Der Schwindel des Archivs

Jacques Derrida interpretiert Freuds Gespenster, sein Judentum, die Zu-Kunft der Psychoanalyse und die Politik des Archivs.

Jacques Derrida gilt als schwieriger Theoretiker. Mal attestiert man ihm talmudistische Spitzfindigkeit und Haarspalterei, mal hält man ihn für unlesbar. Dabei schreibt er so einfache Sätze wie diesen: "Ich war dabei, auf der einen Seite Freud, auf der anderen Yerushalmi zu lesen und zugleich auf meinem Computer herumzuhämmern." Damit ist der Inhalt des Buches "Dem Archiv verschrieben" - ursprünglich ein Vortrag beim Colloquium "Memory: The Question of Archives" im Juni 1994 im Londoner Freud-Museum - beschrieben.

Der Computer steht für die behandelte mikroelektronische Umwälzung der Archivierungstechniken, des weiteren geht es um Freud und insbesondere die Freud-Interpretation, die Yosef Hayim Yerushalmi in seinem Buch "Freuds Moses. Endliches und unendliches Judentum" (Berlin 1991) vorgelegt hat.

Das Archiv. Derrida beginnt mit der Wortgeschichte von "Archiv", der er eine herrschaftssoziologische und politische Wendung gibt. Die Archonten bewahrten nicht nur die ihnen anvertrauten Dokumente, sondern sie hatten die Macht der Interpretation des Gesetzes - Exegese und Führung griffen ineinander. Wenn Derrida die Problematik des Archivs politisiert, trägt er allerdings nichts Politisches von außen an ein vermeintlich neutrales Archiv heran. Die Frage des Archivs sei keine "politische Frage unter anderen", sondern betreffe "in Wahrheit eine durchgehende Bestimmung des Politischen als res publica".

"Die wirkliche Demokratisierung bemißt sich stets an diesem essentiellen Kriterium: an der Partizipation am und dem Zugang zum Archiv, zu seiner Konstitution und seiner Interpretation." Der Schwindel des Archivs durch politische Instrumentalisierung ist hierzulande allzu bekannt, man denke nur an die sechs Millionen Stasi-Akten, die Leichenberge überlagern sollen. Nur nebenbei führt Derrida eine weitere Problematik an: Gestützt auf Sonia Combes Studie "Archives interdites" ("Verbotene Archive", 1994), weist er darauf hin, daß die Korporation der Archiv-Interpretation im heutigen Frankreich nicht zufällig fast ausnahmslos männlich sei. Zugespitzt auf die Patriarchen der Psychoanalyse und ihren Phallogozentrismus, wird diese Problematik das Buch durchziehen.

Die Psychoanalyse wird auf ihre spezifische Archiv-Problematik hin befragt; hier geht es um die Geschichte der Psychoanalyse, ihre offenen oder noch geschlossenen Archive, ebenso wie um die psychoanalytische Theoriebildung, die sich - für Derrida seit mehr als drei Jahrzehnten ein zentrales Thema - seit Freud auf Schriftmodelle stütze. Auf der anderen Seite liefert die Psychoanalyse eine Reihe von Begriffen zum Verständnis der Problematik von Archivierung und Überlieferung, zur Zensur, Entstellung und Verdrängung und ihrer Dechiffrierung in den Archiven von Herrschaft und Unterdrückung.

Freud. Aus Freuds Werk greift Derrida eine kurze Passage heraus, die sich mit Fragen des Archivs beschäftigt: die einleitenden Sätze eines Abschnittes aus "Das Unbehagen in der Kultur" (1929/30). Die Stelle wirkt unbedeutend, als Einleitung eines Abschnittes eher ungeschickt: "Ich habe bei keiner Arbeit so stark die Empfindung gehabt wie diesmal, daß ich allgemein Bekanntes darstelle, Papier und Tinte, in weiterer Folge Setzerarbeit und Druckerschwärze aufbiete, um eigentlich selbstverständliche Dinge zu erzählen. Darum greife ich es gerne auf, wenn sich der Anschein ergibt, daß die Anerkennung eines besonderen, selbständigen Aggressionstriebes eine Abänderung der psychoanalytischen Trieblehre bedeutet."

