Ein Gespräch mit dem Politikwissenschaftler Tim Bale über den Populismus der Tories

»Die denken, das könnte bei Wählern gut ankommen«

Die Umfragewerte der regierenden britischen Konservativen sind seit Monaten deutlich schlechter als die ihrer Kontrahenten von der Labour-Partei. Der Politikwissenschaftler Tim Bale hat die Parteitage beider Parteien Anfang Oktober beobachtet. Ein Gespräch über passable Reden, späte Distanzierungen und Anti-Grünen-Populismus.
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Wer hatte einen besseren Parteitag, die Konservativen in Manchester oder Labour in Liverpool?

Ich war beim Labour-Parteitag und dort herrschte eine sehr gute Stimmung. Man konnte spüren, dass die Partei erwartet, die nächste Regierung zu stellen. Die Delegierten schienen ehrlich begeistert von der Rede ihres Parteivorsitzenden Keir Starmer.

Bei den Konservativen, den Tories, sah das anders aus. Die Umfragewerte sind seit Monaten unverändert und deuten auf eine klare Niederlage hin. Premierminister Rishi Sunaks Rede war passabel und der Parteitag war anders als in den vergangenen Jahren keine Katastrophe. Dennoch: Das Beste, was die Konservativen sich gerade erhoffen können, ist, dass Labour keine absolute Mehrheit der Sitze erlangt.

Sunak nutzte die Konferenz, um ein neues Image zu präsentieren, weg vom Technokraten, hin zum Visionär, der radikalen Wandel und starke Entscheidungen bringt. Wie erfolgreich ist das?

Zunächst gilt es zu bedenken, dass Parteitage von der Öffentlichkeit eher weniger beachtet werden. Es ist sehr schwer für Parteivorsitzende, ihre öffentliche Wahrnehmung durch eine Ansprache auf dem Parteitag zu ändern. Sunak hat versucht, sich von den Entscheidungen seiner Vorgänger zu distanzieren, in gewisser Hinsicht sogar von der Partei. Es war eine sehr präsidiale Rede, in der er immer alles auf sich bezogen hat: »Ich habe entschieden, dass … « Er versuchte, zumindest den Eindruck zu erwecken, dass es ökonomisch besser läuft und die Inflation sinkt.

»Rishi Sunak zeigt nun seine eigentlichen politischen Ideen als rechtsgerichteter, sozial konservativer Anhänger der ehemaligen Premier­ministerin Margaret Thatcher.«

Doch vielleicht kommt das für die Wähler zu spät. Hätte er damit gleich nach seinem Amtsantritt vor einem Jahr begonnen, wäre es vielleicht überzeugender gewesen, aber nun sieht es so aus, als hätte er die Dinge nicht richtig angepackt. Die Wähler scheinen sich entschieden zu haben, Sunaks Beliebtheit erreicht bei Umfragen ein Rekordtief, und das hat sich auch nach dem Parteitag nicht verbessert.

Was bedeutet der Parteitag für die Tories?

Intern mag er den Konservativen etwas Kraft gegeben haben, da es jetzt offensichtlich eine Strategie gibt. Für die Öffentlichkeit war die größte Geschichte das Aus für die geplante Hochgeschwindigkeitsstrecke HS2 von Birmingham nach Manchester. Sunaks Versprechen, das gesparte Geld für kleinere Bahnprojekte und den Straßenbau zu nutzen, hat sicherlich keinen Enthusiasmus ausgelöst, denn die Wähler glauben nicht, dass diese kleinen Projekte verwirklicht werden. Das betrifft gerade Englands Norden und die Midlands, also Regionen, in denen die Tories viele Wahlkreise verteidigen müssen (die sie erst unter Johnson in ehemaligen Labour-Hochburgen erobert haben, Anm. d. Red.).

Eine zentrale Komponente von Sunaks Strategie scheint es zu sein, ökologisch orientierte Vorhaben zurückzunehmen, vor allem will er die Dekarbonisierung verzögern. Das hat ihm auch eine Menge Kritik eingebracht, nicht zuletzt von ­Konservativen.

