Wie man aus einer Badehose einen Anzug macht

... und warum Tippi Hedren sich von Möwen beißen läßt: 100 Jahre Hitchcock.

Jesuitische Erziehung im puritanischen England! Das reichte noch dem Vierzigjährigen: Hoch oben auf dem Turm hinter sich plötzlich eine Nonne sehen und runterspringen, das ist eins ("Vertigo", 1958). Wer sprang, war allerdings nicht Hitchcock, sondern Kim Novak, denn auf die Frauen hatte er seine Imaginationen gerichtet, während er selbst stets im sicheren Versteck blieb. Hinter der Kamera.

In "Bei Anruf Mord" (1954) hatte er in den Set einen Graben bauen lassen, damit die Kamera auf der Höhe des Fußbodens war. Im Versteck. Das war die Position der Untersicht: eine Kamera-Perspektive, durch die er berühmt wurde. Schon in den dreißiger Jahren setzte Hitchcock im populären Spielfilm damit auch den Blickwinkel der Subjektive durch. Der Zuschauer sitzt nicht mehr im Kino, sondern im Graben, Voyeur auch wider Willen.

Für Cocky - den Spitznamen hatte er in seiner Schulzeit weg - war die Zelle der Polizeiwache das erste Versteck. Bange Erwartung einerseits. Andererseits Erniedrigung und Schmach, denn Strafe sollte sein. Vater Hitchcock schickte den kleinen Alfred gern aufs nächste Revier - mit einem Brief, in dem er bat, den ungezogenen Sprößling in eine Zelle zu stecken. Dort war er sicher, allein. Der Platz, sich was auszudenken. Verwirklicht wurden die bizarren Phantasien Jahrzehnte später, und er wurde geliebt von den Zuschauern im dunklen Kino, die wie der Meister selbst ein affirmatives Verhältnis zu den Institutionen struktureller Gewalt pflegten, weil es die Verstöße waren, die Lustgewinn verhießen.

Bang und erwartungsvoll sah man zu, wie "Tippi" Hedren von den Vögeln der "Vögel" (1963) gehackt wurde. Warum lief sie nicht weg? Zu ahnen war, was nicht zu sehen war. Die Plastikfesseln, die die Hauptdarstellerin am Boden hielten, waren wirkungsvoll, aber im Bild unsichtbar. Hitchcock band außerdem an ihrem Kleid mit Nylonfäden aggressive wilde Krähen und Möwen fest, und dann wurde gepickt. Ein Vogel versuchte, in ihr linkes Auge einzudringen. Die Wunde verheilte schlecht. Auf dem unteren Lid blieb eine Narbe zurück. Hedren erlitt einen hysterischen Zusammenbruch, und Hitchcock hatte seine Bilder.

Der Zeitgenosse empfand sehr wohl, daß beim Mord in der "Psycho"-Dusche das Messer den Phallus vertrat, zu sehr war die Szene als Vergewaltigung angelegt. Daß der Zuschauer sich seinen eigenen zensurfreien Text machte, gerade darauf hatte es der Regisseur abgesehen. Schon in "Vertigo" (1958) hatte er es eingeübt, Kim Novak, die das offene Haar hinten hochnimmt, als eine zu sehen, die sich den Slip auszieht.

Hitchcock: "Die Szene, die meinen Vorstellungen (der Bloßstellung) am genauesten entspricht, ist die, nachdem sich das Mädchen wieder hat blondieren lassen. James Stewart ist immer noch nicht ganz zufrieden, weil sie das Haar hinten nicht hochgenommen hat. Was heißt das? Das heißt, fast steht sie nackt vor ihm, sie braucht nur noch den Slip auszuziehen. James Stewart verlegt sich aufs Bitten, und sie sagt: 'Gut, ich mach's schon' und geht ins Bad zurück. James Stewart wartet. Er wartet darauf, daß sie diesmal nackt zurückkommt, bereit zur Liebe."

Das Bild selbst ist eindeutig, unschwülstig, klar. Wer sich erhitzt, ist der Zuschauer. Was ist zu sagen, wenn sich in der Kuß-Szene von "Spellbound" (1945) eine Flucht von Türen öffnet? Nichts, auch nicht für die Sitte vom damals so gefürchteten Hays' Office. Hitchcock über "Spellbound": "Sonst war es bei Traumszenen im Film immer üblich gewesen, mit Bühnennebel und Weichzeichner zu arbeiten. Ich wollte es anders versuchen. Die Träume sollten in absolut klaren, harten Bildern realisiert werden, kontrastreicher als die übrigen Szenen des Films. Ben Hecht und ich kamen auf die Idee, daß Salvador Dal' mit seiner gestochenen Schärfe, den langen Schatten, den endlosen Horizonten und den perspektivischen Fluchtlinien genau der Richtige dafür sei."

