Der Kommissar geht wieder um

Nach sechs Monaten hat die Europäische Union eine neue Kommission - mit alten Problemen

Eine riesige Wolke weißen Rauchs hätte über dem Glasbau des Europäischen Parlaments in Strasbourg, dem B‰timent Louise Weiss, aufsteigen müssen. Mittwoch mittag, 12.15 Uhr, war es soweit: Sechs Monate nach dem Rücktritt der Kommission Santer hat die EU eine neue Kommission. Jubel in der neu gebauten Parlamentsrunde, dem Hémicycle, wo sich gerade 414 der 626 ParlamentarierInnen für Romano Prodi und sein Team von 19 KommissarInnen ausgesprochen haben.

Erleichterung liegt in der Luft, als ob eine große Schlacht geschlagen wäre. Im Nu ist die Crew, die künftig die Geschäfte der EU führen wird, von einer Schar gratulierender Abgeordneter umringt. Ex-Präsident Jacques Santer drückt seinem Nachfolger Prodi gar einen Kuß auf die Wange, gleich daneben fällt der Grüne Daniel Cohn-Bendit der grünen Kommissarin Michaele Schreyer um den Hals. Prodi strahlt und schüttelt in der Aufregung der soeben ins Amt gehobenen Vizepräsidentin der Kommission, Loyola de Palacio, gleich zweimal hintereinander die Hand.

Prodis Freude ist verständlich. Denn die spanische Rechtskonservative, die nun Kommissarin für Verkehr und Transport ist, dürfte ihm in den letzten Wochen einige Sorgen bereitet haben: Als Landwirtschaftsministerin soll sie bei Betrügereien mit EU-Agrarsubventionen mitgemischt haben; in Spanien wird deswegen gerichtlich gegen sie ermittelt. Und so hatte, kaum waren die neuen KandidatInnen im Juli dem Parlament vorgestellt, Prodi ein Problem, dessen Folgen noch nicht absehbar sind. Und das, obwohl er nicht müde wird, der nicht besonders interessierten europäischen Öffentlichkeit einen "neuen Geist" in der Kommission und eine "effiziente Verwaltung" zu versprechen.

"Wir haben noch nicht entschieden, ob wir für die neue Kommission stimmen werden", kündigte trotzdem am Vorabend des großen Votums Hans-Gert Pöttering an, der Fraktionsvorsitzende der Europäischen Volkspartei (EVP). Die Konservativen, die nach den Wahlen im Juni dieses Jahres mit 233 Mitgliedern die stärkste Fraktion stellen, wollten es besonders spannend machen. Schuld war freilich nicht Se-ora de Palacio, sondern der belgische Sozialdemokrat und Kandidat für das Ressort "Forschung", Philippe Busquin, der beim zurückgetretenen Kommissionspräsidenten Jacques Santer Bürochef war. Noch früher, als belgischer Verteidigungsminister, soll er in die Schmiergeldaffäre um die Rüstungskonzerne Agusta und Dassault verwickelt gewesen sein, bei der seine Sozialdemokratische Partei ihre Schwarzgeldkassen auffüllte.

Die vor allem von britischen Konservativen - die sich dabei auf tatkräftige Unterstützung der flämischen Christdemokraten und des rechtsextremen Vlaams Blok verlassen konnten - angeheizte Debatte um Busquins Kandidatur traf Prodi an seiner empfindlichsten Stelle. Denn der Kommissionspräsident kann einer Kommissarin oder einem Kommissar lediglich das Portefeuille wegnehmen - absetzen kann er sie nicht. Jetzt soll eine Kette von Versprechen das institutionelle Manko wettmachen: Prodi verspricht, KommissarInnen zum Rücktritt aufzufordern, wenn gegen sie Korruptionsvorwürfe laut werden; die KommissarInnen versprechen, einem solchen Wunsch gegebenenfalls nachzukommen.

