62. Also noch mal von vorne

Fortgesetzte Erzählung

Vom Kai der blauen Berge rissen sich Wolkenschoner los und fegten mit ausgefransten Segeln gen Osten. Die Landschaft war mäßig bewaldet und barock gestaltet. Sandsteinhügel, die nicht mal ein Schaf ernährten, gliederten sie nach einem unerklärlichen Schöpferwillen, und in Abständen, die der Sprengkraft von Fünfzig-Zentner-Glocken entsprachen, gluckten gedrungene, quadratische Kirchtürme inmitten breitärschiger Fachwerkhäuser.

Pufi kam aus dem Rheinland im April, war schon den zweiten Tag unterwegs und trotzdem erst zweihundert Kilometer gefahren, aber er hatte keine Eile. Seine Requisiten lagerten im doppelten Boden und der war gut getarnt, so daß Inspektor Fahrensohn, der Pufis Habe etwa drei Wochen später durchsuchte, sie nur zufällig fand. So fuhr er, ohne zu ahnen, was ihn erwartete, an Dörfern vorbei, die Übelgönne hießen und Haueda, Liebenau und Zwergen.

Kurz hinter der Grenze zwischen der britischen und der amerikanischen Besatzungszone stand ein Schild mit der Aufschrift Lamerden 6 Kilometer, das ihn zum Denken anregte. Vielleicht (so überlegte er) fanden die Hugenotten, die im 16. Jahrhundert von Philipp dem Großmütigen (der mit den drei Eiern) hier angesiedelt wurden, ihre neue Heimat so sympathisch, daß sie jeden Tag dreimal "Scheiße" sagten, was wiederum die hessischen Ureinwohner dazu verleitete, den Ort, aus purer Unkenntnis der französischen Sprache Lamerden zu nennen.

Die schwarze Straße, die so zur Müßigfahrt verleitete, nannte sich seit Paderborn die Holländische und war mit Schlaglöchern übersät. Wie die meisten Fernverkehrsstraßen des Jahres 1949, war sie mit Basaltköpfen gepflastert, zum Rand hin abschüssig und so schmal, daß man auf die unbefestigten Bankette ausweichen mußte, wenn ein Fahrzeug entgegenkam. Zum Glück fuhren fast keine Autos.

In Schmerlecke, kleine Rückblende, hatte die Hinterachse seines Vierzylinders Marke "Adler" Baujahr '39, also noch Vorkriegsware, wie man damals sagte, das Geholper satt, gab Geräusche von sich, als würde jemand unter der Kofferhaube Brennholz hacken, und blieb leblos liegen.

Es dauerte einen halben Tag, bis Pufi einen Tierarzt namens Rathsack fand, der in seinem Wartezimmer ein paar gelbstichige Fotos aus Afrika hängen hatte, auf denen nackte Neger beiderlei Geschlechts und preußische Offiziere zu Pferde abgebildet waren. Das war in Soest, auch schon Westfalen.

"Mein Name ist Sommer", log Pufi, um seine neue Identität auszuprobieren, "Ed Sommer. Ich bin Colonel bei der amerikanischen Militärverwaltung, aber meine Vorfahren stammen aus Mayen."

Der Tierarzt hatte schmale Augen und tiefe Falten wie Risse im Gesicht, ein weißes Stoppelfeld auf dem langgestreckten Asketenschädel und trug eine Hawaikrawatte, die offensichtlich aus einem Care-Paket stammte.

"Wer schickt Sie, Mister?" sagte er scharf und musterte Pufis feinen Anzug. Das Jackett hatte spitze, hochgezogene Revers und zeigte die Naht eines Schneiders aus Buenos Aires.

"Sommer!" sagte Pufi. "Man hat mir gesagt, Sie würden vielleicht Ihren Wagen verkaufen." Er hatte den Anzug in Winterspelt von einem Chilenen namens Emilio Schuster erworben. Se-or Emilio suchte Arbeiter für seine Konservenfabrik an der Magellanstraße und beschäftigte bereits Deutsche, die sich in Darwins Land sicherer fühlten als in Trizonesien, wie zum Beispiel den Erfinder der fahrbaren Genickschußanlage mit verstellbarer Nackenstütze, der, als Don José verkleidet, in Punta Arenas jeden Tag fünf Zentner Schalentiere in kochendes Wasser schaufelte und araukanische Seehundsuppe in Dosen füllte.

