Grüße aus Vichy

Frankreichs bürgerliche Rechte sackt mehr als 14 Regionalpräsidentschaften ein - fast die Hälfte mit Unterstützung des Front National

Die Fernsehnachrichten auf France 2 sprachen von einem "politischen Erdbeben", KP-Sekretär Robert Hue von einem "Schwarzen Freitag für die Demokratie", das Boulevardblatt Le Parisien von einem schmutzigen Tag für die Republik, und auf der Titelseite der linksliberale Pariser Tageszeitung Libération hieß es am Wochenende kurz und bündig: "Die Schande". Im Vorfeld hatte Premierminister Lionel Jospin gewarnt: "Wenn dieser Riegel gesprengt wird, dann treten wir in eine andere Phase des politischen Lebens ein"; sein Staatsminister für die Beziehungen zum Parlament, Daniel Vaillant, hatte es prägnanter formuliert: "Wenn diese Art Deich bricht, dann werden alle überschwemmt."

Die politische Landschaft Frankreichs hat offenbar eine tiefgreifende Erschütterung erfahren: Fünf von insgesamt 17 Regionalpräsidenten, die am Freitag vergangener Woche gewählt wurden, ließen sich mit den Stimmen des rechtsextremen Front National (FN) ins Amt hieven; ein sechster, dessen Mehrheit auf demselben Wege zustande gekommen war, trat immerhin sofort zurück.

Die Wahlgänge in vier weiteren Regionalparlamenten wurden auf den darauffolgenden Montag verschoben, da die bürgerlich-konservativen Parteien am Freitag die Sitzung boykottierten und so Beschlußunfähigkeit herbeiführten. Mindestens ein weiterer Anwärter auf die Regionalpräsidentschaft wird dann - nach Redaktionsschluß unserer Zeitung - mit hoher Wahrscheinlichkeit die Unterstützung der Neofaschisten in Anspruch nehmen: Antoine Rufenacht in der Haute-Normandie. Dieser hatte bereits 1997 und 1998 den Haushalt mit den Stimmen des FN annehmen lassen und droht mit seinem Austritt aus dem neogaullistischen RPR, da dessen Pariser Führung sich gegen Bündnisse mit den Rechtsextremen sperrt.

In mindestens zwei Fällen hatten sich diese Allianzen durch das Verhalten der konservativen Protagonisten bereits im Vorfeld angekündigt (vgl. Jungle World, Nr. 11/98). In der Region Centre jedoch nahmen die Ereignisse eine unvorhergesehene Wendung: Der offizielle UDF-Spitzenkandidat Renaud Donnedieu de Vabre weigerte sich - seinem Wahlversprechen gemäß -, mit den Stimmen des FN ins Amt zu kommen. Prompt wurde er durch einen weitgehend unbekannten UDF-Mann aus der zweiten Reihe ersetzt, den mittelständischen Unternehmer Bernard Harang.

Charles Millon in der Region Rh(tm)ne-Alpes schließlich, Spitzenpolitiker des liberal-konservativen Parteienbündnisses UDF und Verteidigungsminister in der letzten bürgerlichen Regierung Chirac/Juppé, setzte - in Abweichung von der offiziellen Parteilinie - auf Bündnisse mit dem FN: In seiner Kandidatenrede jedoch übernahm Millon alle sechs Forderungen, die die FN-Parteiführung am Montag vergangener Woche zu ihren Wahlprüfsteinen erklärt hatte (u.a. Steuerabbau, "Sicherheit in den Schulen und Transportmitteln" - die Regionalparlamente sind fast ausschließlich für diese beiden Bereiche zuständig -, Einsatz für den Erhalt der "nationalen und regionalen kulturellen Identität"). Und bereits am Mittwoch zuvor hatte Millon laut Presseinformationen in der Regionalhauptstadt Lyon ein Abkommen mit dem dort ansässigen FN-Generalsekretär Bruno Gollnisch geschlossen.

Am vorletzten Wochenbeginn hatte es noch so ausgesehen, als ob die nationalen Führungen der bürgerlichen Parteien sich gegen Abkommen mit der extremen Rechten sperrten, während ihnen die regionalen Honoratioren häufig die Gefolgschaft verweigerten. Für die Angehörigen der Parteispitzen scheint ihre politische Zukunft in jedem Falle gesichert. Manchem regionalem Berufspolitiker drohte im Falle einer Niederlage jedoch das Ende seiner politischen Karriere. Der Druck auf Abkommen mit dem FN ging daher zunächst von der mittleren und unteren Ebene des RPR- und UDF-Personals aus: "Die Basis der Rechten verhandelt mit dem FN", titelte Le Monde am Donnerstag, während es am Freitag bereits hieß: "Die Versuchung ereilt die Führungsebenen". Eine Anzahl konservativer Spitzenpolitiker habe sich zur Flucht nach vorne entschlossen, um sich nicht von den hinteren Rängen überrennen zu lassen - wie es Renaus Donnedieu de Vabre widerfahren sollte.

Mittlerweile traten bei den bürgerlichen Parteien auch Widersprüche zwischen unterschiedlichen längerfristigen politischen Optionen auf. So ergriff der ultra-marktliberale frühere Wirtschaftsminister Alain Madelin - zu Anfang seiner Karriere in den sechziger Jahren selbst Angehöriger der rechtsextremen Bewegung Occident - am Freitag die Offensive und gratulierte demonstrativ Jacques Blanc in Montpellier zu seinem mit Hilfe des FN zustandegekommenen Abstimmungssieg.

Die meisten der fünf mit FN-Unterstützung gewählten Regionaloberhäupter gehören jener Komponente des Parteienbündnisses UDF an - der Démocratie Libérale (bis 1997 Parti Republicain) -, deren Vorsitzender Madelin ist.

