Wir stehen da wie Statisten bei Zola
Die Schriftstellerin Viviane Forrester kam auf Einladung des Literaturhauses nach Hamburg, um im Rahmen der Veranstaltungsreihe "Das Böse" über ihr Buch "Der Terror der Ökonomie" (siehe Jungle World Nr. 33/37)zu diskutieren, das seit über einem Jahr in Frankreich die Bestseller-Listen anführt und ins Englische, Spanische, Italienische und Deutsche übersetzt wurde.
In ihrer Einführung fragte Literaturhaus-Leiterin Ursula Keller, was für das Böse stehe und gab selbst die Antwort: "Das Ungeheuer ist omnipräsent, seine Schuld ist schwer nachzuweisen. Viviane Forrester hat diesem gestalt- und namenlosen Monster einen Namen gegeben: 'Terror der Ökonomie'." Mit der kalten Wut, mit der das Buch geschrieben sei, mute die Autorin dem Publikum eine grausame Wahrheit zu, ohne ihm Antworten zu geben.
Eine solche Beurteilung nährt die Vorurteile gegen die linke Kulturschickeria: Vielleicht hat Jürgen Elsässer doch recht. In der Jungle World vom 14. August 1997 äußert er die Befürchtung, daß über Viviane Forresters Buch "Der Terror der Ökonomie" auf Parties ebenso begriffslos dahergeredet werde, wie über shareholder value oder den Neoliberalismus.
In der Bundesrepublik ist das "fulminante Pamphlet gegen die Marktwirtschaft" (Robert Kurz) derzeit das meistrezensierte Sachbuch. Selbst Lothar Späth, ehemaliger Ministerpräsident des Musterländles Baden- Württemberg, jetzt im Hauptberuf Manager von Jena-Optik und im Nebenberuf Talkmaster bei n-tv, hat sich im stern darüber ausgelassen. Was hält Viviane Forrester von seinem folgenden Satz: "Der Kern ihrer Anklage lautet: Die Globalisierung der Weltwirtschaft führt zu einer Polarisierung unserer Gesellschaft. Die zerfällt in Erwerbstätige und Arbeitslose, reich und arm, selbstzufrieden und chancenlos. Der von der Politik sich selbst überlassene Globalisierungsprozeß geht für die Masse der Menschen einher mit einem Verlust von Werten, Existenz und Würde." Er hat recht, sagt sie, doch falsch sei es, nur die Politik anzuklagen, die transnationalen Konzerne seien an dieser Entwicklung ebenso schuld.
Die Lobby des renommierten Hamburger Hotels "Vier Jahreszeiten" gibt eine prima Kulisse ab, um mit Madame Forrester über Kapitalismus zu diskutieren.
Madame Forrester, Globalisierung hin oder her, das Rad ist nicht mehr zurückzudrehen - vielleicht kommt es nur noch darauf an, wie das Rad bewegt wird.
Gegen Globalisierung und Hochtechnologie zu sein, ist heute gar nicht möglich. Das ist ein Teil unserer Geschichte geworden. Das Schreckliche dabei ist, daß Menschen sozial ausgestoßen werden und daß sich nur Wirtschaftsexperten diese Hochtechnologie aneignen. Es ist daher unbedingt erforderlich, daß die Politik der Globalisierung Rechnung trägt. Wir sehen heute, daß die Politik von der Wirtschaft getrennt ist. Wir sehen den Niedergang der Erwerbstätigkeit, und damit wird eine zynischen Ausbeutung dieser Situation möglich.
Das klingt wie ein Appell an die transnationalen Konzerne, doch bitte auf die Menschen Rücksicht zu nehmen. Aber widerspricht dies nicht dem Wesen des Kapitalismus? Kapitalisten müssen doch Profit machen - sie können dies mit immer weniger Menschen. Warum sollen sie auf die Menschen Rücksicht nehmen?
