In der Migrantenfalle

Die Antwort auf Rassismus und Antisemitismus kann nicht Identitätspolitik und Soli lauten.

Gut zwei Monate ist es mittlerweile her, daß die Medien der deutschen Öffentlichkeit mit spektakulären Bildern von überfüllten, vor der italienischen Küste dümpelnden Schiffen kurdische Fluchtbewegungen aus der Türkei und dem Irak ins Gedächtnis riefen. Doch anders als 1991, als die Massenflucht irakischer KurdInnen Richtung Türkei vor Saddam Husseins Truppen medienwirksam die Grausamkeit des irakischen Diktators bestätigte und hierzulande eine Welle prokurdischer Hilfsbereitschaft auslöste, wurden diesmal die Ursachen kurdischer Flucht kaschiert.

Daß 1 200 kurdische Flüchtlinge als Bedrohung der nationalen Sicherheit inszeniert und die bloßen Gerüchte über 10 000 weitere angeblich in der Türkei auf dem Sprung in die Schengener Festung befindliche KurdInnen zur Bekräftigung der Gefahr lanciert wurden, diente nicht allein dem im rassistischen Diskurs üblichen Evozieren der Bilder von "Fluten" und "Strömen", die die nationale Standortgemeinschaft bedrohen. Mit diesem Szenario sollte auch das Ausmaß der Bedrohung durch eine internationale Mafia von Schlepperorganisationen unterstrichen werden, gegen die jedes staatliche Mittel recht ist.

Die Dreistigkeit, mit der Innenminister Kanther der italienischen Regierung gegenüber als deutscher Zuchtmeister der Schengener Hausordnung auftrat, weist auf eine neue Qualität des rassistischen Diskurses im Inneren hin. Indem internationale Fluchtbewegungen als Machination einer übermächtigen internationalen Mafia wahrgenommen werden und zu den sichtbaren Stigmata rassistischer Diskriminierung wie Hautfarbe das unsichtbare der Illegalität hinzutritt, nimmt das auf die "Fremden" projizierte Gefühl allgemeiner Bedrohung angesichts unsicherer und unübersichtlicher Verhältnisse im globalen Kapitalismus die Gestalt einer undurchschaubaren Verschwörung aus dem Dunklen an.

In dem Maße, wie die "neoliberale" Deregulierung der globalen Marktzusammenhänge und die damit verbundenen sozialen Ausgrenzungen und Funktionsverluste der Nationalstaaten tatsächlich mit einer Ausweitung gewaltregulierter illegaler Ökonomien einhergeht, liefert das Phantasma der allmächtigen organisierten Kriminaltät den Stoff für das falsche Bewußtsein dieser Realität: Eine internationale Mafia bedroht "unseren" Rechtsstaat und die Wohlfahrt des nationalen Gemeinwesens, die "Illegalen" sind ihre Agenten. Damit wird der biologistisch oder kulturalistisch bestimmte Diskurs des Rassismus mit Elementen aufgeladen, die eine strukturelle Affinität zum Antisemitismus aufweisen. Nichts anderes stellen die Phantasmen einer organisierten Kriminalität als großer geheimer Verursacher der gesellschaftlichen Mißstände dar. Die analytische Unterscheidung zwischen Rassismus und Antisemitismus verschwimmt, Elemente aus beiden Diskursen amalgamieren zu neuen Kategorien der Ausgrenzung.

In diesem Kontext scheint es sinnvoll, sich erneut mit der Debatte um Gollwitz zu beschäftigen: Ein Gegenstand der Auseinandersetzung innerhalb der Restlinken bezog sich auf die Frage, ob die kollektive Ausgrenzungsreaktion der Gollwitzer Dorfbevölkerung gegen die jüdischen MigrantInnen aus Rußland in erster Linie rassistisch /"fremdenfeindlich" oder antisemitisch bestimmt war. Abgesehen davon, daß jedem Versuch entgegengetreten werden muß, über den ohnehin euphemistischen Begriff "Fremdenfeindlichkeit" den in Gollwitz offenen gezeigten Antisemitismus schönzureden, existierte tatsächlich eine Gemengelage aus beiden Elementen. Nur sollte hier auch die Spezifik der Verbindung beachtet werden: die neben den offen antisemitischen Ressentiments vorgetragenen Vorbehalte der Gollwitzer Bevölkerung gegen die jüdischen MigrantInnen aus Rußland bezogen sich nicht unerheblich auf Kriminalitätsängste vor einer russischen Mafia: "Diese Kriminellen, die Einbrecher aus dem Osten ..." - "Wir haben nichts gegen Juden, aber seit wir wissen, daß die herziehen wollen, hat jeder Angst", zitierte die taz exemplarisch ein Gollwitzer Ehepaar. Deutlicher läßt sich die Verbindung von Rassismus und Antisemitismus kaum illustrieren.

