Zu Besuch in einem Reformgefängnis in Bogotá

Das kolumbianische Knastsystem

Kolumbiens Strafvollzugssystem soll humaner werden. Zumindest ist das ein erklärtes Ziel der linken Regierung, die einen Reformplan vorgelegt hat. Doch der kommt nicht bei allen gut an. Dabei sind die Erfahrungen im berühmtesten Gefängnis des Lands durchaus positiv.
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Bogotá. Die Carrera 56 ist in Kolumbiens Hauptstadt Bogotá eine bekannte Adresse. Mitten in der Acht-Millionen-Metropole befindet sich das wohl berüchtigtste Gefängnis des Landes: die Justiz- und Strafvollzugsanstalt für mittlere Sicherheit von Bogotá (CPMS Bog), genannt La Modelo. Deren Rolltor, über dem eine dicke, hochauflösende Kamera hängt, ist von zwei Wachtürmen eingefasst. Wer hier rein will, wird penibel von den Mitarbeite­r:innen des Instituto Nacional Penitenciario y Carcelario (Inpec) gescannt, der Regierungsbehörde, die für die Inhaftierung und Rehabilitierung von Straftätern sowie für die Verwaltung der Gefängnisse zuständig ist. Jour­nalist:innen sind zwar willkommen, müssen aber oft wochenlang auf Antwort von der Pressestelle warten.

»Nicht ohne Grund«, sagt der Fotograf Néstor Dario Cárdenas, der für das Inpec arbeitet, regelmäßig Führungen für Journalisten hinter Gittern macht und lange in La Modelo als Vollzugsbeamter gearbeitet hat. »Unser Sicherheitsprozedere ist rigoros, die Vorlaufzeiten sind relativ lang«, sagt der Mann von Ende 40 lapidar. Dass das eine auf Informationen aus erster Hand beruhende Berichterstattung erschwert, ist ein Nebeneffekt, von dem Cárdenas offenlässt, ob er in Kauf genommen wird oder durchaus erwünscht ist.

Das Prozedere könnte mit dem schlechten Image der kolumbianischen Strafanstalten zu tun haben. Dieses hält Cárdenas längst für überholt. »Hier im La Modelo hat sich vieles in den letzten 20 Jahren geändert. Wir haben Fortschritte gemacht«, ist er sich sicher. Cárdenas trägt den schwarz-blau gemusterten Kampfanzug der Inpec-Vollzugsbeamten, kennt die Mehrzahl von ihnen und ist meist mit seiner Spiegelreflexkamera und einem schweren Teleobjektiv unterwegs.

Unter Experten ist die »Humanisierung des Strafvollzugs«, wie die Regierung ihre Reform nennt, nahezu unumstritten, um die Überbelegung und lange Untersuchungshaftzeiten zu reduzieren.

Gerade passieren wir einen der langen Gänge zwischen zwei von insgesamt zehn Pavillons, aus denen die 1960 eingeweihte Haftanstalt besteht. Ein Reinigungsteam wischt den beige gekachelten Boden, Neonleuchten sorgen dafür, dass das Inpec-Personal alles gut erkennen kann. »Das war nicht immer so«, berichtet Cárdenas. Er hat in La Modelo vor rund 20 Jahren seine ersten Schichten geschoben. »Bis ins Jahr 2000 hinein gaben hier je nach Pavillon die Guerillas Farc und ELN, die Paramilitärs und auch kriminelle Banden den Ton an. De facto waren sie es, die La Modelo kontrollierten.« Das war in Kolumbien damals Normalzustand in den Vollzugsanstalten und ist vergleichbar mit der heutigen Situation in Ecuador, wo die Gefängnisse seit mindestens zwei, eher drei Jahren immer wieder Schauplätze von Massakern sind.

In Kolumbien ist das mittlerweile anders. »Hier übernahm das Inpec ab dem Jahr 2000 wieder die Kontrolle über die Vollzugsanstalten. Erst in Bogotá und seit 2008, 2009 überall«, so Cárdenas. Er weist den Weg in den Innenhof, wo sich gerade knapp zwei Dutzend Häftlinge auf dem Fußballplatz verausgaben. Schräg gegenüber beackert ein Team den Gefängnisgarten, befreit die Mohrrübenbeete von Unkraut, den Broccoli und die Kürbisblätter von Schnecken und erntet ein paar Tomaten. »Das ist eines von fünf Resozialisierungsprogrammen, in dem sich die Insassen weiterbilden und ihren Weg zurück in die zivile Gesellschaft vorbereiten können«, sagt Cárdenas.