Er war der Richtige. Wieder hatte Hitchcock, noch im Zweiten Weltkrieg, etwas aus Europa in das doch sonst so geschlossene amerikanische Filmproduktionssystem implantiert. Dem Zuschauer, gewohnt, Reaktionen vorgesetzt zu bekommen, bleibt in der Dal'-Sequenz nichts anderes, als selbst zu reagieren. Hitchcock brachte in die USA eine andere Neuerung mit: Er setzte in emotionalen Szenen mehrere Kameras gleichzeitig ein, um die Reaktionen der Darsteller aufeinander zu filmen: Dokumente des Spiels. Das war konträr zur Methode, nacheinander von derselben Szene Bilder diversen Formats aufzunehmen, um hinterher am einsamen Schneidetisch darauf zu reagieren. Experimentelle Neuerungen im kommerziellen System - aber bedenklicher noch Hitchcocks Verstoß gegen die saubere Trennung von Gut und Böse.

Für den American Way of Life war das schon heftig, daß Hitchcock 1943 in seinem Propagandapflichtfilm "Lifeboat" schiffbrüchige Nazis gleichzeitig mit Überlebenden des von ihnen versenkten Dampfers in einem Rettungsboot versammelt - und darin 97 Minuten lang beläßt. "We have got a Führer", sagt ein US-Bürger sarkastisch, als sich herausstellt, daß der Nazi als einziger navigieren kann. Ein Faszinosum, das Hitchcock als eine der möglichen Perspektiven beschreibt: "Man soll nicht urteilen, denn Gelegenheit und Umstände geben jedem einen guten Grund, auf die eine oder andere Weise zu handeln. Ich zeige in meinen Filmen sympathische und intelligente Bösewichter und verführerische Mörder, denn genauso so sind sie im Leben, nicht wahr? Dagegen sind die anständigen Leute oft reichlich miese Typen, sie haben den Anschein und nicht nur den gegen sich." Soweit Hitchcock zu "Lifeboat", das unversehens Propaganda in eigener Sache macht.

Hitchcock spricht deutsch. In "Psycho" (1961) hört man ihn auf der Tonspur den Zuschauer bitten, nicht weiterzusagen, wer der verführerische Mörder resp. Vergewaltiger ist. 1924/25 war er in Neubabelsberg gewesen, zur Stummfilmzeit, fasziniert von deutschen Filmexpressionisten, von verführerischen Vampiren, von "Nosferatu": von Friedrich Wilhelm Murnau. Das Berlin der zwanziger Jahre blieb nicht ohne Einfluß auf den jungen Mann in der Zwanzigern, der vier Jahre vorher seine Karriere als Zwischentitelgrafiker für die britische Tochter von Famous Players-Lasky begonnen hatte.

Das war ein Jahr nach dem Ersten Weltkrieg gewesen; ein Jahr vor dem Zweiten Weltkrieg wurde er dann vom US-Großproduzenten David O. Selznick engagiert. Er verließ London, und was hatte er dann für eine Botschaft in den folgenden Jahren? Was hatte Hitchcock im Kopf? Einen Krämerladen, nichts Heroisches, nichts Pathetisches, am besten einen Original-Set wie 1943 das Städtchen Santa Rosa in "Shadow of a Doubt" (das war auch eine seiner europäischen Neuerungen: wenn's geht, raus aus dem Studio), war das die Botschaft? Hitchcock: "Ein Mord in einem Irrenhaus ist viel weniger aufregend als ein Mord in einem Gemüseladen." Gut, und wie wird daraus ein Film? "Zuerst eine lebhaft bewegte Einleitung, die dann in etwas Geschlosseneres, Intimeres übergeht; dann gegen die Mitte zu etwa eine große Jagd oder ein anderes Abenteuer und zum Schluß kommt der große Höhepunkt oder eine unerwartete Wendung. Ein solches ungefähres Schema hat man zuerst im Kopf, und dann muß man eine dazu passende Handlung finden."

Das sagte Hitchcock in einer Zeit, in der die Leute, die jung waren, zum Filmkommerz auf Konfrontationskurs gingen. Kenneth Anger, drehte "Fireworks" (1947) als Siebzehnjähriger; mit Daddys wie Hitchcock mochten er und seine Freunde vom New American Cinema nichts zu tun haben. Aber Kenneth Anger trug, als er älter war, in seinem Buch "Hollywood Babylon" Hitchcock-Anekdoten zusammen; die Tippi Hedren-SM-Geschichte verdanken wir ihm.