Sie haben recht. Wir erleben eine Anarchie des Kapitalismus, einen Kapitalismus, der verrückt geworden ist und in einem Ultraliberalismus seinen Ausdruck gefunden hat. Wenn ein Konzernchef erklärt, seine Moral bestehe darin, auf die Interessen der Aktionäre zu achten - sicherlich. Aber daß er nun vorgibt, das Unternehmen könne Verantwortung für das kollektive Ganze übernehmen -, nein, das hätte sich nicht mal ein Sowjet vorstellen können.
Das soll nicht heißen, daß man jetzt nicht erwartet, daß von Unternehmen humanitäre Aktionen initiiert werden. Wir wollen aber ganz bestimmte Phrasen nicht mehr hören. Es heißt immer, Priorität habe die Beschäftigung. Aber jedesmal, wenn von einem Unternehmen Massenentlassungen vorgenommen werden, steigen die Aktienkurse. Im übrigen sagen ja sehr viele Manager, die beste Betriebsführungsmethode sei die Senkung der Arbeitskosten, das bedeutet Entlassungen. Hier liegt ein Widerspruch. Sicherlich haben die Unternehmen eine Rolle - sie wollen Profit machen. Das sollten sie auch aussprechen.
Was müßten sie darüber hinaus noch tun?
Wir brauchen ein Klima, in dem die öffentliche Meinung die Politik bestimmt. Es ist eine List dieser Zeit, uns vorzugaukeln, daß jeder, der gegen den Mainstream ist, alleine dasteht.
Ich habe das Buch "Terror der Ökonomie" allein geschrieben, und ich nahm an, mit meiner Position allein zu bleiben, mußte dann aber feststellen, daß viele denken wie ich. Ich komme gerade von einer Reise aus Argentinien zurück, da hat man mir sehr oft gesagt, wir können uns gar nicht vorstellen, daß sie keine Argentinierin sind, das, was Sie in Ihrem Buch schreiben, sind genau unsere Probleme.
Sie sagen, die Formel, Wachstum gleich Innovation, Innovation gleich Arbeitsplätze, geht nicht mehr auf. Die Gewerkschaften in der Bundesrepublik haben über Jahre gedacht, wenn sie Lohnzurückhaltung üben, führt das zu mehr Beschäftigung. Diese Formel ist auch nicht aufgegangen. Wenn überhaupt - was haben Sie den Gewerkschaften in Frankreich geraten, oder was würden Sie ihnen gerne raten?
Man verwechselt ja oft Wirtschaft mit Business, also Geschäftemacherei. Wenn die Geschäfte gut laufen, bedeutet das noch lange nicht, daß die Menschen in diesem Wirtschaftssystem überleben können. Es kann nicht angehen, daß für den Wettbewerb so viele Leben geopfert werden. Unternehmen geben vor, es gehe um Wettbewerb, Tatsache ist aber, daß sie alle in exklusiven Zirkeln zusammengeschlossen sind.
Ziel müßte sein, eine andere Verteilung der Arbeit und des Reichtums zu finden. Es ist nicht möglich, daß man immer von jenen, die am wenigsten haben, verlangt, daß sie weitere Opfer bringen. Ich will den Gewerkschaften sagen, sie sollen endlich aufhören, an eine Henne zu glauben, die goldene Eier legt. Sie sollen erkennen, daß die Marktwirtschaft eine spekulative Wirtschaft verdeckt. Diese spekulative Wirtschaft bewirkt keine Wertschöpfung und schafft keine Arbeitsplätze.
Ohne vorherige Wertschöpfung würde es diese spekulative Wirtschaft nicht geben.
Weil aber zur Wertschöpfung immer weniger Menschen gebraucht werden und für die spekulative Wirtschaft gar keine mehr, außer dem, der spekuliert, müssen die Gewerkschaften auch begreifen, daß man Beschäftigung inzwischen anders auffassen muß. Wir befinden uns heute in einem tiefgreifenden Wandel. Es werden aber immer noch die Fragen falsch gestellt. Deswegen sind wir immer die Verlierer. Das System ist heute ein völlig überholtes System, es ist anachronistisch geworden. Man kündigt die Schaffung von Arbeitsplätzen an und stellt dann fest, daß sehr viele Menschen gar keine Arbeit mehr finden. Deshalb muß man für diese Menschen einen anderen Platz finden.
