Dem Volk aufs Begehren schauen

Direkte Demokratie oder Mobilisierung von Ressentiments: Pro und Contra Plebiszit. Ein Streitgespräch

Jens Kuhlemann arbeitet bei Mehr Demokratie e.V. für die Einführung von Volksbegehren auf kommunaler Ebene in Berlin. Bis zum 31. Januar muß der Verein beim Berliner Senat 25 000 gültige Unterschriften vorlegen, um Antrag auf Eröffnung des Volksbegehrens zur Einführung von Volksbegehren stellen zu können; rund 2 000 fehlen noch. Weniger Schwierigkeiten mit dem Sammeln von Unterschriften hat die Union, die mit ihrer Kampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft nach eigenen Angaben längst die 100 000er-Grenze überschritten hat.

Dietl: Gut, daß es in Deutschland keine Volksbegehren gibt, denn sonst könnte die CSU/CDU das, was sie gerade gegen die doppelte Staatsbürgerschaft macht, als Volksbegehren machen. Und dann würde die doppelte Staatsbürgerschaft ganz bestimmt nicht kommen.

Kuhlemann: Sowohl Rot/Grün als auch CDU/CSU behaupten, sie wollen die hier lebenden Ausländer. Aber ob nun zwei Pässe der geeignete Weg sind, ist noch nicht richtig durchdiskutiert. Es wäre nicht redlich, wenn man jetzt so verfahren würde wie in den vergangenen 16 Jahren, als solche Unterschriftenaktionen gegen Regierungspolitik stets ignoriert wurden. Wenn die damaligen Oppositionsparteien, nur weil sie inzwischen an der Macht sind, jetzt das gleiche tun, ist das keine Stilverbesserung. Auf der anderen Seite muß man der Union vorhalten, daß sie zwar den Bürgerwillen mobilisieren will, den sie angeblich in der Bevölkerung sieht. Andererseits spricht sie sich noch immer gegen Volksentscheide aus. Das paßt nicht zusammen.

Dietl: Fänden Sie es denn besser, wenn sie gleich sagen würde, hier muß jetzt ein Volksentscheid her?

Kuhlemann: Ein wesentlicher Vorteil wäre, daß eine Volksgesetzgebung von Anfang bis Ende ein bis zwei Jahre dauert. Da bleibt reichlich Zeit, um zu diskutieren und um punktuelle emotionale Wallungen zu versachlichen. Würde dieses Verfahren auf die doppelte Staatsbürgerschaft Anwendung finden, wäre ein solcher Überraschungsangriff wie jetzt nicht möglich. Es ist doch absurd, wenn gerade jetzt gegen Volksentscheide agitiert wird und der Ruf erschallt: "Laßt lieber die Politiker machen, die sind rationaler." Es sind ja gerade die Politiker, denen viele in diesen Tagen Stimmungsmache vorwerfen.Da beißt sich die Katze in den Schwanz.

Dietl: Diese Unterschriftensammlung funktioniert ja nicht deswegen so gut, weil in der Bevölkerung Zweifel verbreitet sind, ob der Doppelpaß das geeignete Mittel zur Integration ist. Sie funktioniert deswegen so gut, weil die Leute, die da unterschreiben, den rassistischen Kern dieser Sache genau mitkriegen. Da können CDU und CSU noch so oft das Wort von der Integration bemühen; im Grunde sprechen sie diejenigen an, die für die Forderung "Ausländer raus" stehen. Und bei denen kommt das auch an.

Kuhlemann: Das kann man schon so sehen, aber diese inhaltliche Kritik läßt sich nicht an der Methode festmachen. Das sind zwei Paar Schuhe. Ich lehne ja auch nicht Parlamentswahlen ab, bloß weil dabei manchmal eine Regierung zustande kommt, die ich miserabel finde. Wenn jemand Volksentscheide nur gut findet, wenn er sie auch in der Sache gewinnt, so hat das weniger mit Demokratie zu tun als mit Opportunismus. Das geht zum einen an die Adresse von Edmund Stoiber, der eine Volksabstimmung zur doppelten Staatsbürgerschaft fordert, sie aber bei anderen Themen ablehnt. Zum anderen finden sich solche Tendenzen auch bei Joschka Fischer, der sagt: Jetzt laßt uns erstmal das rot-grüne Reformwerk retten. Und wenn wir das geschafft haben, können auch Volksentscheide kommen - weil die Grünen früher oder später sowieso wieder in der Opposition sind. Wer so vehement nur auf die Machtfrage guckt, der muß sich fragen, was eigentlich Demokratie ist. Die Idee ist nämlich immer noch die, daß die Politik die Meinung der Bevölkerungsmehrheit widerspiegeln soll.

