Kam sah und blieb

Ein in Dänemark zu lebenslanger Haft verurteilter SS-Mann durfte in Deutschland 36 Jahre lang die Regierungspartei CSU wählen

Hat man in Deutschland seine Verbrechen im Dienste des Vaterlandes verübt, so braucht man dort wenig Angst davor haben, im Knast zu landen. Ist man - wie ein Großteil der NS-Verbrecher - der von den Alliierten des Zweiten Weltkriegs durchgeführten Entnazifizierung der ersten Nachkriegsjahre entgangen, konnte man nach Gründung der Bundesrepublik im Jahre 1949 getrost aufatmen, sich ein bürgerliches Leben aufbauen oder das alte weiterführen und mußte dafür noch nicht einmal nach Südamerika auswandern.

Am besten fuhr, wer in den südlichen Bundesstaat Bayern kam. Denn, egal ob man sich nun in Pullach nahe der regionalen Hauptstadt München oder in Kempten in dem landwirtschaftlich geprägten Bezirk Allgäu niederließ, man konnte sich darauf verlassen, daß die Justiz, die das nationalsozialistische Personal beinahe geschlossen übernommen hatte, schon dafür sorgen würde, daß strafrechtliche Ermittlungsverfahren gar nicht erst aufgenommen oder aber bald wieder eingestellt wurden.

Auch Soeren Kam verläßt sich bis heute voll und ganz auf die Rechtsprechung Bayerns - und bislang fährt er damit hervorragend. Der einstige SS-Obersturmführer, der seit Jahrzehnten in Kempten wohnt, ist zwar hier in Dänemark längst wegen Mordes an einem Journalisten zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Weil er jedoch schon vor über 40 Jahren unter ungeklärten Umständen die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten hat, darf er nach den deutschen Gesetzen nicht ausgeliefert werden. Davor schützt ihn Artikel 16, Absatz III des sogenannten Grundgesetzes, der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland.

Das Ermittlungsverfahren, das die Staatsanwaltschaft München II bereits 1968 gegen Kam einleitete, wurde bereits drei Jahre später wieder eingestellt - aus Mangel an Beweisen. Auf internationalen Druck hin, vor allem aus Dänemark, ist das Verfahren vor ein paar Wochen wieder aufgenommen worden. Doch auch diesmal müht man sich in München, den heute 77 Jahre alten Rentner möglichst unbehelligt zu lassen.

Dabei bestreitet inzwischen nicht einmal mehr Kam selbst, daß er am Abend des 30. August 1943 in Kopenhagen-Lyngby den Journalisten und Widerstandskämpfer Carl Henrik Clemmensen erschossen hat. Gemeinsam mit seinen beiden Kameraden von der dänischen Waffen-SS-Einheit Schalburg, Jorgen Valdemar Bitsch und Knud Flemming Helveg-Larsen, hatte Soeren Kam das Mordopfer zunächst bis zu dessen Wohnung verfolgt, dann entführt und schließlich exekutiert - mit insgesamt acht Pistolenschüssen. Der Grund: Clemmensen, während der deutschen Okkupation Reporter der Berlingske Tidende, war kurz zuvor einem Kollegen von dem Nazi-Blatt Fadrelandet über den Weg gelaufen. Clemmensen spuckte vor dem Kollaborateur aus und beschimpfte ihn als Landesverräter.

Kam, der von dem Vorfall erfuhr, machte sich mit seinen beiden Nazi-Kameraden auf, die Beleidigung zu vergelten. Helveg-Larsen ist der einzige des Mördertrios, der wegen der Tat belangt wurde: Er wurde 1946 zum Tode verurteilt und hingerichtet. Bitsch dagegen verschwand spurlos, und Kam ging in die sichere Bundesrepublik Deutschland, die ihm die Staatsbürgerschaft verlieh. Kam fand Arbeit als Verkaufsleiter einer Brauerei in Kempten und genießt inzwischen in dem milden Reizklima der Voralpen ein angenehmes Rentnerdasein.

Daß sein Fall überhaupt noch einmal in die Schlagzeilen geraten ist und jetzt wieder aufgerollt wird, verdankt Soeren Kam seiner ungebrochenen Liebe zu Deutschlands einstigem Staatschef Adolf Hitler und seinem neuen Vaterland: Mit dem Ritterkreuz an der stolzgeschwellten Brust - den Orden hatte er von den Deutschen für seinen Einsatz an der Ostfront erhalten - marschierte Kam im Oktober 1995 am Ulrichsberg im österreichischen Kärnten auf, wo ehemalige Mitglieder der kriminellen Nazi-Organisation Waffen-SS jährlich ein Treffen abhalten.

