»Occupy Wall Street« und die Folgen

Alles ist persönlich

Im September 2011 schien es für kurze Zeit so, als könne »Occupy Wall Street« in New York mehr als ein weiterer Ableger der europäischen Platzbewegungen werden. Die Revolution fiel dann zwar doch aus, einige Netzwerke bestehen aber weiter.

Der New Yorker Zuccotti Park, gleich neben der Wall Street, ist ein städtischer Platz mit Bäumen und Betonbänken, auf denen die Leute aus den umliegenden Büros an den ersten Frühlingstagen in der Mittagspause ihr Sandwich essen. Kaum etwas erinnert heute daran, dass hier im September 2011 eine der größten außerparlamentarischen linken Bewegungen der USA seit der New Left der siebziger Jahre ihren Anfang nahm. Wochenlang hielt »Occupy Wall Street« (OWS) den neugetauften Liberty Plaza besetzt, nutzte ihn für öffentliche Versammlungen, Workshops und als Ausgangspunkt für Demonstrationen, aber auch für Trommelkreise und Gottesdienste unter freiem Himmel, für eine selbsterrichtete Küche und eine Bibliothek. Gewerkschaften, sozialistische Gruppen, kommunistische Kleinstparteien und andere schlossen sich der Bewegung an, Musikerinnen und Musiker wie Talib Kweli, Amanda Palmer oder Joan Baez spielten Akustikkonzerte für die Besetzer.

»Occupy« thematisierte die Erfahrungen ökonomischer Prekarität und veranschaulichte ihre gesellschaftliche Dimension.

Zahlreiche Großdemons­trationen fanden in der ganzen Stadt statt. Von New York aus breitete »Occupy« sich schnell in mehrere Hundert Städte der USA aus, wurde in zahlreichen Ländern kopiert und reihte sich ein in die als Antwort auf die Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2008 entstandene »Bewegung der Plätze« in Spanien, Griechenland und Portugal.

Für die US-amerikanische Linke bedeutete »Occupy Wall Street« einen grundlegenden Wandel. Erstmals seit der globalisierungskritischen Bewegung und den Protesten gegen die Kriege im Irak und in Afghanistan existierte wieder ein Bezugspunkt für gemeinsame Kämpfe. Und zum ersten Mal seit langem war dies eine Bewegung, die nicht nur für »die anderen« sprach – seien es die Menschen im globalen Süden, bedrohte Meeresschildkröten oder die Opfer amerikanischer Bomben. In New York stand das we im Mittelpunkt. Dieses we war von jungen, weißen Akademikerinnen und Akademikern geprägt, viele von ihnen waren arbeitslos oder in prekären Arbeitsverhältnissen und aufgrund von Studienkrediten hochverschuldet. »Occupy« thematisierte diese Erfahrungen ökonomischer Prekarität und veranschaulichte ihre gesellschaftliche Dimension.

Nach einem Monat der Besetzung wurde der Zuccotti Park mit heftiger Polizeigewalt geräumt. Obwohl einige der anderen Besetzungen im Land den Winter überstanden, war damit das Ende der Bewegung eingeläutet. Die Repression war hart und der Fokus auf die Besetzung öffentlicher Plätze stellte eine Schwäche dar. Sobald der Ort geräumt, verschneit und verlassen war, existierte meist zu wenig Infrastruktur, um Kampagnen am Laufen zu halten. Doch es waren nicht nur die staatlichen Kräfte und die Örtlichkeiten, die den Zerfall von OWS beförderten. Auch die internen Dynamiken und ideologischen Grundlagen dieser von Horizontalismus und Neoanarchismus geprägten Bewegung trugen dazu bei, dass der Aufbau von dauerhaften organisatorischen Strukturen hintangestellt wurde. Stattdessen ging es in den oft stundenlangen Plena um Entscheidungsfindungsprozesse, basisdemokratische Bemühungen oder die Frage, wie viele Stunden am Tag der Trommelkreis im Park spielen dürfe. Die Bewegung lehnte es nicht nur ab, Forderungen vorzubringen, sondern scheute sich auch, gemeinsame politische Positionen zu artikulieren.

Diese inhaltliche Offenheit führte nicht nur zu punktuellen Querfrontaktivitäten mit rechtslibertären Gruppen, sondern auch zu einer Art kollektivem Individualismus, bei dem vor allem Einzelmeinungen ausgedrückt wurden. »Zu oft war das Politische einfach nur noch das Persönliche«, schrieb Sofia Cutler in einer Retrospektive im Jacobin Magazine. Die Politikwissenschaftlerin Jodi Dean spricht in ihrem Buch »Crowds and Party« von »kollektiver Desubjektivierung«, in einem der vielen Beiträge, mit denen die amerikanische Linke mehr als fünf Jahre danach versucht zu verstehen, was schiefgelaufen ist.

