Eine Anwohnerinitiative im ­kolumbianischen Cali versucht, Polizeigewalt aufzuklären

Angriffe von mehreren Seiten

In der kolumbianischen Stadt Cali eskalierten im Frühjahr 2021 Proteste gegen die damalige Regierung. Noch immer ist das brutale Vorgehen der Polizei gegen die Protestierenden im armen Stadtteil Siloé nicht aufgeklärt. Die Anwohner wollen das ändern.
Reportage Von

Auf dem hellblauen Ölfass ist der Schriftzug »Siloé widersteht – und Sie?« zu lesen. Das Fass mit der provokanten Frage ist auf einen Stapel ausrangierter Stühle montiert, daneben steht eine Gruppe bunter Pappmachéfiguren. Dieses etwas andere Mahnmal steht in Cali, der drittgrößten Stadt Kolumbiens, gegenüber dem Museo Popular de Siloé, dem einzigen Museum im Stadtteil Siloé, der eingezwängt zwischen mehrspurigen Verbindungsstraßen und einer Bergkette im Westen Calis liegt und einer der ärmsten der Stadt ist. Im Museo Popular sind Helme mit dem Schriftzug »Primera Línea« (Vorderste Linie) ausgestellt, Taucherbrillen, blu­tige Kleidungstücke, Patronenhülsen und halbverbrannte Autoreifen – Relikte der am längsten anhaltenden sozialen Proteste, die Kolumbien je erlebt hat.

Die Exponate sollen an den paro nacional erinnern, der das südamerikanische Kolumbien vom 28. April bis weit in den Juli 2021 in Atem hielt. Der landesweite Streik begann als friedliche Demonstration und eskalierte dann immer mehr. Anfangs ging es um Kritik an geplanten Reformen im Steuer- und Gesundheitssystem, doch arti­kulierte sich zusehends generelle Unzufriedenheit mit der Politik der Regierenden. Polizei und Armee schlugen die Protestbewegung auf Weisung des damaligen Präsidenten Iván Duque blutig nieder, teilweise unterstützt von Paramilitärs. Landesweit gab es mehr als 80 Tote, Hunderte Vermisste und Tausende Verletzte.

»Es geht darum, uns zum Schweigen zu bringen.« José Benito Garzón, Universitäts­dozent und Menschen­rechtler

Duque, der der rechtskonservativen Partei Centro Democrático (CD) angehört, kündigte Ende Mai 2021 an, hart durchzugreifen: »Ich möchte absolut klarmachen, dass von heute Nacht an die nationale Polizei die maximale ­militärische Unterstützung bekommen wird.« Insbesondere Cali hob Duque dabei hervor. Die Stadt war im Frühjahr 2021 das Epizentrum der dreimonatigen Proteste samt Straßenblockaden gegen die Regierung von Duque und auch der eskalierenden Gewalt. Im Stadtteil Siloé ging die Polizei besonders repressiv und brutal gegen die Protestierenden vor.

Stadtteilaktivist:innen arbeiteten die Geschehnisse auf; sie schlossen sich zusammen, um zu dokumentieren, wer die Opfer der Ordnungskräfte waren. »Wahrheit und Gerechtigkeit ist das Motto, unter dem wir über Monate Unterlagen sichteten, Aussagen und Do­kumente sowie Videos und Fotos analysierten«, sagt David Gómez, Museumsgründer, Kurator sowie Menschenrechtler, der regelmäßig Führungen durch Siloé organisiert und dabei auf Spuren der Gewalttaten hinweist. Der 59jährige war wie viele andere auch während der Frühjahrsproteste 2021 auf den Straßen des marginalisierten Stadtteils unterwegs. »Wir wollen mit unserer Initiative ein Zeichen setzen, staatliche Institutionen wegen ihres brutalen Vorgehens gegen die eigene Bevölkerung an den Pranger stellen«, sagt Gómez.

Nachbarschaftliche Solidarität

Im Museum treffen sich Aktivist:innen wie Gómez und knapp ein Dutzend ­andere, um die Recherche zu koordinieren. »Wir wollen der Frage auf den Grund gehen, warum 16 Menschen in Siloé sterben mussten«, sagt José Benito Garzón mit ruhiger Stimme. »Bisher haben wir 159 Opfer identifiziert, darunter die Ermordeten, zwei Verschwundene sowie 141 Verletzte, von ­denen die meisten Schusswunden aufweisen.« Garzón wohnt nur ein paar Minuten von Siloé entfernt, hat die Schüsse der Spe­zialeinheiten der Polizei gehört und war auch bei den Straßenprotesten. Die Aktivist:innen initiierten auch das »Tribunal Popular en Siloé«, einen symbolischen Prozess gegen den ihrer ­Ansicht nach terroristisch agierenden Staat, dem sie keine ausreichende Strafverfolgung der Polizeigewalt zutrauen. Im Rahmen ihres Tribunals wurden Informationen zwischen den Aktivisten und Angehörigen der Opfer ausgetauscht.