Croissants und Brot. Das Bäckereiprojekt ist eines von fünf Weiterbildungsprogrammen

Croissants und Brot. Das Bäckereiprojekt ist eines von fünf Weiterbildungsprogrammen

Bild:
Knut Henkel

Dazu gehört auch die Bäckerei, deren Tür zum Innenhof offensteht, weil sich daneben der Raum befindet, in dem die Gitterwagen mit frischen Croissants und Brot aus dem Backofen abkühlen. In der Tür wartet Dario Hernández auf uns, drückt jedem ein Croissant in die Hand, bevor er den Weg in die Backstube freigibt. Der kräftige 41jährige ist Häftling wie alle anderen der knapp ein Dutzend Mitglieder der Back-AG und die rechte Hand des Bäckermeisters, der das Projekt leitet. »Proyecto Panaderia CPMS Bog« (Bäckereiprojekt) steht auf den weißen Kunststoffschürzen der Männer, die Teig kneten, Croissants formen oder am Ofen stehen.

Das Bäckereiprojekt und das Ausbildungsprojekt in der CPMS Bogotá laufen vielversprechend. Die Stimmung in der Bäckerei ist an diesem Morgen gut. Häftlinge wie Álvaro Rafael García, der eine 17jährige Haftstrafe wegen mehrerer Banküberfalle absitzt, geben Auskunft über ihre Taten und auch über ihre persönlichen Perspektiven. Gleiches gilt für Hernández, der wegen Vergewaltigung verurteilt wurde und noch fünf Jahre Haft vor sich hat, aber längst seinen Neustart nach der Etappe im La Modelo vorbereitet. »Ich will nach dem Ende meiner Haftstrafe auswandern, als Bio-Landwirt im Ausland mein Leben neu anfangen«, schildert er seine Pläne. In Kolumbien sieht er dafür kaum Chancen, denn bisher ist der Bio-Sektor der kolumbianischen Landwirtschaft verschwindend klein. Hinzu kommt, dass Hernández den Vergewaltigungsvorwurf abstreitet und sich zu Unrecht verurteilt sieht. »Alle meine Revisionsanträge wurden abgeschmettert, ich bin Opfer eines Justizirrtums, einer Falschaussage.«

Jedenfalls hat sich der gelernte Agrar­techniker im Gefängnis weiterge­bildet und will sich im ökologischen Landbau ein neues Leben aufbauen. Derlei soll in den Gefängnissen zukünftig öfter passieren, wenn es nach der seit August 2022 amtierenden linken Regierung von Präsident Gustavo Pe­tro (Pacto Histórico) geht: Sie plant eine Reform des Justiz- und Vollzugssystems. Die Gesetzesvorlagen, die den Alltag im Strafvollzugsalltag von Grund auf verändern sollen, liegen dem Parlament vor, treffen dort aber auf Ablehnung.

Resozialisierung statt harte Sanktionen

»Wir plädieren für grundlegende Reformen des Strafgesetzbuchs und wollen die Situation in den Vollzugsanstalten humaner gestalten – weg von der rigorosen Sanktionspraxis hin zu Täter-Opfer-Ausgleich und Resozialisierung«, sagt Camilo Eduardo Umaña Hernández. Der besonnen auftretende Jurist und Soziologe ist stellvertretender Justizminister, international anerkannter Strafrechtsexperte und verantwortlich für die Haftanstalten des Landes. Seit dem Amtsantritt von Präsident Petro besucht Umaña pro Woche ein bis zwei Haftanstalten im Land. Dabei will sich der jugendlich wirkende Mann von Mitte 40 ein Bild der Zustände hinter Gittern machen, um Verbesserungen in Auftrag zu geben.

Das hat ihm positive Rückmeldungen aus einzelnen Haftanstalten wie dem Frauengefängnis Buen Pastor in Bogotá eingebracht. Dort hingen im November 2022 Transparente mit Slogans wie »Wir sind Menschen, keine Tiere – keine weiteren Gefängnisse; Senkung der Haftstrafen für alle« aus einzelnen Zellenfenstern und ein öffentlich gewordener Brief von Insass:innen an den Vizeminister ging durch die Medien. Die wichtigsten Gründe für Gewalt in den Haftanstalten seien Überbelegung sowie das Fehlen von Arbeits- und Freizeitangeboten, kritisieren männliche ebenso wie weibliche Häftlinge in dem Brief.

Bewegung und Teamplay. Ein paar Häftlinge spielen Fußball

Bewegung und Teamplay. Ein paar Häftlinge spielen Fußball

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Knut Henkel

Die Vollzugsanstalt La Modelo steht mit ihren fünf Ausbildungsprojekten recht gut da. »Für mehr fehlt es schlicht an Platz«, sagt Cárdenas. Der passionierte Fotograf würde gerne einen Fotokurs für Häftlinge anbieten, doch die Chancen dafür stehen schlecht. »La Modelo hat mehr als 60 Jahre auf dem Buckel. Heute sind die Anforderungen an den Strafvollzug vollkommen andere als zu Beginn der sechziger Jahre, als die Einrichtung eingeweiht wurde«, erzählt er mit einem Schulterzucken und winkt den Männern in der Backstube zum Abschied zu.

