Mit Geschichte in die Zukunft

Geschichtslücke zwischen Krankengymnastik und Bomben: Das neu eröffnete Deutsche orthopädische Geschichts- und Forschungsmuseum kümmert sich nicht um die NS-Vergangenheit

"Hier in der Weltstadt wünscht man nicht, das Elend der armen Krüppel zu sehen." So lehnte die Stadt Wiesbaden Anfang des Jahrhunderts das Angebot des "Vereins für Krüppelvorsorge" ab, in der Villengegend Neroberg mit einer Spende der Fabrikantenwitwe Elisabeth König ein "Krüppelheim" zu bauen.

Das Heim wird dann 1913 in Frankfurt am Main errichtet und nach dem Ehemann der Stifterin "Friedrichsheim" genannt. Die Fabrikantenwitwe folgt mit ihren 200 000 Reichsmark für die "Krüppelvorsorge" schlichten ökonomischen Überlegungen: Behinderte sollen wieder erwerbsfähig gemacht werden, damit sie die Gesunden nichts kosten. "Tat oder Tod", bringt Hans Würtz, Mitbegründer der "Krüppelvorsorge", das Konzept auf den Punkt.

Im Ersten Weltkrieg dient die Klinik zunächst als Reservelazarett. Nach dem Krieg wird das Friedrichsheim zur Lehranstalt für Massage und Krankengymnastik. Am 22. März 1944 fallen aus heiterem Himmel Bomben auf das Friedrichsheim und zerstören es "fast völlig". Zwischen Krankengymnastik und Bomben: nichts. So zumindest versucht es heute die Orthopädische Universitätsklinik Friedrichsheim in Frankfurt darzustellen.

Mit einem feierlichen Symposium wurde dort vor zwei Monaten das "Deutsche orthopädische Geschichts- und Forschungsmuseum" eröffnet. Allerlei technisches Gerät hat man zusammengetragen. Prothesen, Ertüchtigungsgeräte und Skelette. Salbungsvolle Worte waren zu hören: Man wolle der Orthopädie den Weg "von der Geschichte in die Zukunft" weisen, sagte der ärztliche Direktor Ludwig Zichner, und Oberbürgermeisterin Petra Roth freute sich über die "Schatzkammer gewonnenen Wissens". 340 000 Mark kostete der Bau des kleinen Museums.

Ausgaben für die Darstellung der Zeit von 1933 bis 1945 sparte man sich. Dabei hat der Hauptverantwortliche für das Museumskonzept, Medizinhistoriker Klaus Dieter Thomann, im Mabuse-Verlag sogar ein Buch zum Thema "Medizin, Faschismus und Widerstand" veröffentlicht. Doch im "für Deutschland und Europa einmaligen" Museum wollte der Medizinhistoriker den Nationalsozialismus lieber unberücksichtigt lassen, offenbar weil er wußte, daß er andernfalls auch über die braune Vergangenheit der Stiftung Friedrichsheim nicht hätte hinwegsehen können. Die Stiftung war an der Finanzierung des Projektes und wahrscheinlich auch der seines Auftrages beteiligt.

Orthopädisch Kranke und körperlich Behinderte seien "mit wenigen Ausnahmefällen von der Sterilisierung verschont" geblieben, behauptete Thomann, als sein Konzept kritisiert wurde. Im Gegensatz zu den geistig und seelisch Behinderten seien Körperbehinderte "nicht nur von der Vernichtung ausgenommen, sondern sogar aufgewertet" worden. Thesen, die nur glauben kann, wer heute die Nazi-Kategorien übernimmt und glaubt, daß fast alle Umgebrachten "Schwachsinnige" waren. Mit Kategorien wie "moralischer Schwachsinn, der die Züge der Schlauheit trägt" konnte jeder vergast und sterilisiert werden. Auch Menschen mit körperlichen Behinderungen jeglicher Art wurden ermordet und zwangssterilisiert. Selbst versehrte Soldaten seien in der Anstalt Hadamar umgebracht worden, so Ute Daub, die über den NS forscht.

Im Museum habe man den Schwerpunkt nicht auf die "politische Geschichte" legen wollen, denn "allgemein- und sozialpolitische Einflüsse" auf die Orthopädie habe es immer gegeben, windet sich Thomann. "Dies gilt ebenso für das Kaiserreich wie die Weimarer Republik, den Nationalsozialismus oder die frühe Bundesrepublik und die DDR", schlingert er durch die Geschichte, um ja nicht von dem zu sprechen, was er als Medizinhistoriker natürlich weiß.

"Wieder ergeht an jeden von uns der Ruf Deutschlands durch den Mund Adolf Hitlers: Willst du deine ganze Persönlichkeit, dein Wissen und Können rückhaltlos einsetzen, damit dieser Kampf endlich zum Sieg führt", fragt der Vorsitzende Franz Schede 1933 beim Kongreß der Deutschen Orthopädischen Gesellschaft in Leipzig die versammelten Kollegen. Er macht den Orthopäden klar, "daß wir uns beschränken müssen, daß die Erhaltung lebensunwerten Lebens nicht unsere Aufgabe sein kann."