RPR-Chef Philippe Séguin hat unterdessen allen RPR-Mitgliedern förmlich verboten, an einer der fünf betreffenden Regionalregierungen teilzunehmen. Der historische Ursprung des Gaullismus - in der Konstellation des Zweiten Weltkriegs - scheint hier sein Gewicht zu behalten, während anderen Komponenten der bürgerlichen Rechten diese antifaschistische Wurzel fehlt.

Die UDF ihrerseits hat die Mitgliedschaft der fünf Abweichler noch am Tag ihrer Wahl als Regionalpräsidenten suspendiert. Nach Einschätzung des Politologen René Remond wird der Vorsitzende der UDF, Fran ç ois Léotard, jedoch, geschwächt durch seine schwere Wahlniederlage in Marseille, nicht die nötige politische Autorität besitzen, um sie auch tatsächlich auszuschließen.

Die gesamtpolitische Situation scheint seit dem 20. März von einer Polarisierung zwischen den Blöcken auf der Linken und auf der Rechten zugunsten einer neuen zwischen der (regierenden) Linken und dem FN umzukippen. Das erklärte Ziel des FN-Chefstrategen Bruno Mégret, die bürgerliche Rechte zwischen diesen beiden Polen aufzureiben, rückt ein Stück näher.

Paradoxerweise jedoch ist das konservative Lager im Augenblick der große Gewinner dieser Konstellation: Eine ungefähr gleich große Anzahl von Regionalpräsidentschaften war nach der Regionalwahl vom 15. März den beiden politischen Blöcken vorausgesagt worden. Den Linken sind jedoch am Abend des 20. März nur drei Präsidentschaften zugefallen und den bürgerlichen Rechten 14. Mit 35,3 Prozent erhielt das rosa-rot-grüne Bündnis (dem ferner eine links-nationalistische und eine links-liberale Formation angehören) - addiert man ihre Stimmanteile - fast exakt dasselbe Resultat wie die ihm angehörenden Parteien bei den letzten Regionalwahlen im März 1992.

Damals jedoch befand sich die Linke, und vor allem die Sozialdemokratie, in der Endphase ihrer Regierungsperiode unter der Präsidentschaft Mitterrands und erlebte gerade eine katastrophale Implosion. Wenn die Situation der Linken am Wahlabend des 15. März jedoch von allen Beobachtern gegenüber 1992 positiver eingeschätzt wurde, so lassen sich dafür vor allem zwei Ursachen anführen: einerseits die weiter voranschreitende Einschnürung der bürgerlich-konservativen Rechten durch den neofaschistischen FN, der sich auch bei dieser Wahl mit 15,3 Prozent tiefer in ihr Wählerpotential eingefressen hat. Zum anderen ist mit der radikalen Linken ein neuer Faktor aufgetreten, der von links her das Terrain der rosa-rot-grünen Allianz anknabbert.

Beide Phänomene sind als Ausdruck der Krise des politischen Systems zu interpretieren, als Abnahme des Vertrauens in die soziale Krisenlösungskompetenz der klassischen Parteien auf der Linken wie auf der Rechten. So ist wohl auch die Rekordenthaltung bei dieser Regionalwahl (42 Prozent) zu deuten, wenngleich dabei Vorsicht geboten ist - angesichts der beschränkten Kompetenzen der Regionalparlamente wird ihrer Wahl eine tendenziell geringe politische Bedeutung beigemessen wird.

Die radikale Linke - vor allem vertreten durch zwei trotzkistische Formationen - hat gegenüber 1,2 Prozent bei den Regionalwahlen 1992 mit landesweit 4,4 Prozent ein bemerkenswertes Ergebnis erzielt. Freilich hatte die Kandidatin der Gruppe LO (Lutte Ouvrière - Arbeiterkampf), Arlette Laguiller, bereits 1995 bei der Präsidentenwahl 5,3 Prozent erhalten. Die aktuelle Stimmabgabe für die radikale Linke stellt nach Ansicht nahezu aller Beobachter auch eine Reaktion vieler traditioneller KP-Wähler dar, die so ihre Unzufriedenheit mit der Unterstützung der Regierungspolitik Jospins durch die KP ausdrücken.

Die meisten der insgesamt 27 Regionalparlamentarier aus der radikalen Linken stellt LO, die flächendeckend angetreten ist. Diese kleine Formation verfügt über eine hocheffiziente Wahlkampfmaschine und ist seit 25 Jahren bei fast allen wichtigen Wahlgängen vertreten und hat sich daher eine Art Stammwählerschaft erobern können. LO ist auf einen "klassizistischen" Proletariatsbegriff fixiert und bemüht sich wenig um eine theoretische Analyse der aktuell herrschenden Verhältnisse. In den meisten politischen Kämpfen der letzten Jahren war LO abwesend, unter anderem, da der antirassistische Kampf in ihren Augen eine Ablenkung vom (rein ökonomisch definierten) Klassenkampf darstellt und da ihre Bündnispolitik ausgesprochen sektiererisch ist.

Stärker intellektuell geprägt und von ehemaligen Wortführern der Bewegung des Mai '68 (wie Alain Krivine und Daniel Bensaid) geführt, hat die Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR) größere Schwierigkeiten als LO, ihre reale Verankerung in sozialen Bewegungen in Wählerstimmen umzusetzen. Dieses Mal freilich stellt erstmals auch die LCR Abgeordnete: Mit zwei Vertretern sitzt sie im Regionalparlament von Toulouse. Wer seinen nächsten Urlaub in Frankreich plant, dem sei übrigens die Region um Toulouse (Midi-Pyrénées) empfohlen: Die radikale Linke erhielt hier elf Prozent und überrundete sogar den FN, der mit zehn Prozent relativ schwach ist.