Fromme Wünsche

Asienpfanne IV: Die "Modernisierung" in Vietnam verursacht immer größeres soziales Elend

Die in der Sonne glitzernden Wolkenkratzerfassaden am Ufer des Song Sai Gon erinnern an die Skylines von Singapur oder Hongkong. Freilich können die zahlreichen europäischen Restaurants, Geschäfte und Bürokomplexe, die im Zentrum der Millionenmetropole Ho-Chi-Minh-Stadt wie Pilze aus dem Boden schießen, nicht über die immer größer werdende Kluft zwischen arm und reich hinwegtäuschen.

Nur wenige Minuten von den modernen Hochhäusern entfernt, fristen die Unterprivilegierten der Stadt in desolaten Holzhütten ihr Dasein. Viele Menschen nennen aber nicht einmal mehr eine solche Unterkunft ihr eigen. Tausende Straßenkinder ziehen in den Gassen des ehemaligen Saigon umher, um etwas Geld oder Lebensmittel zu organisieren.

"Cyclo, Cyclo", ruft im Abstand weniger Sekunden eine laute Männerstimme. Der Rikschafahrer hat potentielle Kunden erspäht. Im Schrittempo fährt er neben einem jungen Pärchen her, das offensichtlich westlicher Herkunft ist. Er versucht, die beiden zu einer Fahrt zu überreden. Schließlich kann er von Touristen fünf- bis zehnmal so viel Dong verlangen wie von einem einheimischen Fahrgast. Als der Vietnamese nicht abgewimmelt werden kann, gibt das Paar nach.

Die jungen Verkäufer von Postkarten, T-Shirts oder kopierten Büchern in englischer Sprache bemühen sich ebenfalls auf mehr oder weniger aggressive Weise um die Fremden. Der Einbruch in der Tourismusbranche - vor allem die profitablen Gäste der Luxushotels bleiben zunehmend aus - hat ihre Erfolgsquoten gesenkt. Und die Konkurrenz auf den Straßen ist groß.

Auch Vietnam ist von der Asien-Krise nicht verschont geblieben. Die Arbeitslosigkeit und die Preise für Getreide und Nahrungsmittel sind deutlich gestiegen. Der Umfang der Industrieproduktion und des Außenhandels hat dagegen abgenommen. Dabei konnte Vietnam vor kurzem noch voller Stolz auf die höchsten Wachstumsraten des Bruttoinlandsproduktes in der gesamten Region verweisen.

Die sich immer noch kommunistisch nennende Regierung unter Premierminister Phan Van Khai versucht durch die Beschleunigung des Reformprozesses das Land wieder auf Kurs zu bringen. Neben einer weiteren Erhöhung der Reisexporte - Vietnam verzeichnet schon heute Rekordernten und nimmt hinter Thailand den zweiten Platz der reisexportierenden Länder ein - sollen die Rückgänge beim Tourismus durch neue Investitionen aufgehalten werden. So wurde z. B. die kostspielige Errichtung einer Fußgängerzone in der Hanoier Altstadt beschlossen.

Die Lebenshaltungskosten für Ausländer in Vietnam sind weitaus höher als etwa in Südkorea, Thailand oder Australien, was viele potentielle Investoren verärgert. Um diese wieder ins Land zu locken, wurden mit dem 1. Juli deren Unkosten durch eine Reihe von Neuregelungen gesenkt. Von der Reduktion der bei Unternehmensgründungen anfallenden Gebühren bis zu großzügigen Steuerfreibeträgen beim Erwerb von Grundbesitz reicht dieses Entlastungspaket für Unternehmer. Die Importe werden dagegen stärker besteuert, um einheimische Produzenten ähnlicher Produkte nicht zu schädigen.

Die Reform der vietnamesischen Wirtschaft begann bereits vor 20 Jahren. Damals sah sich die Regierung wegen des zunehmenden Widerstandes der Landbevölkerung gezwungen, den ursprünglich genossenschaftlich bearbeiteten Boden zu verpachten. Im Rahmen der allgemeinen neuen Wirtschaftspolitik doi moi wurden ab Mitte der achtziger Jahre schließlich auch Privatisierungen und freies Unternehmertum nach und nach zugelassen.

