haben etwas Überzeugendes, beinahe Optimistisches. Auch wenn die allgemeine Lage das nicht herzugeben scheint. »Ich werde nie wieder einer europäischen Regierung glauben. Sie lügen uns an und respektieren uns nicht als Menschen. Ich werde schlechte Dinge tun, um mein Leben zu retten.« Der eindringliche Hinweis auf die Minenfelder im Osten des Landes verhallt im Rausch seiner Rede. »Ich habe alles verloren in meinem Leben. Es ist meine letzte Chance.«
Als der erste Bus das Camp erreicht, ist er binnen Sekunden von einer Menschentraube umhüllt. Ein Gewimmel aus Körpern, das die wenigen Polizisten nur mühevoll ordnen können. Einen nach dem anderen schleusen sie die Leute durch den schmalen Eingang. Sonnenstrahlen tanzen durch die letzten freien Plätze im Bus und flimmern auf den ungeduldigen Gesichtern der Wartenden. Dann eine erschütternde Szene: Ein etwa Fünfjähriger auf den Schultern seines Vaters fängt plötzlich an, panisch mit den Armen zu wedeln und zu kreischen. Eine Frau, allem Anschein nach seine Mutter, wird gerade von den Polizisten in den Bus gedrängt. Die Tür schließt sich. Der Junge beginnt am ganzen Körper zu zittern, streckt seine Arme nach vorne, als würde er einen Geist beschwören oder sie künstlich verlängern wollen. Die Umstehenden schreien die Polizisten an, schubsen sie, die Lage droht zu eskalieren. Im letzten Moment lenken die Polizisten ein. Der Junge darf mit in den Bus.
Andere haben weniger Glück. In der Nacht geistern Menschen um die aufgereihten Busse, die auf ihre Fahrerlaubnis warten. Es sind Väter und Ehemänner, die versuchen, einen letzten Blick auf Frau und Kinder zu erheischen, bevor diese ins Ungewisse aufbrechen.

Eine Gruppe von gut 30 Flüchtenden hat es bis ins Dorf geschafft. Sie haben sich im Schutz der Dunkelheit durch die Felder geschlichen und hocken nun auf einer Wiese zwischen Cafés und Häusern. Der Kopf der Gruppe stellt sich als Fareed vor, 25 Jahre alt, aus dem Irak. Alle anderen seien aus Syrien. Seine Erschöpfung hat sich tief in seine Augenhöhlen gegraben, er spricht mit leiser Stimme. »Wir haben seit zwei Tagen nicht geschlafen und sind nur gelaufen.« Ob es nicht ein Hotel in der Nähe gebe? Geld sei nicht das Problem. In Serbien ginge das problemlos, ohne Papiere, keine Registrierung. Doch das einzige Hotel des Ortes ist ausgebucht. Dort logieren Journalisten, die halbe Weltpresse ist angereist, um von hier zu berichten.
Fareed drückt sich sehr gewählt aus, sichtlich bemüht, Haltung zu bewahren. Er fragt nach einer Möglichkeit, von hier wegzukommen. Doch es gibt nicht viele Optionen, eine schlechter als die andere. Nach jeder Antwort senkt sich sein Kopf und vergräbt sich unter seinen Händen. »Wenn ich alleine wäre, wüsste ich, was zu tun ist. Aber die anderen wären aufgeschmissen ohne mich. Sie können kein Englisch.« Er fühle sich wie in einem Gefängnis hier, fährt er fort. »Was ich nicht verstehe: Die Regierung hat gesagt, dass wir kommen dürfen, also kommen wir. Warum werden wir jetzt festgehalten?«
Die Antwort darauf bleiben die Polizisten ihm schuldig, bleiben Europas Politiker ihm schuldig. Während in Tovarnik die Menschen in einer Art Freiluftgefängnis stecken, verstricken sich Europas Regierungen in Machtkämpfe und geben sich gegenseitig die Schuld an der »Flüchtlingskrise«. Die Wirklichkeit an diesem Ort scheint abgekoppelt zu sein von dem großen Politikspiel. Obwohl die Auswirkungen direkt zu spüren sind, liegen die Geschwindigkeiten, mit der Ereignisse voranschreiten, weit auseinander: Auf der Bühne der EU-Politik dient Zeit dazu, den politischen Gegner auflaufen zu lassen, ihn bloßzustellen, die eigene Agenda voranzubringen. Hier bedeutet Zeit nur eines, die Trennung der Flüchtlinge von ihrem Recht, in Sicherheit zu leben.
Was Fareed jetzt von Europa hält? Er zuckt mit den Achseln. »Es hat sich verändert. Nicht alle in Europa, aber die Regierungen. Sie haben uns angelogen. Ich habe ihnen geglaubt. Viele von uns haben ihnen geglaubt.« Seine dürren Finger streichen vorsichtig über eine Wunde an seiner Hüfte. Sie ist blau und von einem rötlich-gelben Kranz umrahmt. Er stand ganz vorne in Horgoš, als die ungarischen Sicherheitskräfte in die Menge stürmten. Fareed fragt wie viele andere hier, wo die Menschlichkeit in Europa ist, wo ihre Menschenrechte sind. Hier jedenfalls sind sie nicht, möchte man antworten. Irgendwo zwischen den zusammengequetschten Menschen, den schreienden Babies, der Hitze und den fehlenden Wasserflaschen sind sie verloren gegangen. Wer Asyl will, so scheint es, muss nicht nur einen Krieg überleben, sondern auch den gefährlichen Weg über Europas Grenzen schaffen. Erst wer die Mauern, die Europa baut, überwindet, wird empfangen.
Dem Nimbus der deutschen Kanzlerin tut das alles bisher keinen Abbruch. »Deutschland rette uns!« riefen die Menschen in Horgoš am Stacheldraht. Angela Merkel betrachten viele als Retterin in der Not. Auch Samara wollte noch eine Botschaft loswerden, am Abend nach den Ausschreitungen. An alle Menschen in Europa, aber speziell an Merkel: »Wir wollen in Frieden leben. Bitte helfen Sie uns.« Die Syrerin glaubt ihr, wie viele andere auch. Von den neuen Grenzkontrollen an der deutsch-österreichischen Grenze hat hier kaum jemand etwas gehört. Oder davon, dass die Stimmung in der Bundesrepublik bald zu ihren Ungunsten kippen könnte. Diejenigen, die es erfahren, gucken ungläubig und fragen: »Are you serious?« – Meinst du das ernst