Pufi vermittelte ihm ein paar tüchtige Männer mit eingebrannten Dienstnummern in der Achselhöhle, die bei den armen Bauern an der Grenze zu Belgien als Knechte schufteten und darauf warteten, bis der US-Geheimdienst und der Vatikan sie endlich nach Südamerika schleusten.

"Der Oberkellner im Alten Schweden schickt mich", sagte Pufi, ohne rot zu werden.

"Ich zahle bar. Dollars, Deutschmark, aber auch brasilianische Wertpapiere, wenn Sie wollen."

Es war klar, daß er am liebsten in brasilianischen Wertpapieren bezahlte, die er bei einem Drucker in Nippes nach eigenen Entwürfen herstellen ließ. Die Deutschen mißtrauten ihrer neuen Währung, konnten aber ein 25-Cent-Stück nicht von einem Token der New Yorker U-Bahn unterscheiden. Brasilianische Titel waren auch deshalb gefragt, weil dieses Land damals als kommende Wirtschafts- und Weltmacht galt. So ändern sich die Zeiten.

"So, so, aus Mayen", sagte Dr. Rathsack, nun schon etwas umgänglicher. "Wo die Nähmaschine erfunden wurde. Na, dann kommen Sie mal mit, junger Mann."

In seiner Garage hatte der Viehdoktor unter einer Zeltplane eine riesige Limousine stehen. Es war ein Wanderer, der einen verstaubten Eindruck machte, und der Doktor brauchte eine Weile, um den Wagen startklar zu machen und währenddessen zuckte ein widerspenstiger kleiner Muskel auf seiner linken Wange.

Wie es schien, haderte er mit sich selber, ob es wirklich ratsam war, den Wagen zu verkaufen, nachdem er ihn über alle Beschlagnahmeaktionen der Wehrmacht, der Amerikaner und später der Briten hinweggerettet hatte, und ob er nicht lieber mit dem Auto nach Afrika fahren sollte.

Mit entschuldigender Geste sagte er schließlich:

"Ich bin viel auf dem schwarzen Kontinent rumgekommen, müssen Sie wissen. Als ich so alt war wie Sie, Mister."

"O", sagte Pufi nobel, "und was haben Sie an der Wiege der Menschheit getrieben? Ich war in den späten Dreißigern eine Zeit lang Bergführer in Nairobi. Kennen Sie den Roman Schnee auf dem Kilimandscharo?"

Der Kuhdoktor schüttelte sein schneebedecktes Haupt.

"Ist von mir!" sagte Pufi bescheiden, und Rathsack pfiff anerkennend, denn er hatte, wie er nun in druckreifem Lesebuchstil berichtete, im Ersten Weltkrieg in Deutsch-Ostafrika unter Lettow-Vorbeck gegen eine erdrückende Übermacht aus Portugiesen, Belgiern und Engländern unter Jan Christiaan Smuts die Stellung gehalten.

Der Wagen schnurrte das erste Mal, fast eine halbe Minute lang, vibrierte sanft, um dann wieder in gravitätische Ruhe zu fallen, als eine große Schlanke mit einem schwarzen Dutt Brombeerblättertee und Brote mit Cervelatwurst brachte.

"Meine Frau, Laura", sagte der Tierarzt, wie man eine Trophäe präsentiert, wurde aber gleich wieder besinnlich, als sein Sternchen gegangen war.

"Ich weiß, was Sie jetzt denken. Wie kommt der alte Haudegen an so eine Schönheit? Aber glauben Sie mir, es ist kein Zuckerschlecken. Haben Sie eine alte Frau, haben Sie selber keinen Spaß, nehmen Sie sich eine Junge, haben die anderen auch welchen. Aber was will man machen?"