Anscheinend gibt es unter Konservativen nun mehr oder weniger einen Konsens über HS2. Aber nicht bei der Dekarbonisierung. Es gibt einerseits die Net Zero Scrutiny Group, eine Gruppe von Parlamentariern, die klar gegen die Dekarbonisierung sind. ­Darunter sind Klimawandelskeptiker, auch wenn das viele leugnen und mit den Kosten argumentieren: Die denken, das könnte bei Wählern gut ankommen.

Andererseits gibt es mindestens 100 konservative Abgeordnete, die sehr große Probleme mit dieser Strategie haben, sie im grünen Umbau der Wirtschaft ein großes Potential für Wachstum sehen. Sie machen sich auch Sorgen, dass eine Politisierung der Maßnahmen Ungewissheit bringe, die Investitionen gefährde.

Hier gibt es also einen großen ­Konflikt?

Der Konflikt ist noch nicht so explosiv wie beim »Brexit«, aber es gibt Paral­lelen. Nigel Farage und Richard Tice, der Vorsitzende der rechtspopulistischen Partei Reform UK, drängen sehr stark gegen grüne Politik, so wie die AfD in Deutschland. Und das hat genau den Tonfall der Debatte über den EU-Austritt: »Diese Wissenschaftler und Eliten erzählen euch, dass ihr euch um den Klimawandel sorgen müsst, genauso wie sie euch erzählen, dass Migration überhaupt kein Problem ist. Wir stehen mit euch gegen diese sogenannten Experten.« Es gibt viele moderate Konservative, die fürchten, dass sich die Tories nun in diese Richtung bewegen.

Die ehemalige Premierministerin Liz Truss war sehr präsent bei der Konferenz und hat für Steuersenkungen plädiert. Wie wurde das aufgenommen?

Liz Truss spricht die Sprache einer ­erheblichen Gruppe von Tories, der Conservative Growth Group, deren Mitglieder glauben, dass Wahlen mit Steuersenkungen gewonnen werden. Viele Konservative sehen in der gegenwärtig hohen Steuerlast ein Problem und sie machen Druck auf Sunak. Dass Truss als Parteivorsitzende zurückkommen könnte, ist dennoch unwahrscheinlich, denn sie hat einfach zu viel Schaden angerichtet.

In der Sache sind Sunak und Finanzminister Jeremy Hunt diesen Ideen nicht abgeneigt, auch wenn sie Steuer­erleichterungen derzeit ausschließen. Sie hoffen wahrscheinlich, im Frühjahr 2024 Spielraum zu haben, um Steuererleichterungen zu versprechen.

Wo steht Sunak innerhalb der Partei?

Im vorigen Jahr, und bereits davor als Finanzminister, hat er sich eher als pragmatischer Technokrat präsentiert, der unideologisch agiert. So hat er große Ausgaben verantwortet, für das Gesundheitswesen und während der Covid-19-Pandemie, und hat zuletzt die Steuern maß­geblich erhöht.

Aber nun zeigt er seine eigentlichen politischen Ideen als ein ziemlich rechtsgerichteter, sozial konser­vativer Anhänger der ehemaligen Premierministerin Margaret Thatcher. Die neue Strategie passt mit der Richtung der Partei zusammen, die spätestens seit 2016 immer weiter in die populistische Richtung gegangen ist. Es ist der Versuch, traditionelle Konservative, die ökonomisch eher besser dastehen, mit denen zusammenzubringen, die ärmer, aber kulturell sehr konservativ ausgerichtet sind. So haben sie die Wahlen 2019 gewonnen und nun hoffen sie, dass sie das bei den nächsten Wahlen, wahrscheinlich 2024, wiederholen können.

In der Art, wie die Partei gerade für culture wars und den war on woke mobilisiert, geht sie sogar noch weiter als früher unter Premierminister Boris Johnson. Der Unterschied zu Johnson ist, dass Sunak und Hunt nicht mehr Geld ausgeben wollen, um ärmere ­Regionen in Großbritannien zu unterstützen. Und wir können die derzeitigen Umfragen auch so interpretieren, dass man eben nicht nur mit Werten und Kulturkampf die Wahlen gewinnt, sondern dass Interventionen des Staats in die Wirtschaft wichtig sind, besonders für diejenigen, denen es ­weniger gutgeht.