Doch auch wenn »Occupy« nicht als kohärente Bewegung überdauert hat, überlebten einige der aufgebauten Netzwerke. Sie organisierten sich in Teilprojekten, die teilweise auch namentlich an OWS anknüpften: »Occupy Sandy« übernahm Notfallkatastrophenhilfe in den im Herbst 2012 vom Hurrikan »Sandy« verwüsten Regionen – Bewegungslinke füllten die Lücke, die der abgebaute Sozialstaat hinterlassen hatte.

»Occupy«-Gruppen beteiligten sich an »Move Your Money«-Aktionen, in denen Leute zum Wechsel zu Genossenschaftsbanken aufgefordert wurden. Die Kampagnen »Strike Debt« und »Rolling Jubilee« sammelten unter anderem Spenden zum Aufkauf von Schuldtiteln überschuldeter Studierender und entwickelten Strategien zum Umgang mit Verschuldung. »Occupy Our Homes« widersetzte sich der Räumung von Wohnhäusern im Zuge von Zwangsvollstreckungen, »Occupy the Pipeline« versuchte, den Bau einer Gasleitung durch Manhattan zu verhindern. Die Bewegung »Fight for 15«, die sich seit 2012 für einen höheren Mindestlohn einsetzt, gehört ebenfalls zu diesen Netzwerken.
Auch bei »Black Lives Matter«, der Antwort auf rassistische Morde der Polizei in den vergangenen Jahren, waren Auswirkungen spürbar, und sei es nur in Methoden wie dem »Human Microphone« – das Wiederholen eines Redebeitrags durch einen Sprechchor, so dass er auch von einer großen Mensch­enmenge verstanden wird –, das ins feste Repertoire sozialer Bewegungen einging. Eine der am weitesten reichenden Nachwirkungen von OWS lag aber sicherlich im überraschenden Aufstieg von Bernie Sanders, dem linken Bewerber für die Präsidentschaftskandidatur der Demokratischen partei. So waren nicht nur mehrere Hauptorganisatoren und -organisatorinnen der Bewegung vor etwa zwei Jahren an der Gründung von »The People for Bernie Sanders« beteiligt, sie waren auch indirekte Stichwortgeber für Sanders’ Wahlkampf mit seinem Fokus auf ökonomischer Gerechtigkeit.

Dies verdeutlicht auch die weiteren Auswirkungen, die die Bewegung für den politischen Diskurs hatte. »Occupy Wall Street« hat es ermöglicht, über soziale und ökonomische Ungleichheit und die Einkommenskluft zu sprechen. Dieser Diskurs schlug sich bereits in der Rhetorik des ehemaligen Präsidenten Barack Obama nieder. Sanders knüpfte sehr unmittelbar an die Themen der Bewegung an. Doch auch ­Hillary Clinton und Donald Trump versuchten, sich als Teil der »99 Prozent« zu inszenieren, die nach dem OWS-Motto »We are the 99 percent« gegen das »eine Prozent« der Gesellschaft stehen sollen, dem OWS zu viel Einfluss zugeschrieben hatte. Das verweist auch auf den populistischen Grundgedanken, der OWS immer inhärent war, und somit auf die Anknüpfungspunkte nach rechts. Anklänge an den Rechtspopulismus von Stephen Bannon, mittlerweile ein Stratege unter Donald Trump, fanden sich sogar unmittelbar in der Sprache der Bewegung, wenn die Produktionssphäre – »Main Street« – der Finanzsphäre – »Wall Street« – gegenübergestellt und die »Gier« der sogenannten Eliten als Ursache der Zerwürfnisse der neoliberalen Wirtschaft kritisiert wurde.

Der Ausbau und die Verfestigung von OWS hätte eine Chance bieten können, das Thema Ökonomiekritik wieder zu einem zentralen Anliegen der außerparlamentarischen Linken zu machen. »Occupy« hätte das werden können, als was Trump sich nun zu gerieren versucht: ein Sprachrohr für diejenigen, die unter der kapitalistischen Ökonomie leiden. Dazu aber ­hätte die Bewegung eine Kohärenz benötigt, die über die neoanarchistisch inspirierte Prozessorientierung hinausgeht. Dennoch ist »Occupy« anzurechnen, als erste Bewegung die »Millennials« vom Bildschirm auf die Barrikaden gebracht zu haben. Auf den Plätzen, in den Camps und im Tränengasnebel fand eine affektive Politisierung derjenigen statt, die sich nie zuvor kollektiv artikuliert hatten. Mit welchen Inhalten diese Erfahrungen in Zukunft gefüllt werden, wird sich in der Fortsetzung der Anti-Trump-Bewegungen zeigen.