Neugier in Graz

Auf dem "Festival des Österreichischen Films" finden die Filme den größten Beifall, vor denen man in Deutschland davonläuft: Dokumentationen

In Graz, Hauptstadt der Steiermark, ging gerade das "Festival des Österreichischen Films" zu Ende, die Spielfilme, zumeist abgeschoben ins kleinste Kino, können wir vergessen, aber festhalten wollen wir, daß das jugendliche Publikum genau in die Filme strömte, vor denen das deutsche wegläuft: die mit dem Label "Avantgarde" oder "Dokumentar".

Vielleicht ist es so, daß alles, was nicht Spielfilm ist, Lockeres verspricht. Die Begriffe sind dort anders besetzt, Avantgarde hat zumindest in der Steiermark was mit Musik und Video zu tun, die Kompilation "Austrian Abstracts" (61 Minuten) versammelte österreichische Clips, die von MTV- oder Viva-Professionalität nichts wissen wollen. Mit dem bekannten Konsumieren hatte das wenig gemein, wer im Kino war, wurde überrascht.

Noch schnell eine Minipolemik zum langen Spielfilm. Hier bekamen Neugierige was auf die Nase. Es wurden bekannte Stoffe vermittelt, die bekannten Schauspieler stellten sich auf die bekannte Art zur Schau - das war von den Fördergremien abgesegnet, von Professionellen produziert, für den Konsum der vorgesehenen Zielgruppen bestimmt, und die waren in Graz irgendwie nicht da. Statt dessen wurde ein Spielfilm wie "Untersuchungen an Mädeln" bei der Uraufführung ausgebuht, obwohl die Zutaten stimmten. Aber die Produktion war eben nur die Pflichtübung für die Bewilligung der Fördergelder (Staat, Fernsehen), der Beleg fürs korrekte Treatment (Literatur: Österreichs Großliterat Albert Drach; Schauspieler mit Namen: Anna Thalbach, Otto Sander; Peter Payer, vorgestellt als Regisseur für Fernsehen, Werbung und Kino, in dieser Reihenfolge).

Für den ersten langen Dokumentarfilm war dann das Opernhaus gerade gut genug; die Leinwand so groß, wie es nur ging; der Ton bis zum Anschlag ausgesteuert, und dann: "Frankreich, wir kommen!", Spielfilmformat, Uraufführung, ein Fußball-Drama in drei Akten, die österreichische Nationalmannschaft spielt zum Abschied gegen Liechtenstein 6:0, dann bricht sie zur WM nach Frankreich auf. Und was sehen wir? Den Fan Roland Spöttling, dick, gut gelaunt, sympathisch, allerdings blind. Darum erzählen ihm zwei Freunde das Spiel. Im offiziellen Dress spielt er inoffiziell selbst Fußball. Neben dem System. Den Ball trifft er eigentlich niemals. Wieder daneben! Er lacht. Er repräsentiert keine Betroffenengruppe. Ich muß mir keine repräsentativen Gedanken machen.

"Frankreich, wir kommen!" von Michael Glawogger macht den Blinden zur Hauptperson. Oder Mutter Erber und Sohn Gérard, ein Bank-Revisor - Fans, die sich jedes Spiel der Nationalmannschaft angucken - oder Frau Lauring, die ihre Supermarktkasse verläßt, um zu Hause inmitten der Großfamilie vor dem Fernseher zu hocken. Wir sehen zwar auch das Spiel, aber fokussiert wird auf die Tribüne, und da sitzen Zuschauer genauso wie im Kino, das jetzt die Oper ist, mit anderen Worten: Rezipienten des Fußballspiels treffen auf Rezipienten des Lichtspiels, aufgewertet diese wie jene.

Zeit, zu einer These zu kommen, um das Geheimnis des funktionierenden österreichischen Dokumentarfilms zu lüften: Der Zuschauer, der auf ein- und dieselbe Stufe mit dem Protagonisten gestellt wird, ist sozusagen Koproduzent des Veranstaltungsereignisses Kino- (Opern-, Fußball-) Aufführung. Die definitive Kontextualisierung des Films (Spiels) wird ihm überlassen (mein Lieblingssatz). Der Positionswechsel ist aufregend, aber gefährlich, denn die Rezeption kann jetzt vom Spielleiter nicht allein verantwortet (gesteuert) werden. Es fehlt in "Frankreich, wir kommen!" der imperative und korrigierende Off-Kommentar ebenso wie die dezidierte Botschaft. Im Dialog fallen keine Merksätze. Und um die rechte Stoffvermittlung ging es eh nicht.

Wir müssen über das, was in der Rezeption passiert, eventuell die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. "Sport ist ja der letzte Lebensbereich, in dem wir uns öffentlich nationalistisch verhalten können", kommentierte Michael Glawogger seinen Film in der Extraausgabe der Zeitschrift blimp zum Festival. Also schlagen wir die Hände über dem Kopf zusammen. Wir tun es einfach. Dann ist es passiert, wenn auch nur, abermals eventuell, virtuell. Dann haben wir nicht etwa hinterher einen Zeigefingerhinweis abgenickt, sondern es selbst erlebt, wenn es geschieht, daß die Sprüche fallen, ohne Widerwort und Abmahnung.