Wenden wir uns der Labour Party zu. Wie wurde Starmer beim Parteitag wahrgenommen?

Alles war natürlich überschattet von der Situation im Nahen Osten, in der Folge hat der Parteitag weitaus weniger Aufmerksamkeit bekommen als erwartet. Aber es war klar, dass Labour gewinnen will und sich hinter Starmer vereinigt, auch die Linke, weil sie alle einfach nicht mehr verlieren wollen.

Starmer hat sich als Sozialdemokrat positioniert und es scheint, er wollte damit seiner Partei versichern, dass er sich nicht weiter ins politische Zen­trum oder hin zu einer Politik des »Dritten Wegs« à la Blair bewegen wird. (Als Premierminister von 1997 bis 2007 betrieb Tony Blair eine Politik der ­Privatisierung und der Abgrenzung von den Gewerkschaften unter den Schlagworten »New Labour«, »moderne Sozialdemokratie« und »Dritter Weg«, Anm. d. Red.) Starmer glaubt an die Rolle des Staats in der Wirtschaft.

Es bleibt die Sorge, dass er nichts Inspirierendes versprechen wird, weil er so darum besorgt ist, als finanz­politisch verantwortungsvoll wahrgenommen zu werden. Aber die Kalku­lation ist wahrscheinlich – wie die alte Politikwissenschaftler-Weisheit sagt –, dass Wahlen nicht von der Opposition gewonnen, sondern von der Regierung verloren werden.

Wie wurde die Situation im Nahen Osten auf dem Labour-Parteitag diskutiert?

Man kann sich leicht vorstellen, was das unter dem ehemaligen Parteivorsitzenden Jeremy Corbyn für ein Desaster geworden wäre für Labour. Ich war in seiner Zeit bei einer Labour-Konferenz. Da wurden palästinensische Fahnen im Konferenzsaal geschwungen, die Leute trugen ihre Delegiertenausweise an Halsbändern, die mit »Free Palestine« bedruckt waren. Solidarität mit Palästina war schon immer ein großes Thema in der Linken. Die gab es besonders am Rande der Konferenz in Nebenveranstaltungen diesmal auch, aber das steht in keinem Vergleich zu früheren Jahren. Ich vermute, dass viele aus diesem Milieu die Partei verlassen haben. Ich habe neulich gelesen, dass 40 Prozent der gegenwärtigen Parteimitglieder erst seit den vergangenen Wahlen in die Partei eingetreten sind. Es hat sich also nicht nur der Kopf, sondern auch der Körper der Partei ausgetauscht.

Sie haben geschrieben, dass die Probleme der Konservativen begannen, als sie sich entschieden, ihre Vorsitzenden von den Parteimitgliedern direkt wählen zu lassen. Auch Labour hat die Mitbestimmungsmöglichkeiten der Mitglieder immer mehr erweitert.

Ja, das ist für beide Parteien zum Pro­blem geworden und bleibt gefährlich. Aber da gibt es kein Zurück. Ich kenne keine Partei in westlichen Staaten, die interne Demokratisierung wieder rückgängig gemacht hätte.
 

Tim Bale ist Professor für Politikwissenschaft an der Queen Mary University of London und lehrt dort zu britischen und europäischen Parteien und politischen Systemen. Er schreibt über diese Themen regelmäßig in britischen Medien, unter anderem für die Zeitungen »Finan­cial Times«, »The Independent« und »New States­man« ­sowie für Blogs wie »Politics.co.uk«. Bale ist Experte für die britischen Konservativen, über die er mehrere ­Bücher veröffentlicht hat, zuletzt im März »The Conservative Party After Brexit: Turmoil and Transformation« (Die Konservative Partei nach dem Brexit: Aufruhr und Wandel), in dem er die Verwandlung der Konservativen Partei in eine chaotischen Mischung aus rechten Populisten und marktradikalen Libertären beschreibt.