"Ja, was will man da machen?" bestätigte Mr. Sommer, der mit dem Problem kein Problem hatte, und betrachtete nachdenklich den Garten neben der Garage, in dem jetzt die ersten Beete bestellt wurden.

Die Dame des Hauses hielt das weiche bunte Kleid mit einer Hand zur Schürze gerafft. Sie entnahm der Schürze etwas und beugte sich herab, wobei sie nicht einen Zentimeter in die Knie ging. So hoch hielt sie das Kleid geschürzt und so tief beugte sie sich über das Frühbeet, daß der Colonel durch ihren Schritt hindurch die Wolken silbergrau leuchten sah und sich fragte, warum soviel Liebreiz nichts Besseres wußte, als für einen Kerl Radieschen zu züchten, der diese schon bald von unten anschauen konnte.

"Ich bin ja nicht eifersüchtig", hörte er den Tierarzt hinter sich sagen. "Das Dumme ist nur, sobald sie einen meiner Bauern dazu kriegt, mit ihr ins Bett zu gehen, kommt der nicht mehr zu mir, wenn seine Kuh kalben muß, sondern geht zur Konkurrenz."

"Aus welchem Stall stammt Ihre Gattin?" fragte Pufi höflich.

"Angeblich eine Kreolin aus Port au Prince", erwiderte der Viehpfuscher. "Ein britischer Offizier mußte sie hier zurücklassen, als er nach Kairo versetzt wurde."

Sie einigten sich auf zweitausend Dollar in brasilianischen Staatspapieren für den Wagen und fünfhundert neue Mark für eine Option auf die Kreolin, wenn Rathsack sie eines Tages nicht mehr brauchen sollte, und besiegelten diesen Teil des Geschäfts mit einem einverständlichen Blick auf die gespreizten Oberschenkel, durch die jetzt der Frühling sein blaues Band flattern ließ.

"Was machen Sie jetzt mit dem vielen Geld?" fragte Pufi, als er schon das rote Leder unter sich spürte und der Wagen wie eine Katze schnurrte. Der Alte zögerte. Er schien zu wissen, daß sich mit jedem Wunsch das Gewünschte von selber erledigt.

"Ich wünschte", sagte er, "ich könnte noch einmal an den Viktoria-See reisen, bevor der große Manitu mich heimholt, um den tapferen schwarzen Jungs, die damals an unserer Seite standen, meine Aufwartung zu machen. Hier in Soest hält mich nichts mehr. Am wenigsten die da."

Er sagte das, als hätte der britische Offizier ihm eine hübsche Stehlampe hinterlassen, für die es keine Glühbirne gab, und Pufi hatte den Eindruck, aus seinen Stirnfalten müßten jetzt wirklich ein oder zwei Hörner einer längst skelettierten Antilopenart zum Beispiel hervorwachsen.

Er wäre gern länger geblieben, stieg wieder aus, und nahm die zwei vollen Benzinkanister auch noch mit, die seit gut zehn Jahren in der Garage herumstanden. Er bezahlte sie ganz reell, und das war das einzige echte Geld, das Rathsack an diesem Tag in die Hände bekam. Dann sang wieder die Holperstraße unter dem Adler, der jetzt ein Wanderer war.

Gegen 18 Uhr kam der Kirchturm von Hofacker in Sicht. Auch er wirkte ungemein viereckig, mehr wie eine Burg, hatte jedoch etwas Komisches, da auf seiner Gipfelplatte ein kleines Fachwerkhaus stand.

Vor Pufi lag der Teich, in dem er im Sommer '32 fast ertrunken wäre. Er holte tief Luft, stieß das Gasgemisch jedoch rasch wieder aus und atmete flach. Von links, wo immer noch eine Abdeckerei stand, wehte der Duft verwesender Tierkadaver. Die Wirkung derartiger Stimulatoren kannte er bislang nur aus der schönen Literatur, denn er las viel, wenn er auf Reisen war.

