Algerische Wiedervereinigung

Wenn 98,6 Prozent der Bevölkerung ihrem Präsidenten zustimmen, kann irgend etwas nicht in Ordnung sein: Manipulation, Fälschung gar, Repression. Oder aber eine Mischung aus kollektiven Psychosen - dem massenhaften Verwechseln von Wunsch und Wirklichkeit -, einem Mangel an Alternativen und banaler Unterwürfigkeit.

Von Fälschungen in einem größeren als dem in Algerien bei Abstimmungen üblichen Ausmaß wurde nichts bekannt, auch gab es keine sichtbare Repression. Statt dessen schwenkten nach der Bekanntgabe des Ergebnisses in Algier mehrere Zehntausend Leute die Landesfahne und fuhren hupend und johlend durch die Stadt: Wiedervereinigung auf algerisch.

Die zur Abstimmung stehende Frage hieß: "Stimmen Sie dem Versuch des Präsidenten zu, Frieden und die bürgerliche Eintracht wiederherzustellen?" Soll heißen: "Soll der Staat all jene Gotteskrieger, die ihn über Jahre als Anhänger der Islamischen Heilsfront (FIS) oder -armee (AIS) mit der Waffe bekämpft haben, dies heute aber sein lassen wollen, reintegrieren?" Oder anders: "Soll wieder zusammenwachsen, was zusammengehört?"

Und so gaben die Algerier ihrem Abdelaziz Bouteflika genannten Helmut Kohl das Ja-Wort. "Glückwünsche an uns selbst", titelte die Tageszeitung El Moudjahid im Stil der Bild. Andere Tageszeitungen hatten jedoch nur einen Helden gefunden: "Dieser Cäsar ist auf dem Gipfel seines Ruhms", schrieb El Watan, "Bouteflika gewinnt eine neue Legitimität", versuchte El Khabar die staatlichen Tricks bei der Präsidentenwahl im April vergessen zu machen.

Der Präsident wird's schon richten: Krieg dem Krieg (die Bewaffneten Islamischen Gruppen, GIA, haben sich immer noch nicht unterworfen), Kampf der Korruption, die Entlassung angeblich gewandelter Gotteskrieger aus den Gefängniskerkern und die Suspendierung angeblich korrupter Präfekten vom Dienst - alles Gute kommt von oben.

Seit Monaten schon geht es den Regionalpräfekten an den Kragen, mittleren Funktionsträgern des Regimes, die bei der Bevölkerung besonders unbeliebt sind, da sie - im Gegensatz zum Militär einerseits und den Gotteskriegern andererseits - keine wirkliche Macht mehr haben.

Noch vor drei Jahren war das ganz anders: Die Plattform von Sant'Egidio 1996, eine Art islamistisch-sozialdemokratisches Volksfrontbündnis, versuchte sich an der Vorbereitung der algerischen Wiedervereinigung. Erfolglos, da AIS und GIA damals noch ernstzunehmende Kriegsgegner waren. Erst die von den Präfekten betriebene Militarisierung der Regionen, Städte, Gemeinden, bis hin zur Aufstellung einer bewaffneten Bürgerwehr selbst im abgelegensten Dorf, hat den Terrorismus der Mudjaheddin spürbar bremsen können.

Gegen so viele und vor allem so gut ausgerüstete Blockwarte hat heute selbst die GIA Schwierigkeiten, ihren Krieg fortzusetzen. Zumal die Bürgerwehren nicht mehr von den Präfekten, sondern von Polizei und Teilen der Armee aufgerüstet und kontrolliert werden.

Somit aber sind vor allem die Präfekten die Verlierer des Militarisierungsprozesses der algerischen Gesellschaft während der letzten zehn Jahre. Nun können sie zugunsten der "zivilen Eintracht", wie es in der Frage des Referendums hieß, geopfert werden.

Da freut sich das Wahlvolk und nimmt Bouteflika nicht einmal mehr die wüstesten Drohungen übel: Weitere "Reformen" würden erst nach einer deutlichen Zustimmung zum Referendum erfolgen, hatte sich der Präsident vor dem Votum in Erpressung versucht. Die Bevölkerung verstand die Drohung: Was folgt, wenn "Reformen" angekündigt werden, ist spätestens seit dem Ende der achtziger Jahre klar, als zum ersten Mal die Begriffe Internationaler Währungsfonds und Strukturanpassungsmaßnahme ins Arabische übersetzt wurden.

Mittlerweile ist aber zu der Furcht vor neuen "Reformen" die Schadenfreude hinzugekommen. Der algerische Staat ist so knapp bei Kasse, daß die weitere Umsetzung der IWF-Vorgaben nicht mehr nur, wie bisher, große Teile der Bevölkerung trifft. Auch innerhalb der herrschenden Klasse, die sich nicht zuletzt durch das Referendum zu vergrößern sucht, gibt es immer weniger zu verteilen. Der Kampf um die Reste ist in vollem Gang.