Krieg und Alltag in Diyarbakır

Frühling unter Waffen

Von Alltag kann in Diyarbakır zurzeit keine Rede sein. Die türkische Regierung geht militärisch gegen die PKK vor, militante Kurden leisten Widerstand. Und selbst Menschen, von denen es nicht zu erwarten wäre, denken über den bewaffneten Kampf nach.

Reste von Tageslicht und Straßengeräuschen dringen in das Untergeschoss eines Häuserblocks in Diyarbakır. In dem mit viel Holz und urbanem Retro-Chic eingerichteten Restaurant rollt sich in einer Ecke eine Katze zusammen, sanft tönt ein Song von Nina Simone aus den Lautsprechern der Musikanlage. Viele internationale Gäste kommen vorbei, aber auch liberale Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt. Man könnte hier beinahe den Krieg vergessen, der sich nur einen Kilometer entfernt abspielt.
»Dieser Krieg ist real«, konstatiert Zeynep nüchtern angesichts dessen, was die Menschen in Diyarbakır täglich erleben. Die junge Frau studiert Landschaftsarchitektur im ungefähr 90 Kilometer entfernten Mardin. Sie sieht die Verantwortung für die Kämpfe beim türkischen Staat, der einen Krieg gegen die kurdische Bevölkerung führe. Die türkische Regierung hingegen behauptet, lediglich Terroristen zu bekämpfen. Seit Monaten belagert die Armee unter anderem das nahe Sur, die historische Altstadt von Diyarbakır. Zehntausende flüchteten nach Angaben der Stadtverwaltung von dort in das angrenzende Viertel Bağlar, Hunderte sollen gestorben sein – erschossen, in Kellern verschüttet, Verletzungen erlegen. Auch über Teile von Bağlar wurde vergangene Woche eine mehrtägige Ausgangssperre verhängt, nachdem sich kurdische »Zivilverteidigungseinheiten« (YPS) dorthin abgesetzt hatten.
Abseits der umkämpften Viertel geht das Leben seinen mehr oder weniger normalen Gang. Die Geschäfte sind geöffnet, die Straßen belebt, zumindest tagsüber. Doch wie fühlt sich dieser Alltag an? Zeynep weiß es, sie wohnt in Bağlar: »Auch wenn du nicht mittendrin bist, verändert der Krieg alles. Wie kannst du ausgehen, Spaß haben, dich frei bewegen, wenn nur einen Kilometer weiter Menschen sterben und alles von Militär wimmelt?« Der omnipräsente Klang des Krieges unterstreicht ihre Aussagen: Das Dröhnen der türkischen Kampfjets, die sich mit eingeschaltetem Nachbrenner vom Flughafen Diyarbakır in Richtung Kandil-Gebirge bewegen, das abgehackte Knattern der Maschinengewehre, das tagsüber vereinzelt in Sur und Bağlar zu hören ist, und das dumpfe Hupen der Wasserwerfer und Panzerwagen lassen an Frieden nicht denken.
Zeyneps Blick schweift unbestimmt über die schmutzige Mauer vor den vergitterten Fenstern des Restaurants. »Sollte ich nicht langsam lernen, eine Waffe zu bedienen? Die Situation lässt mir doch keine Wahl mehr«, sagt sie. Immer häufiger gehe ihr der Gedanke durch den Kopf – ausgerechnet ihr, der Antimilitaristin, die immer voll Unverständnis auf diejenigen herabgesehen habe, die vom bewaffneten Kampf reden. So wie ihr geht es vielen Kurdinnen und Kurden. Die Möglichkeit eines Friedens mit dem türkischen Staat ist in weite Ferne gerückt.
Bei den Wahlen im vergangenen Juni wurde die prokurdische HDP ins türkische Parlament gewählt. Sie war angetreten, Präsident Recep Tayyip Erdoğans Pläne zum Aufbau eines Präsidialsystems zu stoppen. Erdoğans Kalkül war es, sich nach den Wahlen als Garant für die Sicherheit zu präsentieren – und militärische Angriffe in den kurdisch bewohnten Gebieten zu verstärken. Seitdem eskaliert die Lage im gesamten Südosten der Türkei. Wie weit Erdoğan dabei gegangen sein könnte, lässt ein Bericht des HDP-Abgeordneten Nihat Akdoğan vermuten. Der Politiker beschuldigt die türkische Armee, am 19. März in der Stadt Yüksekova Chemiewaffen eingesetzt zu haben. Manche Opfer litten nach Akdoğans Angaben unter Atemwegsproblemen und sahen ein gelbes Gas, an dem zwischen 30 und 40 Menschen gestorben seien. Die Website der kurdischen Nachrichtenagentur ANF, die die Nachricht zuerst verbreitete, ist derzeit in der Türkei nicht erreichbar.
Fast zur gleichen Zeit, als diese Meldung veröffentlicht wurde, handelte die EU mit der türkischen Regierung die Vereinbarung über die Rücknahme von Flüchtlingen aus. In Diyarbakır stößt die Abmachung auf wenig Verständnis. Zu dem Thema befragt, haben die Menschen eine klare Meinung: Mit der Abmachung erteile Angela Merkel der türkischen Regierung eine Art Absolution für das militärische Vorgehen, statt sich für die Minderheiten im Land einzusetzen. Deutschland, Hort der Demokratie und Menschenrechte? Das glauben hier immer weniger Leute.