Jetzt sollte er selber erfahren, was bei einer solchen Penetration der Nase passieren kann. Sein Gehirn machte einen lustigen Zeitsprung, und auf einmal war es wieder wie vor siebzehn Jahren. Er radelte schnurstracks ins Wasser, das einem Mann von dreiundzwanzig Jahren zwar nur bis zur Brust reichte, war jedoch zu besoffen, um aufzustehen und an Land zu gehen.

Sein Freund Etzel, Clara und ihr heimlicher Verlobter, Felix, standen am Ufer, amüsierten sich darüber, wie ihr Pausenclown mit Armen und Beinen strampelte, und ihr Gelächter hallte über den kleinen Teich. Schließlich erbarmte sich Etzels Bursche des albernen Nichtschwimmers, schnappte sich den einzigen Fischerkahn, hob den strampelnden Pufi aus dem Wasser, nahm ihn an den Haken und zog ihn an Land.

"Guter Albert Kramuschke, der keiner Fliege etwas zuleide tun konnte, wenn Etzel oder sein Vater Immo nicht den Befehl dazu gaben", dachte Pufi schon wieder diesseits der Zeitbarriere, sah aber den schlaksigen Etzel, dem er als Teufelchen gedient hatte, noch eine Weile über den Fahrradlenker gebeugt am Wasser stehn.

Graupelschauer fielen schräg, und heftiger Wind zuppelte an seinen Rockschößen. Das Wetter war schon wieder umgeschlagen.

"Ganze siebzehn Jährchen ist das erst her", sinnierte Pufi, "und goldene Zeiten waren das damals, bis ein Zeitgeist namens Deutschland erwache einer ganzen Generation leichtsinniger Tagträumer und Nichtsnutze eine Uniform verpaßte, ihr die Flausen aus- und sie in den Wahnsinn hineintrieb."

Der Colonel alias Pufi hörte sich böse schnaufen, aber es war dann doch nur der Wanderer, der sich langsam abkühlte. "Nun aber rasch in den Wagen und weiter. Gefühle sind schlecht für's Geschäft", murmelte er.

Als er den letzten Sandsteinrücken hinabrumpelte, stand über ihm mächtig die Stadtmauer von Hofacker - eine Art Schnürleib aus rotem, polygonalem Sandstein, in dem einige Wehrtürme steckten wie die Fischbeine im Korsett seiner Mutter.

Kurz vor der Ortsmitte von Hofacker, wo ein stark lädiertes Stadthaus stand, in dem sich die Einhorn-Apotheke befand, mußte er scharf bremsen. Von links nach rechts galoppierte eine Vierzentnersau über die Hauptstraße. An einem ihrer zukünftigen Eisbeine hing ein Kälberstrick, an dem sich eine aufgeschossene Jungfrau festhielt, etwa siebzehn, mit einem widerborstigen Schopf, der so unordentlich geschnitten und gekämmt war, daß ein amerikanischer Umerziehungsoffizier seine Freude daran gehabt hätte.

Es war Ida Schindehütte, die die elterliche Sau zum Gemeinde-Eber führte.

Der Colonel deutete auch das als ein gutes Zeichen und bedauerte lediglich, daß die Hast der Schweinehirtin ihn daran hinderte, sich über ihre Figur zu informieren. Es blieb ihm lediglich der knietiefe Schlabberrock, der beim Laufen hochgeworfen wurde, so daß Schlangenbeine in langen Strümpfen sichtbar wurden.

Er parkte den Wanderer dort, wo bis vor kurzem das ausgeweidete Wrack eines amerikanischen Panzers gestanden hatte, also auf dem Platz zwischen Schule, Rathaus, Kirche und der Nordhessischen Einkaufsstätte für jedermann. Die übermalte Schrift obendrüber hatte begonnen, durchzuschimmern, und da stand was anderes: Jul. Rosenberger sel. Witwe.

Sein alter Egon, wie er sein alter Ego zuweilen nannte, grinste ihn an, als er sich in Fräulein Pfeufers Schaufensterscheibe betrachtete:

"Naja, deshalb sind wir ja hier."

(Nächste Woche: "Zwei alte Männer im Kaffeehaus")