Seit Beginn der Covid-19-Pandemie unterstützen sich die Bewohner Siloés gegenseitig noch stärker als zuvor. »Uns hat hier niemand von staatlicher Seite geholfen, wir sind selbst zusammengerückt, haben Suppenküchen in den Nachbarschaften aufgebaut, uns so gegenseitig durch die Krise geholfen«, sagt Francia Zuluaga Trujillo, die in Siloé nur Mona genannt wird und derzeit in einem von drei kommunalen Gärten arbeitet. »Obst, Gemüse und Hülsenfrüchte für die eigene Versorgung, aber auch für die der Suppenküchen, werden dort angebaut«, erzählt die Mutter dreier Kinder. Sie gehört zu den Frauen und Männern der Primera Línea, die mit selbstgebauten Schilden die Straßenblockaden von De­mon­s­tran­t:innen gegen Angriffe der Polizei und des Militärs verteidigten. Sie wurden zum Symbol des Widerstands, sind aber auch selbst Angriffen der kolumbianischen Rechten ausgesetzt.

Mona war über Wochen bei den Protesten in den Straßen von Siloé präsent, hat mit Anwälten telefoniert, Essen gekocht und immer wieder Verletzte abtransportiert. Rund um den Kreisverkehr La Glorieta de Siloé war sie im Einsatz, wo auch während des Besuchs der Jungle World im September ein Polizeitransporter etwas weiter oben auf einer Rasenfläche steht. Der Kreisverkehr verbindet mehrere Stadtteile Calis; von ihm führt eine Straße ins ­Innere von Siloé, wo Mona lebt und sich auch das Museo Popular befindet.

Gemeinsame Aufarbeitung

Nicht weit vom Museum entfernt sind die Gesichter der Opfer auf einer langgestreckten Mauer in leuchtenden Farben festgehalten. »Würde schafft Erinnerung« ist zwischen den Graffiti-Porträts in dicken Lettern zu lesen. Mona hat die Arbeiten der Künstler:innen koordiniert, andere Aktivist:innen haben mit den Familien der Opfer gesprochen, Biographien verfasst, Fotos zusammengesucht und en detail die Fakten für den symbolischen Prozess gegen den kolumbianischen Staat zusammengetragen, der am 3. Mai 2022 begann, ein Jahr nach der sogenannten Operación Siloé. Bei dieser überfielen spe­zialisierte Polizeieinheiten mehrere Häuserblocks während einer Toten­wache zum Gedenken an den jungen Demonstranten Nicolas Guerrero, der am Vortag im Norden von Cali ermordet worden war. Bei dem Überfall kamen weitere junge Menschen ums Leben. Daraufhin eskalierten die Proteste. »Am späten Nachmittag am 3. Mai 2021 sammelten sich Tausende zur Protestkundgebung », sagt Mona.

Die Aktivist:innen der »Primera Linea« verteidigten Demon­stran­t:innen gegen die Polizei und wur­­den zum Symbol des Wider­stands, sind aber auch Angriffen der kolumbi­anischen Rechten ausgesetzt.

»Hier starben drei Jugendliche durch Polizeikugeln, weitere wurden verletzt«, erinnert sich auch Gómez. Er verweist auf einschlägige Studien von Menschenrechtsorganisationen, wie »Cali: En el epicentro de la represión« (Cali: im Epizentrum der Repression) von Amnesty International (AI), in der ein Kapitel der Operación Siloé gewidmet ist. Darin wird anhand von Zeugenaussagen, der Auswertung Hunderter Videos, Fotos und Audioaufnahmen belegt, dass die Polizeiführung vorgegangen sei, als ob sie sich in einem Einsatz gegen bewaffnete Kriminelle und nicht gegen Demonstrant:innen befunden hätte. Es gibt Berichte, wie Wehr­lose verprügelt wurden, von sexuellem Missbrauch und von Verschwundenen.