Ein anderer Tag in Diyarbakır. Vor dem »Demokratischen Kongress der Gesellschaft« (DTK), dem Zentrum der kurdischen Selbstverwaltung in der Türkei, kann man Tee trinken und reden. Im DTK sind alle Bevölkerungsgruppen der Region repräsentiert. Als außerparlamentarischer Arm der kurdischen Bewegung sollte es seine Aufgabe sein, die Selbstorganisation der Bevölkerung in 14 verschiedenen Arbeitsbereichen wie Bildung, Gesundheit, Landwirtschaft und Umweltschutz zu fördern. Derzeit ist das Gremium vor allem mit der Organisation des Widerstands und der Rettung von Eingeschlossenen in den belagerten Vierteln beschäftigt.
Am DTK hält sich auch Diren auf, der für die HDP in einem Büro in Ankara arbeitet. Seit 2007 habe sich die kurdische Bewegung darauf konzentriert, Autonomie, Rätestrukturen und kollektive Betriebe zu schaffen, sagt er. Doch diese Arbeit an einer vom türkischen Staat unabhängigen Gesellschaft sei durch die aufkommenden Kämpfe zum Stillstand gekommen. »Wer schützt nun unsere autonomen Strukturen?«, fragt Diren rhetorisch.
So wie er sind viele Menschen den militanten Jugendlichen und der PKK-Guerilla dankbar. Sie sehen sie als Schutzmacht. Diren ist Mitte 20, bald hat er mit seiner Band einen Auftritt in Istanbul, ausgerechnet in der İstiklâl Caddesi, wo der »Islamische Staat« Ende März eine Bombe gezündet hat. Er blinzelt in die Sonne. »Ich bin Künstler. Hätte ich die Wahl, würde ich gerne mehr über Philosophie diskutieren, eine Akademie aufmachen, in Kollektiven arbeiten und mich in das kulturelle und intellektuelle Leben einbringen«, sagt er. Stattdessen redet Diren jedoch vom Krieg.
Zehn Gehminuten vom DTK entfernt zeigt er uns eine Garage, von der aus Hilfsgüter verteilt werden. Der Rojava-Verein koordiniert hier Freiwillige, die die Lebensmittel abpacken und in die umkämpften Gebiete ausliefern: Cizre, Nusaybin, Şırnak, Hakkâri, die Liste betroffener Städte ist lang. Bei der Arbeit geht es geschäftig zu. Jeder Handgriff ist präzise, die Abläufe sind routiniert. Auf dem Boden türmen sich die Pakete auf: Linsen, Reis, Bulgur, Tomatenmark, Nudeln, Bohnen, Zucker. Genug, um eine Familie eine Woche lang ernähren zu können. Im Gegensatz zum öffentlichen Leben, das Männer bestimmen, wirken hier auch viele Frauen mit – bei der anstrengenden körperlichen Arbeit ebenso wie in der Planung und Organisation.
»Die Geschichte ist in einem gewissen Sinn die Geschichte des dominanten Mannes«, schreibt Abdullah Öcalan, den viele Kurdinnen und Kurden als den ideologischen Anführer der PKK geradezu kultisch verehren. Er zieht damit eine Parallele zum »Kommunistischen Manifest«, das die Geschichte als eine von Klassenkämpfen beschreibt. Doch spiegelt sich Öcalans Ansicht im Alltagsleben der Kurdinnen? Zeynep guckt nachdenklich, bevor sie antwortet. »Es gibt immer noch viele Codes und Rollenbilder, die wir in unseren Köpfen tragen«, räumt sie ein. »Öcalan lehrt uns daher, den Mann in uns zu töten.«
Zeyneps Familie kommt aus Izmır, einer Stadt, die als besonders liberal gilt. »Als ich anfangs hier in die Teestuben ging, haben mich die Leute komisch angeguckt. Diese Orte sind männerdominiert, bis heute. Aber mittlerweile legt sich das, die Männer haben sich an mich gewöhnt«, berichtet sie. Es müsse ein tiefgreifendes Umdenken in der kurdischen Bevölkerung stattfinden, diese Prozesse benötigen Zeynep zufolge ausreichend Zeit. Die YPJ, die Frauenguerilla in Rojava, habe dazu beigetragen, die Rollenbilder in Frage zu stellen. Frauen würden nicht mehr nur als Mütter wahrgenommen, sondern häufiger mit Stärke in Verbindung gebracht. »Die Rebellinnen der YPJ haben gezeigt, dass Frauen eine große innere Kraft haben«, sagt Zeynep.
Auch am kurdischen Frühlingsfest Newroz, das hier traditionell um den 20. März gefeiert wird, zeigen Frauen Stärke und Präsenz. Lediglich in Diyarbakır wurde die Feier dieses Jahr nicht verboten. Mehr als eine halbe Million Menschen sind zusammengekommen, Frauen, Männer, auch eine Gruppe mit LGBTIQ-Fahnen ist zu sehen. Sie trauern, tanzen und verfolgen aufmerksam die Beiträge der Rednerinnen und Redner, die ebenso zerrissen sind zwischen Friedenswünschen und bewaffnetem Widerstand, Mut und Hoffnungslosigkeit wie die gesamte kurdische Bewegung.
Nach dem Fest verliert sich die Menge schnell zwischen den riesigen Wohnblocks des nahen Stadtrands. An diesem Tag gibt es keine größeren Zusammenstöße mehr mit der Polizei. Diese gelöste Stimmung, diese Ruhe nach dem Fest, die scheinbare kurzzeitige Abwesenheit des Krieges hat in Diyarbakır eine ganz besondere Bedeutung: Den Tag für kurze Zeit erträglich zu machen, sich Orte der Ruhe zu schaffen, ist wie vieles andere in dieser hochpolitisierten und umkämpften Stadt bereits ein widerständiger Akt.