Hitchcock blieb Meister des Affirmations- oder ARI-Kurses. Wenn die Blitzumfrage des renommierten Audience Research Institutes ergab, daß "Spellbound" nach Meinung des Testpublikums um zwanzig Minuten gekürzt werden sollte, dann wurde gekürzt. Wenn der Chefzensor 1940 meinte, daß in "Rebecca" ein Mord als Unfall dargestellt werden müsse, weil sonst die "Crime doesn't pay"-Regel verletzt sei, dann war es eben ein Unfall. Sei's drum. Perspektiven wechseln. Observiert die Stasi im "Zerrissenen Vorhang" (1966) unsere Filmhelden, dann nehmen wir als Zuschauer die Stasi-Subjektive ein: Hitchcocks Kamera, versteckt, übernimmt ihren Blick, wir sehen die Zielpersonen, die Münder bewegen sich, wir hören nichts, sie sind zu weit weg. Auch die Täter müssen lernen, aus dem Versteck heraus zu operieren, wie der kleine Bub verkrochen unter dem Sofa, Stuhl und Menschenbeine im Blick, die Kamera im Graben.

Hitchcocks Untersicht ist eine Einübung in die Kunst des Unterlaufens: der Zensur, des Produktionssystems, der offiziellen Meinung, des Heroischen, des Pathetischen, des Kommerz, der Legalität. Davon profitiert der Sicherheitsdienst, die Frau, der Mann, Täter und Opfer. Und das ist die Crux. Hitchcock ergreift nicht Partei gegen das System, das er benötigt, um es zu unterlaufen. Kein kritisches Wort gegen die Kulturindustrie! Keine Verurteilung des "Führers" des faschistischen U-Boots! Das war in den sechziger Jahren eine Katastrophe für die Lager-Denker: die Kulturindustrie drüben, Adorno hüben; die Antifaschisten hüben, die Faschisten drüben.

Für Horst Knietzsch, den Filmpapst der DDR, war Hitchcock 1961 ein "Gruselspezialist, der heute seine abscheulichen Filme in den USA dreht, (ein) Ausdruck der Dekadenz und Perversität der spätbürgerlichen Gesellschaft". Und in der Münchner Zeitschrift Filmkritik, die sich als "nonkonformistische" Speerspitze verstand, wurde in den spätfünfziger und frühsechziger Jahren die "lächerliche Brutalität der letzten Filmsekunde" von "Vertigo" gerügt, auch scheitere Hitchcock, weil er für einen Thriller "zu viel Menschlichkeit" zeige. Das war gönnerhaft: Schuster, bleib bei deinen Leisten. Für die Idee, daß Hitchcocks Menschenfreundlichkeit auswies, daß er eben nicht ins Thriller-Genre abzudrängen war, war es noch zu früh. "Welch ein Verlust für uns, daß er nur Agatha Christie sein möchte", bedauert die Filmkritik und kreidet ihm das Fehlen eines "unverbrüchlichen Realismus" einerseits ("Die Vögel"), "schludrig ins Bild gesetzte Kintopp-Effekte" andererseits an ("Mord"/ "Foreign Correspondent", 1940).

Das war immerhin gut beobachtet, denn der Realismus der "Vögel" ist gebrochen - bis zum Fesselungsritual hin, gerade dann kann der Zuschauer sich aus den dokumentarischen Fragmenten seine eigene Perspektive einrichten. Und die Schludrigkeit: Ist sie nicht der Kick, im Kino in die Fabrikation von Fiktion einzusteigen? Was für eine motivierende Ironie der Anschlußverstöße in "Über den Dächern von Nizza" (1955), ganz gegen die Supervision des Studiosystems. Auf der Flucht läßt Cary Grant sein Zeug auf der Yacht zurück und schwimmt in einer Badehose an Land, und im Anzug verläßt er den Strand, so einfach ist das.

Der - dank Hitchcock - emanzipierte Zuschauer weiß inzwischen, daß der Meister das System der Fiktions-Produktion unterläuft, und er hat seinen Spaß daran, daß in "Topaz" (1969) die Grenzen zwischen dokumentarischen und fiktionalen Aufnahmen aufgehoben werden. Das kann doch wohl nicht sein, daß Fidel Castro mitspielt. Aber er ist es, einwandfrei. Keine schlechte Rolle, finde ich.

In Frankreich rief die cineastische Intelligenz ab Ende der Fünfziger den Hitchcock-Kult aus, beginnend mit Claude Chabrol und Eric Rohmer, dann Fran ç ois Truffaut; in den Achtzigern gar Gilles Deleuze. Das US-amerikanische Studiosystem hat bis heute nicht verstanden, was in Europa mit einem der ihren geschah. In der BRD war Hitchcock 1964 in der Filmkritik rehabilitiert worden. Helmut Färber schrieb den schönen Satz: "Um den Menschen im Kinogänger noch zu erreichen, wenden Hitchcocks Filme sich an den Kinogänger im Menschen."