Lizenz zum Underground

Seit 12 Jahren Avantgarde - Das New Yorker Jazzfestival der Knitting Factory versucht, seine Monopolstellung zu verteidigen

Wenn in alpenländischen Zwergstädten wie Saalfelden oder Nickelsdorf das jährliche Jazzfestival ansteht, herrscht kirmesartiger Ausnahmezustand. Die lokale Gastronomie rekrutiert gegen großzügige Taschengeldaufbesserung junge Hilfskräfte. Stadtverwaltung, Fremdenverkehrsverband und das öffentliche Nahverkehrssystem üben im Dienst der guten Sache den Schulterschluß und spannen ein solides Netz von Übernachtungs- und Fortbewegungsmöglichkeiten für Künstler, Gäste und Presse.

In New York ist das etwas anders. Zwei Blocks von der Knitting Factory entfernt weiß kein Mensch etwas von einem Jazzfestival, die Versicherung eines Taxifahrers, über die Lage des zentralen Veranstaltungsortes im Bilde zu sein, entpuppt sich als gefährliches Halbwissen, und überhaupt regieren im öffentlichen Bewußtsein die New York Knicks, die wieder einmal die final play-offs ansteuern - weswegen vor dem Madison Square Garden nächtens ein gigantisches Logo auf die Straße gemalt wird, ohne daß ein Mensch sich über den Verkehrsstillstand aufzuregen scheint.

Nur im Knitting Factory-Büro herrscht, dank eines Heeres Ehrenamtlicher, die hypergeschäftige Chaos-Atmosphäre, die bei einem Programm von über 150 quer über den Süden Manhattans verteilten Konzerten zu erwarten ist. Das nötige Geld kommt dabei selbstverständlich nicht von der Stadtverwaltung, sondern von potenten Sponsoren, in diesem Fall dem führenden Telefonzellenaufsteller Bell Atlantic.

Erstaunlich, wo doch Jazz im Kultursponsoring weit abgeschlagen hinter Rockmusik, Klassik, Rave-Aufmärschen und Fernerliefen einen überaus marginalen Platz einnimmt, da die Zielgruppe bekanntermaßen aus geizigen, tendenziell ärmlichen Konsumgegnern mit hohem Intellektualisierungsgrad besteht. (Oder doch nicht? Oder gibt es in der Chefetage von Bell Atlantic ganz einfach einen Fan?)

Da alle Veranstaltungen nahezu gleichzeitig stattfinden, fällt am zweiten Abend des Festivals die Entscheidung schwer. Wir lassen im Dienste der ausgewogenen Berichterstattung die coolen Leute mit DJ Spooky und Jimi Tenor unter sich, um auch über die Konzerte im Bilde zu sein, die von vornherein als uncool konzipiert sind. Es war ein Fehler zu glauben, daß Jazzkonzerte in New York auch eine Dreiviertelstunde später beginnen als angekündigt, und so weist uns die Mag-Lite der Platzanweiserin der Town Hall erst auf unsere Plätze, als das Trio Vibes um Bill Ware bereits in der letzten Nummer steckt.

Zwei oberlippenbärtige Versionen von Beavis & Butthead machen giggelnd Platz, derweil erscheinen auf der Bühne überraschend zwei Tap-Dancer und gestalten mit Bill Ware und seinen Leuten das Finale. Und schon wird abgebaut. Zugaben gibt es - wie Beavis & Butthead frohlockend kommentieren - in den USA nicht, speziell nicht für supporting acts. Denn Hauptattraktion dieses 40 Dollar-Abends ist der seichte Saxophonist Grover Washington, worüber sich - wir ahnten es bereits - der Repräsentant von Bell Atlantic, ein erstaunlich flotter Vertreter des aufstrebenden schwarzen Mittelstandes, wortreich freut, bevor er die Bühne für die langweiligste Musik der Welt freimacht. Während Knitting Factory-Chef Michael Dorf sich angesichts dieses Zugeständnisses an seine Sponsoren leise gruselt, leisten wir den viel lustigeren Vibes dabei Gesellschaft, wie sie backstage Grover-Hits mitsingen und das Buffet abdecken.

Um die Nacht abzurunden, kehren wir nochmal in die Knitting Factory zurück, um den SexMob zu sehen, eine Kapelle, die hochvirtuos plakativ-schlitzohrige Versionen von Popnummern wie "Macarena" und "Sign o'the Times" dahinbrät. (Damit findet eine postmodern-crossovernde Entwicklung ihren vorläufigen Abschluß, für die man wohl unter anderem John Lurie verantwortlich machen muß.)

Der Leader Steve Bernstein entpuppt sich dabei als Schlauchen, das mit einer Mischung aus eitler und zugleich sympathischer Attitüde seine Band in Harald Schmidt/Helmut Zerlett-Manier durchs Programm dirigiert und so geschickt darüber hinwegtäuscht, daß seine Musiker, seine Arrangements und sein Instrument, eine als Trompete getarnte Posaune (sogenannte Slide-Trompete), mehr hermachen als seine Fähigkeiten als Blechbläser. Zudem legt das Konzert nahe, daß ziemlich alles hier etwas zweischneidig ist.