Weiter geht es zum Pavillon 3, in dem vor allem ausländische Häftlinge und Untersuchungsgefangene, aber auch ein paar andere Straftäter untergebracht sind. Im weitläufigen Innenhof »Patio 3« befindet sich eine kleine Bibliothek, die das Konterfei des kolumbianischen Literaturnobelpreisträgers Gabriel García Márquez ziert. Am Eingang zum Hof prangt ein Löwenkopf, darunter der Slogan »Territorio Libre«, freies Territorium. Entspannt sitzen mehrere Häftlinge an Schachbrettern. Hinter ihnen steht eine Tischtennisplatte, davor eine Heiligenfigur.

Neben dieser macht der Untersuchungshäftling Andrés Felipe Rodríguez Chávez Gymnastik. Der schmächtige 27jährige mit dünnem Vollbart hatte sich im Frühjahr 2021 in Bogotá und Cali an dreimonatigen landesweiten Protesten gegen eine geplante Steuerreform beteiligt. »Ich bin einer von mehr als 600 Menschen, die kriminalisiert werden, weil sie gegen die damalige Regierung von Präsident Iván Duque protestierten«, kritisiert der Theaterdramaturg. Für ihn ist klar, dass hinter der Kriminalisierung der Proteste ein Mann steht, der heute zu den einflussreichsten Kritikern der neuen Regierung zählt: Generalstaatsanwalt Francisco Barbosa.

Entspannen im Innenhof. Der Patio 3 mit Bibliothek, Tischtennisplatte und Heiligenfigur

Entspannen im Innenhof. Der Patio 3 mit Bibliothek, Tischtennisplatte und Heiligenfigur

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Knut Henkel

Der Jurist genießt in Kolumbien einen zweifelhaften Ruf: Viele kritisieren, er sei nur aufgrund seiner Nähe zum konservativen Duque (Centro Democrático) ins Amt gelangt; er gilt als ein traditioneller Hardliner, der die Unabhängigkeit der Justiz untergräbt. Derzeit zählt Barbosa zu den mächtigsten Kritikern der Reformbemühungen aus dem Justizministerium. Nach dem Ende seiner Amtszeit im Januar 2024 könnten die Verhandlungsprozesse im Parlament wieder Fahrt aufnehmen, so hoffen Abgeordnete der Regierung wie der Menschenrechtsanwalt Alirio Uribe Muñoz.

Auch der Direktor der NGO Fasol, Carlos Ojeda, unterstützt die juristische Wende: »Resozialisierung, Reintegration, Täter-Opfer-Ausgleich und eine Justiz, die nicht auf eine rigide Sanktionslogik setzt, sind in Kolumbien umstritten und sorgen für Widerstand«, so der 38jährige. Unter Experten ist die »Humanisierung des Strafvollzugs«, wie die Regierung ihre Reform nennt, nahezu unumstritten, um die chronische Überbelegung der Vollzugsanstalten und lange Untersuchungshaftzeiten zu reduzieren.

Eine Entlassung von Häftlingen, die wegen geringfügiger Delikte verurteilt wurden, sei durchaus sinnvoll, sagt der stellvertretende Justizminister Umaña: »Wir wollen eine opferorientierte Justiz. Wir brauchen alternative Strafen, die direkte Entschuldigung beim Opfer, die Wiedergutmachung, dass Aushandeln von Sanktionen, ohne auf die Freiheitsstrafe zurückzugreifen.« Die soll als ultima ratio vor allem Kapitalverbrechen vorbehalten bleiben, aber eben nicht mehr für Delikte wie den Handy- oder Ladendiebstahl gelten, Vergehen, die in Kolumbien seit Jahren drakonisch bestraft werden.

Populistische Sanktionsstrategien

#Umaña betrachtet die Kehrtwende im Strafvollzug als unumgänglich; die Vehemenz der Ablehnung der Gesetzesvorlage überrascht ihn. »In Kolumbien herrscht eine Sanktionslogik: Hohe Strafen sollen abschrecken. Doch die soziale Realität des Landes, die vielen Konflikte sorgen dafür, dass die Kriminalität nicht sinkt, die Gefängnisse tendenziell überbelegt sind«, schildert er das Problem.