Da davon auszugehen ist, daß es sich bei dem von der Gollwitzer Bevölkerung praktizierten "Widerstand" gegen die Zuteilungsentscheidung über die Kontingentflüchtlinge durch "die da oben" um den typischen Fall einer konformistischen Revolte handelt, schließt sich auch der Kreis zur Darstellung der kurdischen Fluchtbewegungen als organisierte Kriminaltät wieder. Kanthers Hetze gegen die "illegal, verbrecherisch organisierte Wanderungsbewegung" der KurdInnen und der völkische Abwehrkonsens der Gollwitzer Bevölkerung ergänzen einander. Kanther kann seine Demagogie nur so erfolgreich führen, weil auf die Wirksamkeit eines mit antisemitischen Elementen aufgeladenen Rassismus als konsensstiftende Figur nationaler Identifikation im Alltagsbewußtsein gebaut werden kann.

Selbst ein ansonsten vernünftiges Papier aus dem Büro der PDS-Abgeordneten Ulla Jelpke, das auf die von der BRD mitzuverantwortenden Fluchtursachen in Türkei und Irak eingeht und die Kriminalisierung der kurdischen Flüchtlinge im Kontext einer "Generalmobilmachung an der Flüchtlingsfront" in Schengen-Europa unter deutscher Vorreiterschaft analysiert, meint ein ganzes Kapitel dem "Mordsgeschäft Flüchtlingsschmuggel" der türkischen Staatsmafia widmen zu müssen.

Auch wenn hier die Kriminalisierung von Migrationsbewegungen als Konsequenz deutscher und europäischer Abschottungspolitik sichtbar bleibt, ist die Thematisierung von Flucht und Migration als organisiertem Menschenschmuggel immer mit der Gefahr verbunden, den Diskurs über Illegale als verschwörerische Bedrohung aus dem Untergrund internationaler Mafiaaktivitäten zu bedienen. Das heißt nicht, daß es die Schleuseraktivitäten seitens der türkischen Staatsmafia und anderer Banden etwa nicht geben würde und deren Aktivitäten nicht eine Form des Beutemachens mit oft mörderischen Folgen für die Fluchtwilligen sind. Nur hat die reale Existenz der Schleuserbanden mit der Struktur des rassistischen Ressentiments gegen "Illegale" als Teil des organisierten Verbrechens ähnlich wenig zu tun wie die empirische Existenz jüdischer Bankiers mit der antisemitischen Projektion einer Verschwörung des internationalen Finanzjudentums.

Daß die kurdische Befreiungsorganisation auf den türkischen Staat als Urheber des Menschenschmuggels nach Europa abhebt, verweist auf ihre zwangsläufig ambivalente Rolle hinsichtlich kurdischer Fluchtbewegungen. "Die Kurden zur Flucht zu veranlassen, Kurdistan zu entvölkern und das vertriebene Volk durch staatlich organisierte Kräfte ins Ausland zu schmuggeln, sind Resultate des Vernichtungskrieges gegen das kurdische Volk", umreißt eine ERNK-Erklärung die kurdische Flucht nach Italien.

Aus der Logik des nationalen Befreiungskampfes betrachtet, untergräbt die kurdische Flucht nach Europa die Ziele der kurdischen Befreiungsbewegung. Die identitären Zuweisungen im politischen Diskurs der PKK verstärken allerdings die prinzipiell bereits angelegte Tendenz und zeitigen dann Äußerungen Ö ç alans, in denen dieser sich entschuldigt, daß die KurdInnen in Deutschland mit ihren Aktionen "die Gefühle des deutschen Volkes" verletzt hätten und den Rassismus gegen kurdische Flüchtlinge auf deren illegale Flucht nach Deutschland zurückführt und mit den Worten "die Rechten haben recht" legitimiert. Es liegt jedoch in der prinzipiellen Logik nationaler Befreiungsorganisationen begründet, daß diese sich auf ihr Herkunftsland beziehen und ihre Politik auf ihren dortigen Kampf ausrichten.

Fluchtbewegungen als Folge staatlicher Aufstandsbekämpfung nationaler Befreiungsbewegungen und die Bevölkerung der betreffenden Gebiete bewirken eine Internationalisierung von ethnisch-national definierten Konflikten. Hier ist nun statt Nützlichkeitserwägungen aus der Perspektive der Befreiungsbewegungen die Frage zu stellen, welche Position nationale Befreiungsbewegungen gegenüber der "internationalen Staatengemeinschaft" überhaupt einnehmen können. Angesichts des Charakters und der Machtverhältnisse internationaler Staatlichkeit und ihrer Politik werden nationale Befreiungsbewegungen seitens staatlicher Machtinstanzen immer nur im Hinblick auf ihre Fähigkeit zur Kontrolle "ihrer" Bevölkerung angesprochen und bis zu einem gewissem Grade anerkannt.