Allem voran die Knitting Factory selber. Seit zwölf Jahren bietet sie der New Yorker Avantgarde-Szene Raum zur Entfaltung. Auf drei Stockwerken gibt es an jedem Tag der Woche Konzerte, ungeachtet irgendwelcher stilistischer Beschränkungen. Dazu gehört außerdem die Plattenfirma mit einem umfangreichen Katalog von kommerziell eigentlich chancenlosen Produktionen sowie Kramers assoziiertes Label Shimmy Disc. Bilderbuch-Underground also, möchte man meinen.

Dennoch mehren sich Richtung Uptown die Stimmen, die von der Traditionseinrichtung nur als Shitting Factory sprechen, die notorisch kaputten Monitorboxen bemängeln, sowie die Bevorzugung "großer" Namen gegenüber der lokalen Szene - und damit vor allem die Gagen meinen. So wird regelmäßig einige Mühe darauf verwendet, Gegenfestivals zu veranstalten, die Factory zu boykottieren bzw. überhaupt einen Ort zu finden, der das Monopol des Hauses brechen könnte.

John Zorn, der in den Achtzigern das Image der Knitting Factory entscheidend mitprägte, hat gemeinsam mit Gleichgesinnten in der gerade den Friedrichshain-Effekt durchlaufenden Lower East Side mit dem "Tonic" einen Alternativclub aufgebaut. Mittlerweile verfügt dieser auch über etwas, was speziell während der gerade hereinbrechenden ersten Hitzewelle des Jahres fast genauso begehrt ist wie eine Klimaanlage: die Lizenz zum Alkoholausschank.

Die Knitting Factory hat derartigen Bürokratie- und Reputationskram schon lange hinter sich und ist in die nächste Phase eingetreten: Im kommenden Jahr soll eine Außenstelle in Berlin entstehen, weswegen in diesem Jahr auch fünf Berliner Bands zum Festival eingeladen wurden. Teilgenommen haben, nachdem das Goethe-Institut unfeinerweise seine Zusage zur Finanzierung der Flüge zurückgezogen hatte, nur Shank und Der Rote Bereich.

Beide taten ihr Möglichstes, das in der Pause vom großen Saal ins Old Office heruntersickernde Publikum zu beeindrucken: Shank, die mit tribalistischem Improvisationsfunk zwei dynamische Sets bestritten hatten und erfahren mußten, daß das New Yorker Publikum mit Aufmerksamkeit und Enthusiasmus sparsam umgeht - was nicht gleichbedeutend mit Mißachtung ist. Der Abend galt im Haus als Erfolg, ebenso wie das am nächsten Tag folgende Konzert von Roter Bereich. Die Musiker entwickelten unter Erfolgsdruck eine auf dem Festival eher rare Energie, während die lokalen Bands, von denen einige - Festival hin oder her - vermutlich für dieses Wochenende ohnehin gebucht gewesen waren, zum Teil recht routiniert an die Arbeit gingen.

Ausnahmen waren im Dickicht der Termine nur mit Mühe zu finden, zumal die Konzerte schon mal eine halbe Nahverkehrsstunde auseinanderliegen können. Auf diese Weise kam John Zorn darum herum, die von ihm nach wie vor nicht unbedingt hochgeschätzten Räumlichkeiten betreten zu müssen, ohne deshalb auf eine Teilnahme zu verzichten. Seine mittlerweile seit fünf Jahren effektive Band Masada in der Angel Orensaz Foundation, einer alten Synagoge in der Norfolk Street, spielte magischen Klezmer-trifft-Ornette-Coleman-Jazz, den es in Schlecht einfach nicht zu geben scheint.

Gemeinsam mit Bill Laswell, Fred Frith und dem Drummer Dave Lombardo, wurde er kurz darauf Opfer einer weiteren Expansionspolitik der Knitting Factory: Da Acts wie die schwer angesagten Medeski Martin & Wood mittlerweile weit mehr Publikum ziehen als der Mainspace der Knitting Factory fassen kann, wurde an der Südseite Manhattans das South St. Seaport Atrium erschlossen, eine Kreuzung aus Hafenmuseum und Einkaufsmeile. Was ökonomisch vielleicht prima aufging, blieb ästhetisch aber, trotz malerischem Blick auf die Brooklyn Bridge, irgendwo zwischen Grüner Woche und Deutschlandhalle stecken. Im Falle der Band um Laswell und Frith kam zu allem Unheil ein Tonmix dazu, der die Existenz von so etwas wie Baß schlicht und einfach leugnete, beim Dubbass-Experten Laswell ein Ereignis von außerordentlicher Tragik. Das Publikum rockte dennoch wie bescheuert.

Die Knitting Factory, das wird in der Politik des Festivals deutlich, bemüht sich, nach all den Jahren mehr zu ernten als immer nur Anerkennung. Der Versuch, das künstlerische Kapital dieser Stadt in bare Münze umzuwandeln, scheint aber an der Musik selbst zu scheitern: Ein Konzert vor zehn Leuten in einem Buch- und Körnerfresserfrühstücksladen, wie das des Briggan-Krauss-Trios, setzte mitunter mehr Energien frei als die Anstrengungen der institutionalisierten Hauptacts - das zu beobachten war manchmal schmerzhaft, zeigt aber auch viele Chancen für die nächsten Jahre auf.