Dietl: Egal, wie diese Meinung aussieht? Da ist mir ein pragmatischer Machtpolitiker wie Fischer gleich lieber; vielleicht auch deswegen, weil ich eher mißtrauisch bin, was von der Bevölkerungsmehrheit zu erwarten ist. Würden Volksentscheide auf Bundesebene eingeführt, so würde, befürchte ich, die gesamte Politik noch reaktionärer gestaltet, als das bisher der Fall ist. Ich gebe gern zu, daß ich da etwas gespalten bin: In der Theorie begrüße ich die Idee einer möglichst direkten Demokratie schon. Wenn ich mir allerdings die deutsche Wahlbürgerschaft anschaue, dann kriege ich doch wieder heftige Zweifel. Wenn politische Entscheidungen mörderische Auswirkungen haben, dann werden sie nicht dadurch besser, daß sie in einem Plebiszit beschlossen wurden.

Kuhlemann: Wie kommen Sie zu der Hoffnung, Politiker würden im gleichen Fall weniger "mörderisch" entscheiden?

Dietl: Als Hoffnung würde ich's nicht unbedingt bezeichnen. Aber in einer bürgerlichen Demokratie sind Politiker immerhin an gewisse internationale Standards gebunden. Würde die Bundesregierung heute beschließen, Asylbewerber ab sofort nur noch in Lagern mit Bewachung und Stacheldraht unterzubringen, dann würde sie damit international in die Isolation geraten. Würde das gleiche in einem Volksentscheid beschlossen, so könnte sie sagen: "Tut uns leid, unsere Verfassung ... Uns sind die Hände gebunden."

Kuhlemann: Das ist wieder dieses Gerücht, Volksbegehren könnten Dinge tun, die Parlamenten untersagt sind. Das stimmt nicht: Es findet bei Volksbegehren immer eine rechtliche Prüfung statt, und im Zweifelsfall entscheiden die Gerichte, ob ein Volksbegehren der Verfassung oder den Grundrechten widerspricht. Natürlich kann für einzelne bereits eine Grenze überschritten sein, wo ein Gericht sagt, das ist noch möglich. Das haben wir ja bei der Asylgesetzgebung gesehen. Aber in einer pluralistischen Gesellschaft gibt es nun mal verschiedene Ansichten darüber, was noch vertretbar ist. Natürlich treten da Konflikte zutage. Ich glaube, daß es so manche Volksbegehren geben wird - auch solche, die Erfolg haben werden -, die ich inhaltlich ablehne. Ich behalte mir sogar vor, im Sinne des zivilen Ungehorsams Protest gegen das Ergebnis von Volksentscheidungen zu erheben. Doch wer will, daß die Leute Verantwortung für die Politik übernehmen, damit sie selbstbestimmt leben, indem sie die Wahl haben, Ja oder Nein zu sagen, der muß auch dazu stehen, daß die Entscheidung von der Mehrheit getroffen wird.

Dietl: Auch wenn die Selbstbestimmung darin besteht, daß man über andere bestimmt? Konkret: Angenommen, Ihre Initiative für die Einführung von Volksbegehren in Berlin hätte Erfolg. Dann könnte man sich gut vorstellen, daß es mit Unterstützung der CDU bald ein Volksbegehren "Ausländerstopp für Bezirke mit mehr als 15 Prozent Ausländeranteil" gibt. Die meisten Stimmen würde man dafür sicherlich in den Bezirken erhalten, wo heute schon kein Ausländer mehr seinen Fuß hinsetzen kann, ohne um sein Leben zu fürchten.

Kuhlemann: Bürger können auch sehr unsolidarisch sein, vor allem, wenn der Kreis der Betroffenen relativ klein ist. Die Bevölkerung eines Bezirks wird sich eher gegen Asylbewerberheime in unmittelbarer Nachbarschaft erheben als die Gesamtbevölkerung Berlins. Dies ist durchaus ein Problem, das sehe ich auch. Ich bleibe aber dabei: Methode und Ergebnis müssen voneinander getrennt werden. Man kann nicht sagen, die Leute sind bestimmt für ausländerfeindliche Volksbegehren zu haben, deswegen lassen wir sie nicht zu Wort kommen. So, als gäbe es das Problem nicht mehr, sobald das Sprachrohr weg ist. Entscheidend ist aber das Gedankengut in den Köpfen. Wenn ausländerfeindliche Gruppen keine Volksbegehren starten können, dann werden sie diese Thematik eben in die Parteien hineintragen. Und die Parteien werden sich mal mehr, mal weniger aufgeschlossen dafür zeigen, denn ihr Machterhalt ist ja abhängig von den Stimmen, die sie bei den Wahlen bekommen. Trotzdem würde wegen dieser Beeinflußbarkeit niemand generell die Institution Partei ablehnen. Was wir brauchen, ist eine offene Debatte darüber, warum viele Menschen Schwierigkeiten mit Ausländern in ihrer Nähe haben.