Daß seine Fraktion bei der designierten Kommissarin de Palacio weniger investigativ vorgegangen sein soll als bei Busquin, wies Pöttering weit von sich. Die EVP-Freundin genieße aber bei ihm "großes Vertrauen". "Ich würde Herrn Prodi raten, sich zu dem Fall Busquin zu erklären", legte sich der 54jährige Niedersachse vor der Presse nochmals ins Zeug. Tags darauf präsentierte sich die EVP weitaus weniger kämpferisch. In der ersten Reihe schnellte Pötterings Daumen nach oben, als es hieß, seinen KollegInnen das richtige Votumsverhalten zu diktieren. Geschlossen gegen Prodi stimmten lediglich die bayerischen CSU-Abgeordneten und die britischen Konservativen. Daumen nach unten zeigte auch der Sprecher der Europäischen Linken, Robert Hue (Parti Communiste Fran ç ais), seinen 42 Fraktionsmitgliedern an: "Man kann Europa nicht durch den Markt aufbauen", begründete Hue seine Ablehnung. Ihm fehlten in den Absichtserklärungen der Prodi-Kommission "neue Perspektiven".

Prodi habe "noch keine klaren politischen Konturen gezeigt", kritisierte auch der Sprecher der europäischen Grünen, der Belgier Paul Lannoye. Ausnahmsweise blieben deshalb die 48 grünen Abgeordneten ohne Wahlweisung vom Vorstand. Wie einst zu basisdemokratischen Zeiten, hatten sie am Abend zuvor in der Fraktion heftige Grundsatzdebatten geführt. Prinzipielle Bedenken gegenüber der politischen Linie der Prodi-Kommission stießen auf ebenso prinzipiellen Pragmatismus: Vor allem Vertreter der deutschen Grünen, unterstützt von Cohn-Bendit, der als Spitzenkandidat der französischen Les Verts angetreten war, plädierten dafür, dem Prodi-Team eine Chance zu geben. "Wir dürfen nicht vergessen, daß auch eine Grüne in dieser Kommission vertreten sein wird", rief die deutsche Bündnisgrüne Heide Rühle zur Parteidisziplin.

Gemeint war die einstige Berliner Umweltsenatorin Michaele Schreyer, die künftig als Haushaltskommissarin für einen "sparsamen und effizienten Umgang mit Finanzmitteln" sorgen und "hart gegen Korruption und Mißwirtschaft vorgehen" will. Die Berufung Schreyers war für die CDU/CSU-VertreterInnen im Parlament zunächst der Anlaß für die Drohung gewesen, der neuen Kommission die Zustimmung zu versagen.

Solche Animositäten dürfte der zweite deutsche Kommissar, der bisherige Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Günter Verheugen, nicht wecken. Als für die Erweiterung der EU zuständiger Kommissar will er, wie er vor den Abgeordneten darlegte, Europa auch außenpolitisch zum "global player" machen. Die Erweiterung der EU sieht Verheugen "als Fenster der Gelegenheiten für die europäische Einigung". Die SozialdemokratInnen waren entzückt: Endlich wieder einmal einer der ihren, der so etwas wie eine Vision hatte. Auch wenn der Mann mit der Ausstrahlung eines Schwarzweißfernsehers sich kaum als künftige Integrationsfigur eignen dürfte, sein Modell einer schrittweisen Kooptierung mittel-, ost- und südosteuropäischer sowie am Ende auch westasiatischer Staaten scheint die Zustimmung der Mehrzahl der Abgeordneten gefunden zu haben. Und daß Verheugen trotz unveränderter Menschenrechtslage die Türkei in den Kreis derjenigen Nationen aufnehmen will, die auf einen Beitritt noch während der laufenden Legislaturperiode hoffen können, stieß auch bei den Konservativen auf keinen nennenswerten Widerspruch mehr.

Das bekam allerdings auch in deren eigenen Reihen kaum jemand mit, denn, wie es der Tradition des EU-Parlaments entspricht, waren die Ränge im Hémicycle außerhalb der Votumszeiten nur sehr spärlich besetzt. Lediglich die designierten Kommissionsmitglieder verharrten sechs Stunden lang auf ihren Sesseln und lauschten bis zum Schluß den zahlreichen Stellungnahmen. "Wir haben heute den Grundstein für eine neue Kultur gelegt", jubelte Prodi, als alles vorbei war. Umringt von JournalistInnen, verließ er als Sieger die Abschlußpressekonferenz. Derweil sein Vorgänger Jacques Santer, der nunmehr als einfacher Abgeordneter in Strasbourg sitzt, einsam einen der zahlreichen dunklen Gänge im Glasbau durchschritt, auf der Suche nach dem Saal, in dem seine nächste Sitzung stattfinden sollte.