Dabei ist es wiederum zweitrangig, ob sich nationale Befreiungsbewegungen selbst in dem Ausmaß als Staaten in spe gerieren wie die PKK. Ein Musterbeispiel zum Beleg dieser These ist die Entwicklung der palästinensischen Befreiungsorganisation im Nahost-Konflikt. Die Kritik vieler deutscher Soligruppen am Kurswechsel der PKK in Richtung diplomatischer Bemühungen gegenüber dem deutschen Staat und den damit verbundenen Deals mit Verfassungsschutz, rassistischen Politikern der Regierungsparteien, wie Heinrich Lummer, oder auch den Justizbehörden im Prozeß von Kani Yilmaz, geht anscheinend von der illusionären Vorstellung alternativer Optionen der Befreiungsbewegung aus. Die zu beobachtende PLOisierung der PKK bzw. Arafatisierung Ö ç alans wird als Verrat an den revolutionären Zielen beklagt. Es zeugt von rührender Hilflosigkeit, wenn z.B. die Kurdistan-Solidarität Hannover in einem Offenen Brief an die kurdische Befreiungsbewegung im Ton des enttäuschten Liebhabers klagt, daß Ö ç alan es vorziehe, mit anderen zu sprechen als mit den FreundInnen des kurdischen Befreiungskampfes in der BRD.

Die sich langsam andeutende vorsichtige Zurückstufung der Repression gegen die PKK in der BRD kann sich darauf gründen, daß die PKK gegenüber dem deutschen Staat ihre Bereitschaft zur Disziplinierung und Kontrolle der von ihr hegemonisierten kurdischen Bevölkerung in Deutschland signalisiert hat. Die PKK wird genau in dem Maß für Kooperation und damit eine weitere Anerkennung als "legitime Vertretung des kurdischen Volkes" durch die Bundesregierung interessant werden, wie sie sich bereit und in der Lage zeigt, kurdische Migration nach Deutschland zu kontrollieren und zu unterbinden. Insgesamt verweist dies alles auf die prekäre Position von Befreiungsorganisationen in einem globalen kapitalistischen Vergesellschaftungszusammenhang, welcher für diese weltweit allenfalls die Rolle von Verwaltungs- und Kontrollinstanzen in den aus den Weltmarktzusammenhängen weitgehend herausgefallenen Elends- und Konfliktzonen an den Rändern erodierender nationalstaatlicher Macht bereithält.

Es dürfte evident sein, daß die bisher in der Solidaritätsarbeit zu nationalen Befreiungsbewegungen wie der PKK anzutreffende Übernahme ethnisch-kultureller Identitätsmuster für eine antirassistische Perspektive nicht trägt. (Das heißt nicht, daß deren Forderungen in bestimmten Punkten nicht auch weiterhin unterstützt werden müßten.) Die kurdischen Flüchtlinge werden hierzulande einerseits als Menschen ohne deutschen Paß auf der Grundlage ethnischer Zuschreibung staatlich und durch den Rassismus gesellschaftlich ausgegrenzt, andererseits sehen sie sich mit den ebenfalls homogenisierenden identitären Zuweisungen der kurdischen Nationalbewegung konfrontiert.

Im linken Antirassismus ist es in jüngster Zeit daher gängig geworden, solchen "monokulturellen" Identitätszuweisungen das in den anglo-amerikanischen Disziplinen der Cultural Studies/Postcolonial Critique entwickelte Konzept multipler und fließender "hybrider" Identitäten entgegenzusetzen. Steht diesen Konzepten mittlerweile bereits in der anglo-amerikanischen Debatte ein Chor materialistischer Kritik entgegen, so stellt sich angesichts der oben analysierten Entwicklungen die Frage nach der Übertragbarkeit auf die Situation illegalisierter MigrantInnen unter deutschen Verhältnissen. Können etwa kurdische MigrantInnen dem oben skizzierten Dilemma identitärer Zuweisungen durch die Entwicklung einer "hybriden Identität" entgehen und gar auf dieser Grundlage der staatlichen Ausgrenzung und konkreten Abschiebungsbedrohung in Deutschland etwas entgegensetzen? Zweifel scheinen angebracht.

Erst recht gilt dies für den von Sabine Hess und Andreas Linder ("In between. Die antirassistische Bewegung und hybride Identität", iz3w) vorgeschlagenen Versuch, antirassistische Intervention auf eine "durch die eigene dominanzkulturelle Identität hindurch" zu entwickelnde "hybride" identitäre Positionierung zu gründen. Gerade die Erfahrungen aus dem bisher praktizierten linken Internationalismus legen nahe, daß sich linksradikale Intervention gegen jeden Identitätszwang richten muß und jeder unkritische Bezug auf kulturelle oder ethnische Identitäten immer mit der Verfestigung kulturalistischer Denkmuster verbunden ist.

Die Sehnsucht von Linken nach Identifikation mit einem kollektiven "Wir" unterläuft, zumal in Deutschland die Grundlagen einer kritischen und materialistischen Gesellschaftsanalyse und verfehlt damit auch die Bedingungen linksradikaler Intervention für emanzipatorische Veränderungen der Gesellschaft. Gegen die Vorstellungen von Hess/Linder ist daher daran festzuhalten, daß ein "solidarisches Verhältnis zu MigrantInnen sich ex negativo aus der rassistischen Migrationspolitik" und, so ist zu ergänzen, den damit verbundenen identitären Zumutungen entwickelt werden muß. Die aus dieser Perspektive resultierende "Anti-Politik" ist keine "Falle", wie Hess/Linder meinen, sondern Bedingung der Möglichkeit linker Intervention.