Aus zwei Hubschraubern, die über dem gesperrten La Glorieta de Siloé kreisten, wurden demnach gegen 21 Uhr mit Tränengasgranaten auf die bis dahin friedliche Demonstration geschossen; zugleich wurde der Strom im gesamten Stadtviertel ausgeschaltet und gepanzerte Polizeifahrzeuge fuhren vor, aus denen später sogenannte Venom-Projektile verschossen wurden, mit Tränen- oder Reizgas sowie Blendmunition gefüllte Kartuschen. Unstrittig ist AI zufolge auch, dass die Polizei gezielt auf Bewohner schoss, mit 5,56-Millimeter-Gewehren der israelischen Marke Tavor. Exzessive Gewalt sei für den Tod von Kevin Agudelo, Hárold Rodríguez und José Ambuila verantwortlich, sagte Erika Guevara-Rosas, die Amerika-Direktorin von AI, bei der Veröffentlichung der Studie vor knapp einem Jahr. Das bestätigte auch der Bürgermeister von Cali, Jorge Iván Ospina: Der Fall müsse minutiös aufgeklärt werden, wenn nötig vor dem ­Internationalen Strafgerichtshof.

Stockende Strafverfolgung

Nachdem Präsident Iván Duque die ­Demonstranten zunächst in die Nähe von Terroristen und kriminellen Banden gerückt hatte, verurteilte er später auch Fälle von Polizeigewalt, hielt jedoch daran fest, dass es um Einzelfälle gehe. Auf Druck von Menschenrechts­organisationen stimmte er 2021 zu, Vertreter der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (CIDH) ins Land zu lassen, um die Gewalttaten zu untersuchen. Doch die Ermittlungen gegen die in Siloé eingesetzten Polizisten stocken schon lange. Das kritisieren Anwälte wie Dicter Zúñiga Pardo, aber auch die Sekretärin für Menschenrechte der Stadtverwaltung von Cali, Natalia González. »Ballistische Tests der eingesetzten Waffen wurden zum Teil erst Monate später gemacht, internationale Ermittlungsstandards nicht eingehalten«, so die Psychologin. Diese Versäumnisse haben die Gruppe um David Gómez, Mona und José Benito Garzón dazu animiert, selbst zu möglichen Menschenrechtsverletzungen des Staats in Siloé zu recherchieren. »Erst ging es uns darum, zu erinnern, was hier geschehen ist. Wir haben mit den Angehörigen gesprochen, um mehr über die Menschen erfahren, die rund um den 3. Mai von der Polizei erschossen wurden«, erinnert sich Gómez.

Mittlerweile fragen sie auch, warum die Polizei gemeinsam mit Paramilitärs und Armee agierte, warum die Proteste so brutal niedergeschlagen und anschließend die Aktivist:innen der Primera Línea kriminalisiert wurden. Der ehemalige Verteidigungsminister Diego Molano hatte Ende 2021 verkündet, dass landesweit 250 Mitglieder der Primera Línea verhaftet worden seien. Dabei lautete die häufigste Anklage der Staatsanwaltschaft Terrorismus und Verabredung zu einem Verbrechen.

Unter Duque habe die Justiz zuletzt ihre Unabhängigkeit verloren, klagen Experten wie Iván Velásquez, ehemaliger Leiter der UN-Kommission gegen Straflosigkeit in Guatemala (CICIG). Daran hat sich bis heute wenig geändert, denn der zur Zeit der Operación Siloé verantwortliche Generalstaatsanwalt Francisco Barbosa ist weiterhin im Amt. Erst Anfang Dezember hat er ein Treffen mit Gustavo Petro platzen lassen, dem im Juni 2022 gewählten und am 7. August vereidigten ersten linken Präsidenten Kolumbiens, bei dem es um die Haftstrafen für die verurteilten Demonstrant:innen der Primera Línea gehen sollte. Die neue Regierung ist gewillt, diese Urteile zu revidieren.

Gefährliche Aufmerksamkeit

Bei einem zweiten Treffen des Tribunal Popular en Siloé im September wurde eine detaillierte Anklageschrift vorgelesen, in der Polizei-, Armee- und politische Verantwortliche wie Calis Bürgermeister Ospina für die bislang nicht ­offiziell strafverfolgten Tötungen verantwortlich gemacht wurden. Das Tribunal zieht auch gefährliche Aufmerksamkeit auf sich. Am 30. Oktober 2022, beim Carnaval de Diablitos, einem populären festlichen Umzug in Siloé, übergab ein Kind einem Mitglied des Tribunals einen Brief in geschlossenem Umschlag. Er enthielt Beleidigungen und Morddrohungen, unterschrieben war er von den Autodefensas Gaita­nistas de Colombia (AGC), die unter anderem an der kolumbianischen Pazifikküste aktiv sind. Die kriminelle Bande, auch Golf-Clan genannt, gilt als das mächtigste Verbrechersyndikat ­Kolumbiens, ist in Drogenschmuggel, Schutzgelderpressung, Morde und Entführungen verwickelt und rekrutiert sich aus ehemaligen Mitgliedern rechter paramilitärischer Gruppen. »Auch mein Name steht auf dem Pamphlet«, sagt José Benito Garzón. Vier der Aktivist:innen seien darin namentlich erwähnt und würden genauso wie das ganze Tribunal zum »militärischen Ziel« erklärt.