In der Zeit der Krise ist es schwierig, über einen visionären Gesellschaftsentwurf zu sprechen, uns wird vorgebetet, wir müßten uns dem sogenannten Sachzwang unterordnen.
Das ist in der Tat ein gravierendes Problem. Wir müssen unterscheiden, was ist Propaganda und was sind die Fakten. Es hat etwas mit den falschen Fragen zu tun. Politiker befürchten, den Menschen Angst zu machen. Hier und da ein paar neue Jobs, das wird schon als ein Erfolg verkauft. Die Arbeitslosigkeit ist deshalb das größte Problem unserer Zeit, weil die Gesellschaft auf Erwerbsarbeit aufgebaut ist. Die meisten Leute schämen sich für ihre Arbeitslosigkeit, obwohl es für diese Scham keinen Grund gibt. Sie sind ja nicht arbeitslos, weil sie schlecht gearbeitet haben oder sonstwie nicht funktioniert haben.
In meinem Buch schlage ich vor, daß die Angst und das Schamgefühl an der Börse notiert werden sollten. Menschen, die noch Arbeit haben, haben Angst diese zu verlieren. Das hat zur Folge, daß sehr ausbeutbare Verhältnisse entstehen. Für die Profiteure dieser Verhältnisse sind das sehr ideale Zustände. Auch dieses Problem müssen die Gewerkschaften erkennen. Es ist nicht mehr möglich zu sagen, um ein korrektes Leben zu führen, muß man erwerbstätig sein. Das kann man vor allem der Jugend nicht mehr erzählen, weil man weiß, daß die Erwerbsarbeit bereits konfisziert ist. Ob Frau oder Mann - die Würde eines Menschen darf nicht davon abhängen, ob er Beschäftigung hat oder nicht. Deshalb brauchen wir andere Lebensinhalte. Die Wirtschaft ist in der Moderne angekommen, und die Menschen leben noch wie im 19. Jahrhundert. Wir stehen da wie Statisten in einem Historienspektakel von Emile Zola.
Madame Forrester, in Ihrem Land arbeiten die Menschen, um zu leben, in der Bundesrepublik dagegen scheint es so zu sein, daß die Menschen leben, um zu arbeiten. Haben wir den falschen Begriff von Arbeit?
Trotz mancher Unterschiede ähneln sich die Probleme. Leben bedeutet heute: Man muß es sich verdienen, um leben zu dürfen. Es besteht eine Konfusion zwischen Nützlichkeit und Rentabilität. Bilanzen sind für den Profit nützlicher als Menschen. Früher gab es die Ausbeutung durch Arbeit, heute haben wir den Ausschluß von der Arbeit. Wir leben mit dem Risiko, daß die Situation noch viel schlimmer wird. Sicher ist nur, daß es so nicht weitergehen kann.Das Industriezeitalter ist vorbei. Diesem Wandel muß also Rechnung getragen werden.
Nochmal:Was schlagen Sie vor?
Die öffentliche Meinung zählt sehr viel. Der Erfolg meines Buches ist deshalb auch ein politisches Zeichen. Politiker wollen ja, daß man von ihnen etwas verlangt, sonst bleiben sie abgeschottet. Ich meine, daß alles möglich ist. Was wir brauchen, ist internationale Solidarität und: Die Gegenkräfte müssen sich organisieren. Mir wird eine pessimistische Sicht der Dinge vorgeworfen, das stimmt nicht. Die Pessimisten sind die Leute, die sagen, die Marktwirtschaft sei das einzige Gesellschaftsmodell. Nur ein Modell zuzulassen, heißt Einheitsdenken. In der Sowjetunion gab es dieses Einheitsdenken - man wollte den Profit abschaffen. Jetzt ist es so, daß nur noch der Profit favorisiert wird. Es muß andere Möglichkeiten geben, um zu leben und um zu überleben. Wir müssen sehr vorsichtig und wachsam sein - noch leben wir in einer Demokratie. Deshalb ist Handeln sehr dringend geboten. Wir dürfen nicht darauf reinfallen, wenn man uns sagt, Aufbegehren sei altmodisch.