Wir gelangen ins lockere Reich der Poesie und Künste, also in die verdächtige Zone der Viel- und Mehrdeutigkeit, wie es blumige Bilder und hübsche Sprechblasen an sich haben. Aber es ging in unserem Film alles gut. Im Viertelfinale schmissen die Kroaten die Deutschen aus der WM, die Österreicher waren eh raus. Wie mag es aber in anderen dieser Dokumentarfilme ausgehen? Meine Thesen bedürfen der Erhärtung.

In "Models" stellt Ulrich Seidl Lisa Grossmann vor sowie Tanja Petrovsky, Vivian Bartsch und Elvyra Geyer. Wieder verlagert der Film die Schärfe vom Spielfeld weg. Die Kamera nimmt die Position des Zuschauers ein, der in der ersten Reihe sitzt. Die Frauen spielen auf der Bühne etwas, was nicht ihre Profession ist, nämlich sich selbst. Im Tableau erleben wir die Amateur-Seite der Profis, das bringt sie uns Amateuren nahe. Und es funktioniert: Darsteller und Zuschauer schauen sich gegenseitig in die Augen.

In "Pripyat" läuft das Miniteam von Nikolaus Geyrhalter hinter dem Ingenieur her, quer über die Brennstäbe des funktionierenden Blocks im Kernkraftwerk Tschernobyl. Der Ingenieur zeigt auf den Boden, es dampft aus einem Fach, "der Brennstab muß ausgetauscht werden", merkt er an, dann zeigt er nach oben, auf den funktionierenden Brennstabaustauschkran, und merkt an, daß er die letzten Monate kein Geld bekommen hat, aber die Kantine ist o.k., er lacht, jung, sympathisch. Die Kamera ist die ganze Zeit nicht von seinem Gesicht gewichen, wir sind, cineastisch gesprochen, in einer der langen Plansequenzen, den Kran haben wir nicht gezeigt bekommen, der Schwenk darauf hätte das mißachtet, auf das der Film fokussiert: das Gesicht, die Präsenz des Menschen, der Ingenieur von Beruf ist.

Das alte Mütterchen, das kaum geduldet in der Sperrzone lebt und das Team (nicht im Bild!) mit frisch gebratenen Pilzen verköstigt, der Mann vom Sicherheitsdienst, der die ausgemusterten, verseuchten Lkws bewacht - die Nebenfiguren von "Pripyat" werden von der Kamera respektvoll als Großschauspieler, als Stars behandelt.

"Pripyat", schwarz-weiß. Das ist eine poetische Entscheidung. Wir sind, genau wie in "Models" in einem Dokumentarfilm, der auch wieder keiner ist. Wir sind in einer Inszenierung, die uns die Klischees der TV-Dokumentationen ebenso vergessen läßt wie die vorgefundenen Meinungen. Wir wissen nicht recht, was wir dazu zu sagen haben. Positiv formuliert: Geyrhalter räumt sowohl dem Rezipienten wie seinen azentrischen Helden Freiraum ein. Human das, dankeschön.

Hinzuzufügen ist, daß Nikolaus Geyrhalter, 26 Jahre, Glück gehabt hat. Da in der Ukraine Presse und Film inkompatible Dinge sind, trat er als Filmregisseur auf. Der obligatorische Pressebegleiter wurde ihm daher nicht an die Seite gestellt. Den Auftrag holte er sich von der Kommission für Tschernobylfragen des ukrainischen Parlaments, das sich aus gesicherter Entfernung einen eigenen Eindruck von der Zone verschaffen wollte. Abzuliefern brauchte der Regisseur den Film jedoch nicht, die Kommission hat sich inzwischen aufgelöst.

Das Glück hat aber auch System, wenn man weiß, daß bei uns die Fördergremien beim Dokumentarfilm des festen Weltbildes entraten. Beim Spielfilm redet jeder mit. Für Dokumentarfilme gibt es dagegen weitaus weniger Vorgaben. Also zugreifen: im Dokfilm-Genre, so sehr es sich auch mit anderen mischt, gibt es Lockerheiten. Innovation ist möglich. Die Filme, von denen wir hier sprechen, laufen in Österreich im Kino.

"Pripyat" wurde aus dem Innovationsfonds des österreichischen Film/Fernseh-Abkommens finanziert - und aus den Referenzmitteln für Geyrhalters Film von 1997 ("Das Jahr nach Dayton"). "Pripyat" bekam in Graz den Großen Diagonale-Preis für den besten österreichischen Kinofilm des Jahres 1998/99. Konkurriert hatten auch Spielfilme. Aber, daß es der botschaftslose Dokumentarfilm ist, der etwas in Bewegung bringt, das ist die Botschaft, die ich aus Graz mitbringe.