»Es geht darum, uns zum Schweigen zu bringen«, sagt Garzón. Nachdruck verliehen die AGC ihrer Drohung mit Parolen an Häuserwände in Siloé, die wohl die Präsenz der bewaffneten Gruppen verdeutlichen sollen. Die Graffiti tauchten zwischen Mitte ­September und Anfang Oktober in den Straßen des Stadtteils auf, wenige Tage nachdem das Tribunal seine Anklageschrift vor­gestellt hatte. Deshalb vermuten Garzón und seine Mitstreiter, dass die AGC mit Polizei- und Militäreinheiten unter einer Decke stecken. »Das ist für uns die wahrscheinlichste Option. Aber wir haben gemeinsam mit den Familien der Opfer entschieden, weiterzumachen, uns nicht einschüchtern zu lassen«, so Garzón. Beleg dafür ist auch das Festival sin ­Miedo (Festival ohne Angst), das am 10. Dezember 2022, dem Internatio­nalen Tag der Menschenrechte, in Siloé stattfand und ein »Fanal des Widerstands gegen Gewalt, gegen die Drohungen und für das gemeinsame ­Erinnern« war, wie David Gómez der Jungle World sagte.

Die Erwartungen an die neue Regierung und die Hoffnung auf Eindämmung der gewaltsamen Konflikte in Kolumbien sind groß. Ende November hatte die Regierung die seit fast vier Jahren eingefrorenen Friedensgespräche mit der linken Guerillaorganisation ELN wiederaufgenommen. Doch erste Meldungen über einen Waffenstillstand mit der ELN erwiesen sich als verfrüht, Präsident Petro scheint zu optimistisch auf Twitter vorgeprescht zu sein. Ob das bei anderen Gruppierungen wie den AGC auch der Fall ist, war bis Redaktionsschluss nicht klar.

Kolumbiens Bevölkerung litt 52 Jahre lang unter einem Bürgerkrieg zwischen rechten Paramilitärs, linken Rebellen und der Armee. Hunderttausende Menschen kamen ums Leben, Millionen wurden vertrieben. Seit dem ­Friedensabkommen von 2016 zwischen der Regierung des damaligen Präsidenten Juan Manuel Santos und der größten Rebellengruppe Farc hat sich die Sicherheit der Bevölkerung verbessert, allerdings kontrollieren bewaffnete Gruppen noch immer weite Teile des Lands. Immer wieder werden Gewerkschafter, Umweltschützer und soziale Aktivisten gezielt getötet. Unter Präsident Duque hatte der Friedensprozess dann keine politische Priorität mehr.

Iván Velásquez, mittlerweile Verteidigungsminister der Regierung Petro, ­gehörte zu einem Kreis renommierter Juristen, die von den Aktivist:innen aus Siloé angeschrieben wurden, um am Tribunal teilzunehmen. Doch er blieb dem symbolischen Prozess nach seiner Vereidigung fern. Anders liegt der Fall bei 14 international bekannten Sozialwissenschaftler:innen, darunter der portugiesische Soziologe Boaventura de Sousa Santos, Heike Hänsel, eine ehemalige Bundestagsabgeordnete der deutschen Partei »Die Linke«, und der kubanischen Philosophin Yohanka León del Río. Sie nehmen teil und prüfen die Vorwürfe gegen Polizei und ­Politik Kolumbiens. Das Urteil wird für den 10. Februar erwartet.

Auf einen positiven Effekt des Tribunals auf Kolumbien und internationale Aufmerksamkeit für das brutale Vor­gehen des Staats gegen die eigene Bevölkerung hofft jedenfalls David Gómez, der mit der neuen Regierung um Petro und die Vizepräsidentin Francia Márquez, eine vormalige Menschenrechtlerin und Umweltschützerin, bisher zufrieden ist. »Das Problem ist, dass ihnen in vielen Bereichen die Hände gebunden sind«, so Gómez. Genau deshalb seien Initiativen aus der Bevölkerung eine Möglichkeit, um Druck aufzubauen. »Was wir in Kolumbien brauchen, ist große Veränderung«, sagt Gómez und rückt sich den Basthut mit dem Schriftzug »Siloé« in den Nacken.