Auch dem Mitgründer der "Krüppelvorsorge", Hans Würtz, paßt der Gedanke, daß nicht zur Erwerbsfähigkeit therapierbare Menschen kein Existenzrecht haben, gut ins Konzept. "Die moderne Orthopädie trennt den heilbaren Krüppel vom unheilbaren Siechen", schreibt Würtz, "die moderne Krüppelpädagogik trennt die der Autonomie aufschließbaren, ethisch gesunden Krüppel vom sittlich unmündig bleibenden schwachsinnigen Gebrechlichen."

1934 wird die Deutsche Vereinigung für Krüppelvorsorge mit der Deutschen Orthopädischen Gesellschaft zur "Reichsarbeitsgemeinschaft zur Bekämpfung des Krüppeltums" zusammengefaßt und der Reichszentrale für Gesundheitsführung unterstellt. Hellmut Eckhardt, damaliger Geschäftsführer der Krüppelvorsorge, stellt in der Zeitschrift für orthopädische Chirurgie klar: "Um erfolgreich Rassen- und Erbgesundheitspflege" treiben zu können, "sei die Mitarbeit der Orthopädie unentbehrlich".

Das 1933 verabschiedete "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" sieht auch die Zwangssterilisation bei schwerer körperlicher Mißbildung vor. Die Orthopäden sind von der Legalisierung der "eugenischen Maßnahmen" begeistert. So weist der Orthopäde Joseph Hilgers aus der Universitätsklinik München 1935 darauf hin, daß bei Mißbildungen an Händen und Füßen "immer wieder der Antrag auf Sterilisation gestellt" werde. Zur Entscheidung würden sich die Erbgesundheitsgerichte "gerade an die Fachärzte für Orthopädie wenden". Nach seiner Ansicht seien die Unfruchtbarmachungen "zu genehmigen".

Als "Führer der Orthopädie" gilt in dieser Zeit Georg Hohmann, von 1930 bis 1945 Leiter der Klinik Friedrichsheim in Frankfurt, in der sich heute das "Geschichts- und Forschungsmuseum" befindet. Damals ist Hohmann Vorsitzender der Deutschen Orthopädischen Gesellschaft, Vorsitzender der Krüppelvorsorge und gleichzeitig "Landeskrüppelarzt". 1936 schreibt Hohmann im Jahresbericht der Klinik Friedrichsheim: "Die letzten Jahre brachten durch die Erbgesundheitsgesetzgebung des neuen Staates neue Gesichtspunkte und neue Aufgaben, denen wir uns gerne unterziehen. Auch hierdurch ist eine Verminderung des Krüppelelends mit der Zeit zu erhoffen. Je weniger Fürsorge für den Schwachen notwendig ist, um so mehr ist Förderung des Starken möglich."

Im Vorstand der Universitätsklinik Friedrichsheim sitzt auch Oberschulrat August Henze, ein fanatischer Eugeniker, der von der "Riesenaufgabe" der Zwangssterilisation schwärmt, die man an Millionen von Menschen durchführen solle. Dabei könne man "eher zu weit gehen als zu nachsichtig sein", so Henze, und "lieber einmal zu oft sterilisieren". Jüdische Ärzte, wie der außerordentliche Professor Walter Veit Simon, werden aus der Universitätsklinik ausgestoßen. Jüdische Patienten, so geht es aus einem Vorwärts-Bericht hervor, werden dort sogar schon vor 1930 brutal mißhandelt.

Klinikleiter Georg Hohmann rühmt sich noch 1939 in einem selbst verfaßten Lebenslauf, "beratendes Organ im Reichsausschuß für Krüppelvorsorge beim Reichsausschuß für Volksgesundheit (Hauptabteilung II) Berlin" zu sein. Nach dem Krieg wird Hohmann erster Rektor der "freien" Universität Frankfurt und betont seine Nichtmitgliedschaft in der NSDAP.

Georg Hohmann wechselt 1946 nach München, leitet dort die Universität und wird später zum mehrfachen Ehrendoktor sowie zum Ehrenplakettenträger und Ehrenbürger der Stadt Frankfurt ernannt. Hohmanns Assistent im Friedrichsheim ab 1932, der Orthopäde Eduard Güntz, darf nach dem Krieg nicht nur in Frankfurt bleiben, sondern wird 1951 sogar zum Direktor der Orthopädischen Universitätsklinik Friedrichsheim ernannt. Obwohl er SS-Sanitäts-Scharführer, Mitglied der SA und im NS-Ärztebund war, bleibt Güntz bis 1969 Direktor der Klinik. Erst die "in der akademischen Jugend verbreitete Unruhe führte gegen Ende dieses Jahrzehnts zu Umwälzungen an der Universität", heißt es lapidar in einer Jubiläumsbroschüre der Stiftung Friedrichsheim.

Den heutigen Direktor, Ludwig Zichner, interessiert die Geschichte herzlich wenig: "Ich habe mich mit dieser Zeit nicht beschäftigt", so Zichner, "das ist aus heutiger Sicht Schnee von gestern."

Nach öffentlicher Kritik haben die Museumsverantwortlichen jetzt eine Doktorarbeit zum Thema "Orthopädie im dritten Reich" vergeben. Irgendwann soll eine Tafel ins Museum eingefügt werden. Vor einigen Tagen wollten zwei Besucher das Museum besichtigen und standen vor verschlossenen Türen. Man müsse sich jetzt vorher anmelden und dürfe nur in Begleitung herein, hieß es mit der Begründung: "Am Ende fehlt noch was!"