Auch da ist La Modelo ein gutes Beispiel. Das Gefängnis wurde für 2.907 Häftlinge konstruiert, doch bis zu 6.000 Straftäter wurden in den neunziger Jahren in den zehn Pavillons der Vollzugsanstalt unter inhumanen Bedingungen weggeschlossen. Das hat die ohnehin enormen Konflikte in der Anstalt zwischen Guerilleros, Paramilitärs und kriminellen Banden weiter verschärft. Heutzutage haben der Direktor von La Modelo, der ehemalige Polizeioffizier Freddy Camargo, und seine 490 Vollzugsbeamten die Konflikte weitgehend im Griff. Das liegt unter anderem daran, dass die Häftlingszahl auf 3.300 gesenkt wurde. Ein Fortschritt, der auf ein Urteil des Verfassungsgerichts aus dem Jahr 2022 zurückzuführen ist. Die Richter haben die Haftbedingungen kritisiert und Reformen eingefordert. Auf das Urteil SU 122/22 beziehen sich auch Umaña und die Regierung Petro.

Allerdings wurden das Urteil und die Notwendigkeit von Reformen in der kolumbianischen Zivilgesellschaft kaum zur Kenntnis genommen. »Für viele Kolumbianer:innen enden die Grundrechte am Gefängnistor. Das widerspricht dem Rechtsstaat«, kritisiert Umaña, der sich eine ausgewogene Berichterstattung wünscht. Dass Medien Hintergründe über die Situation in den Vollzugsanstalten des Landes vermittelten, sei die Ausnahme, nicht die Regel, meint Umaña. Er wundert sich über das geringe Interesse von Repor­ter:in­nen, ihn auf Gefängnisvisiten zu begleiten. »Wie wollen Ihre Kollegen berichten, wenn sie die Realität nicht aus eigener Anschauung kennen?« fragt Umaña offen.

Die wichtigsten Gründe für Gewalt in den Haftanstalten seien Überbelegung sowie das Fehlen von Arbeits- und Freizeitangeboten, kritisieren männliche ebenso wie weibliche Häftlinge.

Der jüngste Aufstand in der CPMS Bog im März 2020, von der damaligen Regierung als Ausbruchsversuch dargestellt, NGOs zufolge jedoch ein Protest gegen die Haftbedingungen im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie, endete mit 24 Toten. Viele der Opfer wiesen Schusswunden auf, kritisiert die NGO Human Rights Watch mit Bezug auf die Analysen der Gerichts­mediziner:innen und unterstellt »Tötungsabsicht«. Camargo will dazu nichts sagen: »Ich bin seit September 2020 hier verantwortlich, will mich nicht zu Dingen äußern, die ich nur von außen mitbekommen habe.« Seit er die Gefängnisdirektion übernommen hat, gab es zwei Tote. »Beide Fälle wurden aufgeklärt«, sagt Camargo.

Resozialisierung und Reintegration. Sozialarbeiterinnen kümmern sich um die Insassen

Resozialisierung und Reintegration. Sozialarbeiterinnen kümmern sich um die Insassen

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Knut Henkel

Dario Cárdenas und viele seiner Kolleg:in­nen beim Inpec sind sich sicher, dass hinter Gittern deutlich mehr produziert werden könnte. Diese Verwertungslogik sei auch in den Inpec-Büros in Bogotá populär, kritisiert Óscar Ramírez. Der Jurist mit Schwerpunkt Menschenrechte ist Präsident des Komitees für die Solidarität mit den Politischen Gefangenen (CSPP) und begrüßt das Reformprogramm der Regierung. »Für uns geht es jedoch nicht weit genug. In den Vollzugsanstalten hat sich die Situation verbessert, doch daneben gibt es unzählige Polizeiwachen, in denen vermeintliche Straftäter unter miserablen Bedingungen in Untersuchungshaft sitzen – oft über Monate«, so der 31jährige. Darunter sind etliche Aktivist:innen der Proteste im Jahr 2021. Auch daran könnte sich etwas ändern, wenn Generalstaatsanwalt Barbosa abgelöst wird.

Direktor Camargo teilt die Hoffnung auf eine Verbesserung der strukturellen Defizite im Land: »Mehr soziale Gerechtigkeit, Reformen in Gesundheit, Bildung und mehr Teilhabe brauchen wir in Kolumbien.« Zugleich verweist er darauf, dass die Überbelegungsquote in den Haftanstalten von einst über 50 Prozent auf derzeit rund 22 Prozent gesunken sei – auch diesbezüglich ist La Modelo mit einer Überbelegung von unter zehn Prozent eine Modellanstalt. Das wissen auch die Bäcker Dario Hernández und Álvaro Rafael García zu schätzen: »Im Pavillon 3, wo sich unsere Zelle befindet, ist die Gewalt deutlich zurückgegangen.« Das könnte sich noch weiter verbessern, falls die Reformvorhaben aus dem Justizministerium doch noch eine parlamentarische Mehrheit finden und tatsächlich verwirklicht werden.