Nun, was macht Derrida, dem, von Jürgen Habermas bis Günther Jacob u.a. (vgl. Jungle World, Nr.15/98), vorgeworfen wird, in Umkehrung der Tradition seit Aristoteles, der Rhetorik den Vorrang vor der Logik zu geben, daraus? "Rhetorik und Logik dieses Absatzes" seien "derart durchtrieben, daß einem schwindlig werden kann", schreibt Derrida und arbeitet das thematische Zusammenspiel zwischen dem Versuch Freuds, das Wohlwollen des Lesers zu erlangen, und seinen anschließenden Ausführungen heraus.

Freud wiederholt hier seine in "Jenseits des Lustprinzips" (1920) formulierte Spekulation über den Todes-, Aggressions- oder Destruktionstrieb, der "stumm" im stillen wirkt, "niemals ein ihm eigenes Archiv" hinterläßt. "Freud kann die scheinbar unnütze Verausgabung von Papier, Tinte und typographischem Druck (...) nur rechtfertigen, indem er die Neuheit seiner

Entdeckung anführt, eben jene Entdeckung, die so viel Widerstand hervorruft, und zunächst in ihm selbst, und genau deshalb, weil es ihre stillschweigende Berufung ist, das Archiv zu verbrennen und in die Amnesie zu treiben, womit sie dem ökonomischen Prinzip des Archivs widerspricht und das Archiv als Akkumulation und Kapitalisierung des Gedächtnisses auf einem bestimmten Träger und an einem äußeren Ort zu ruinieren bestrebt ist."

Yerushalmi. In Derridas Îuvre ragt die Auseinandersetzung mit Yerushalmi, Professor für Jüdische Geschichte, Kultur und Gesellschaft, als Besonderheit hervor, denn überwiegend befaßt sich Derrida in solcher Ausführlichkeit mit kanonischen Autoren der Tradition, nicht hingegen mit Historikern, deren Werke gewöhnlich als "Sekundärliteratur" katalogisiert werden. Um so auffälliger Derridas Verbeugung vor Yerushalmi und die fast identifikatorische biographische Note, wenn Derrida bei der Erwähnung von Yerushalmis Buch "über jene Marranen" - spanische Juden, die sich unter dem Zwang der Inquisition taufen ließen und unter dem Verdacht standen (bzw. dies tatsächlich taten), insgeheim am Judentum festzuhalten -, "mit denen ich (Derrida; A.S.) mich immer insgeheim identifiziert habe (sagen Sie es niemandem)", auf eine Geste Yerushalmis in ironischer Umkehrung anspielt.

Anders als Peter Gay, der in seiner Studie "'Ein gottloser Jude'. Sigmund Freuds Atheismus und die Entwicklung der Psychoanalyse" (1988) behauptet, Freuds säkulares Judentum habe mit der Entdeckung der Psychoanalyse nichts zu tun gehabt, ruft Yerushalmi Freud in die jüdische Tradition zurück. Diese Einschreibung nimmt Yerushalmi in "Freuds Moses" zunächst und überwiegend mit den traditionellen Mitteln der Geschichtsschreibung vor. So vor allem mit Verweis auf einen besonderen Archivfund, einen Text aus der Feder des Archi-Patriarchen der Psychoanalyse, Freuds Vater.

Das Hauptinteresse Derridas liegt auf dem abschließenden Teil von Yerushalmis Buch, worin der Gelehrte in einem "Monolog mit Freud" vom Weg des Historikers abkommt. In Anspielung auf Shakespeares "Hamlet" und in Fortführung seines Buches "Marx' Gespenster" (Frankfurt / M. 1995) preist Derrida Yerushalmi als den scholar, der mit einem Gespenst, dem sich auf Gespenster verstehenden toten Freud, zu sprechen wagt. Aus diesem Gespenstergespräch isoliert Derrida Kernpunkte der Argumentation, so beispielsweise den Schluß.