Bei dem Altnazi-Meeting trat auch Jörg Haider auf, der Führer der weit rechts angesiedelten Freiheitlichen in der Alpenrepublik. Die Versammlung wurde von österreichischen Antifaschisten auf Video aufgezeichnet, die das brisante Band schließlich dem deutschen Fernsehsender ARD zuspielten. Als das Video im deutschen Fernsehen ausgestrahlt wurde, erkannten Zuschauer in Dänemark unter den Waffen-SS-Veteranen auch den Mörder von Carl Henrik Clemmensen. Dänische Journalisten stöberten Kam daraufhin in Kempten auf.

Der ertappte SS-Offizier möchte von seiner Vergangenheit natürlich nichts mehr wissen. Er sei zwar Nazi gewesen, seit dem Kriege habe er sich aber aus der Politik heraus gehalten, beteuerte er dem Ekstra Bladet: "Ich war Verkaufsleiter einer Brauerei in Bayern, und seit 36 Jahren wähle ich die CSU." Die "Christlich-soziale Union" regiert seit 1946 beinahe ununterbrochen den Bundesstaat Bayern und ist an der jetzigen deutschen Regierung beteiligt.

Daß er auf den Journalisten Clemmensen geschossen hat, hat Soeren Kam nie bestritten, auch nicht im Verlauf des ersten Ermittlungsverfahrens gegen ihn. Allerdings, so Kam, habe Helveg-Larsen zuerst geschossen. Er selbst habe nur "als ein Akt solidarischer Haltung" abgedrückt, und das auch erst, als Clemmensen schon tot am Boden lag. Diese fadenscheinige Behauptung reichte der Staatsanwaltschaft München II, das Verfahren aus Mangel an Beweisen einzustellen.

Im vergangenen Jahr tauchte in Kopenhagen jedoch nach mehr als 50 Jahren der Obduktionsbericht des toten Clemmensen wieder auf. Und aus dem geht zweifelsfrei hervor, daß alle acht abgefeuerten Kugeln den Journalisten fast gleichzeitig trafen, und zwar als dieser noch aufrecht stand.

Im September 1997 schickten die dänischen Behörden den Obduktionsbericht nach Bayern. Es dauerte fast ein Jahr, bis die Staatsanwaltschaft in München reagierte und neue Ermittlungen aufnahm. Am 3. August wurde Soeren Kam schließlich vorgeladen und mit den Ergebnissen des Obduktionsberichts konfrontiert. Wie der zuständige Oberstaatsanwalt Manfred Wick gegenüber dem Korrespondenten der Jungle World erklärte, hat Kam angesichts der vorgelegten Beweise seine bisherigen Angaben revidiert und zugegeben, daß er doch auf den noch lebenden Clemmensen geschossen hat.

Für die zuständigen Behörden des Bundesstaates Bayern ist das allerdings immer noch kein Grund, den Mörder nun endlich hinter Gitter zu bringen. Denn der überführte Lügner Kam hat sich in seiner Vernehmung auf Nothilfe berufen. Die liegt nach dem deutschen Strafgesetzbuch dann vor, wenn jemand durch eine Straftat eine "nicht anders abwendbare Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut" abwendet.

Was für eine Gefahr das bei Soeren Kam gewesen sein soll, will der deutsche Oberstaatsanwalt vorerst nicht verraten. Er beruft sich darauf, daß nach deutscher Rechtspraxis ein konkreter Tatverdacht gegen den SS-Mann erst dann vorliege, wenn dessen Aussage widerlegt ist. Zudem müsse sichergestellt sein, daß Soeren Kam "unter Mordmerkmalen gehandelt hat". Sollte bei den Ermittlungen nämlich herauskommen, daß der Mord nur ein Totschlag gewesen ist, dann wäre die Tat schon verjährt.

Soeren Kam kann es sich also weiterhin in seinem Kemptener Reihenhaus gemütlich machen. Die Staatsanwaltschaft München II hat jetzt erst einmal das Institut für Rechtsmedizin in der ebenfalls in Bayern gelegenen Stadt Erlangen mit einem Gutachten beauftragt. Darin soll geklärt werden, ob die Einlassungen Kams mit dem Obduktionsbericht "in Einklang zu bringen sind". Und das kann dauern. "Wir rechnen mit dem Gutachten in den nächsten Monaten", so Oberstaatsanwalt Wick gegenüber Jungle World.