Dietl: Die Debatte über die Ursachen von Rassismus gibt es doch schon seit Jahren. Wer sich am wenigsten dafür interessiert, das sind die Rassisten selbst. Therapie durch öffentlichen Diskurs können Sie also vergessen. Und was die Parteien betrifft: Die Rechtsradikalen, die den Rassismus monothematisch vertreten, haben das Manko, daß sie ansonsten kaum politische Angebote zu machen haben; deswegen kommen sie bei Wahlen nie über das Milieu der besessenen Rassisten hinaus. Diejenigen, die Rassismus in abgeschwächter Form mit einem realistischen Politik-Angebot vermischen, kommen damit immer wieder an die Regierung. Beides wird man durch direkte Demokratie nicht verhindern können. Ganz im Gegenteil: Wenn man den Rassismus als isoliertes Politikangebot herauslöst, dann macht man es damit denjenigen Rassisten, die bislang aus Gründen der Solidität bürgerliche Parteien gewählt haben, leichter, solchen Positionen zuzustimmen. Man schafft damit ein Kollektiv, das abstimmen kann über all jene, die nicht abstimmen können. Da kippt die von Ihnen eben angesprochene Unsolidarität sehr schnell um zum blanken Rassismus.

Kuhlemann: Da wir in Deutschland fast keine Erfahrungen mit Volksentscheiden gemacht haben, kann ich diese Befürchtung weder unterstreichen noch entkräften. Andererseits liegt der Ausländeranteil in der Schweiz seit langem höher als bei uns. Die direkte Demokratie hat in diesem vermeintlich bürgerlichen Land also zu keinem Anwachsen der Ausländerfeindlichkeit geführt. Bei all dem gilt grundsätzlich, daß Menschenrechte - auch solche für ausländische Mitbürger - das Papier nicht wert sind, auf dem sie geschrieben stehen, wenn es niemanden gibt, der diese Werte mit Leben füllt. Dabei spielt es überhaupt keine Rolle, ob einer Demokratie, Parteien oder Volksabstimmungen als Instrumente zur Verfügung stehen.

Dietl: Selbst die EU-Ausländer könnten nur über den Teil ihrer Lebenswelt abstimmen, den sie mit den Deutschen teilen. All das, was sie administrativ von den Deutschen unterscheidet, werden sie auch mit direkter Demokratie nicht ändern können. Aber die Mehrheit z. B. der in Berlin lebenden Ausländer kommt nicht aus EU-Ländern, könnte also überhaupt nicht abstimmen. Die werden sich für Ihr Volksbegehren höchstens insofern interessieren, als die Deutschen über sie abstimmen können: etwa über die Ansiedlung von Asylbewerberwohnheimen, über Gutscheinsysteme oder Zuzugsstopps für bestimmte Gegenden. Das sind doch Sachen, die in der Bevölkerung eine ziemlich große Zustimmung finden.

Kuhlemann: Migranten, die seit Jahren in Berlin leben, interessieren sich sehr wohl für die Politik in dieser Stadt und wollen diese auch aktiv mitgestalten. Das hat sich zuletzt bei der Volksinitiative gegen den Transrapid gezeigt, die viele hier lebende Ausländer unterzeichnet haben, was rechtlich auch möglich ist. Im übrigen wissen wir nicht, ob die wahlberechtigten Berliner wirklich jedes Volksbegehren gegen Ausländer mittragen würden. Wir sollten nicht vergessen, daß es wie bei der Änderung der Asylgesetze durch den Bundestag immer auch starke Gegenbewegungen gibt. Diesen räume ich vor Volksabstimmungen durchaus Chancen ein, Mehrheiten zu überzeugen.

Dietl: 35 000 Unterschriften allein am ersten Tag in Hessen, 10 000 in Berlin. Für Sie als fast schon professionelle Unterschriftensammler müssen das doch eindrucksvolle Zahlen sein.

Kuhlemann: Das ist in der Tat sehr viel und zeigt, daß da bei so manchem Bürger erheblicher Gesprächsbedarf besteht. Im übrigen gibt es den auch bei den Befürwortern des Doppelpasses. Die fangen jetzt nämlich an, ebenfalls Unterschriften zu sammeln, und zwar gegen die CDU-Aktion.