Anna Freud hatte 1977 bei der Inaugural-Vorlesung für den Sigmund-Freud Lehrstuhl an der Hebräischen Universität in Jerusalem mit der Schlußbemerkung überrascht, die Psychoanalyse solle das Schimpfwort "jüdische Wissenschaft" als Ehrentitel annehmen. Yerushalmi möchte nun, daß Freud ihm eine einzige Frage beantwortet: "Als Ihre Tochter dem Kongreß in Jerusalem diese Worte übermitteln ließ, sprach sie da in ihrem Namen? Bitte sagen Sie es mir, Herr Professor. Ich verspreche, daß ich Ihre Antwort niemandem enthüllen werde." Yerushalmi wünscht also, so Derrida, daß Anna Freud "nur (...) das Sprachrohr gewesen sei, angetreten, ihren toten Vater zu unterstützen und sein Wort, seinen Namen, seine Zugehörigkeit, seine These und sogar seinen Glauben zu repräsentieren". Yerushalmi will vom Vater selbst das entscheidende Wort, er will sich in der Erbfolge Freuds plazieren, ja er will (...) eine allerletzte Wiederholung" einer im Konjunktiv gehaltenen Bemerkung, die Freud in einem privaten Zusammenhang gesagt hat - eine "unauslöschliche Gegenzeichnung" eines Toten.

Andererseits nimmt Yerushalmi seine Ansprüche zurück und setzt zugleich, wie Derrida hervorhebt, "alle Sicherheiten, Normen und axiomatischen Regeln außer Kraft, die ihm bisher gedient hatten": "Professor Freud, an diesem Punkt angekommen, erscheint es mir unnütz zu fragen, ob die Psychoanalyse, genetisch oder strukturell, wirklich eine jüdische Wissenschaft ist; wir werden es erst wirklich wissen, einmal unterstellt, daß das jemals eine Wissenschaft sein wird, wenn viel Arbeit getan sein wird. Vieles wird, sicherlich, davon abhängen, wie die Ausdrücke jüdisch und Wissenschaft definiert werden müssen."

In dieser "Gleichung mit zwei Unbekannten" sieht Derrida keine Kapitulation. Daß Yerushalmi die Begriffe "jüdisch" und "Wissenschaft" nicht fixiert und sistiert, sondern in der Schwebe hält, markiert die Überschreitung der Grenzen positiver Wissenschaft im Sinne einer "Bejahung des Zu-Künftigen". Derrida spricht vom Messianischen, das er - wie aus "Marx' Gespenster" bekannt - vom Messianismus unterscheidet. "Dieses epochale In-der-Schwebe-Halten konzentriert in einem Akt, für ein Mal, die ganze Energie des Denkens. (...) Die Intensität dieses In-der-Schwebe-Haltens erregt Schwindel - erregt Schwindel, indem es die einzige Bedingung dafür abgibt, damit das Zu-Künftige bleibt, was es es ist: es ist zu kommen. Die Bedingung, damit das Zu-Künftige zu kommen bleibt, ist nicht nur, daß es nicht bekannt, sondern daß es als solches nicht wißbar ist."

Zumeist macht es Derridas Darstellung unmöglich, die Position Yerushalmis und die Derridas auseinanderzuhalten. Derrida projiziert Yerushalmis und sein Buch ineinander - so, als würden zwei Dias übereinandergelegt. So zieht Derrida aus seiner Lektüre von Yerushalmis Schrift die beim ersten Blick ins Inhaltsverzeichnis irritierende Gliederung seines eigenen Buches.

In einem entscheidenden Punkt indes wahrt Derrida Distanz: "Nur in Israel", schreibt Yerushalmi, "und nirgendwo sonst wird die Aufforderung, sich zu erinnern, als ein religiöser Imperativ für ein ganzes Volk empfunden."

Ähnlich Yerushalmi, hat Derrida in "Marx' Gespenster" die Gerechtigkeit als Erinnerung und Widerstand gegen das Vergessen interpretiert; doch hier erhebt er Einspruch: "Wenn ich an eben diese Gerechtigkeit denke, dann genau frage ich mich zitternd, ob sie gerecht sind, diese Sätze, die Israel sowohl die Zukunft als auch die Vergangenheit als solche vorbehalten, sowohl die Hoffnung als auch die Pflicht zum Gedenken, eine Zuweisung, die von Israel allein, Israel als Volk und Israel in seiner Totalität empfunden würde. Es sei denn, daß man in der Logik dieser Auserwähltheit alle Orte und Völker, die bereit wären, sich in dieser Antizipation und in dieser Aufforderung wiederzuerkennen, mit dem einmaligen Namen Israel nennt - und dies wäre dann nicht mehr nur ein schwindelerregendes semantisches oder rhetorisches Problem."

Jacques Derrida: Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression. Übersetzung von Hans-Dieter Gondek und Hans Naumann. Brinkmann & Bose, Berlin 1997, 180 S., DM 45 <
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