Auch die Beziehungen zum ehemaligen Kriegsgegner USA haben sich seit der Aufhebung des Handelsembargos 1995 weiter normalisiert. Anfang September besuchte sogar US-Außenministerin Madeleine Albright das Land. Die Beziehungen "verbessern sich praktisch von Tag zu Tag. Das Verständnis füreinander ist gewachsen, und unsere Beziehungen werden viel komplexer", freut sich US-Botschafter Douglas Peterson. "Ich hoffe, mit dem jüngsten Einvernehmen über ein bilaterales Handelsabkommen mit den USA wird die Wirtschaft wieder neuen Schwung bekommen." Mittlerweile haben sich bereits 400 Firmen des ehemaligen Kriegsgegners USA in Vietnam niedergelassen, darunter Mobil, Ford, IBM und Nike. Vor allem die Nike-Schuhfabriken gerieten durch ihre Arbeitsbedingungen immer wieder in die Schlagzeilen. Lange Arbeitszeiten, geringe Löhne sowie Hitze und Lärm am Arbeitsplatz sind die Regel. Krebserregende Stoffe in der Luft führen zu Schädigungen an Leber, Nieren und am zentralen Nervensystem.

Die wirtschaftliche Umgestaltung Vietnams erinnert bis in die neunziger Jahre hinein an den Weg der beiden asiatischen Tiger, Taiwan und Südkorea. Auch diese förderten eine aggressive Exportpolitik, hielten die Löhne niedrig und setzten auf staatsinterventionistische Maßnahmen statt grenzenloser Liberalisierung. Die Erhöhung bzw. Verringerung der Wettbewerbsfähigkeit wurde von den jeweiligen ökonomischen Rahmenbedingungen abhängig gemacht und nicht von den unflexiblen Empfehlungen des Internationalen Währungsfonds (IWF).

Heute setzt Vietnam allerdings auf eine stärkere Liberalisierung. Zwar sind immer noch über 40 Prozent der gesamten heimischen Produktion in der Hand staatseigener Betriebe, doch wird die Regierung deren Privatisierung wohl rascher vorantreiben, um an die daran gekoppelten, dringend benötigten IWF-Kredite zu kommen.

Die wirtschaftliche Entwicklung erfolgt vor allem zu Lasten des einst vorbildlichen Bildungs- und Gesundheitswesens. Das Bildungsniveau der Bevölkerung sinkt kontinuierlich. Durch Schulgebühren, Unterrichtsmaterialien und Geschenke an die Lehrer sind viele Eltern finanziell überfordert. Leben in einer Familie mehrere Kinder im schulpflichtigen Alter, kommen oft nur die männlichen Nachkommen in den Genuß einer Ausbildung. Nur etwa 13 Prozent der vietnamesischen Bevölkerung sind krankenversichert. Viele Unternehmen stellen Arbeiter nur mehr zeitlich befristet ein, um sich die Arbeitgeberbeiträge für die Gesundheitsversicherung zu ersparen. Arztbesuche, Medikamente und Krankenhausaufenthalte sind für Nichtversicherte gebührenpflichtig.

Besonders dramatisch ist die Situation auf dem Land. Ungefähr die Hälfte der ländlichen Bevölkerung hat keinerlei Zugang zur Gesundheitsversorgung. Die in Vietnam lebenden Minderheiten leiden besonders darunter. Schmutziges Wasser, unzureichende sanitäre Einrichtungen und mangelhafte Ernährung führen wieder zur Ausbreitung von Malaria, Magen-Darm-Infektionen und Tuberkulose. Auch die Kinder- und Müttersterblichkeit steigt. Viele Frauen müssen ihre Kinder ohne medizinische Hilfe und unter unhygienischen Verhältnissen zu Hause gebären.

Die Regierung initiierte als Gegenstrategie ein breitangelegtes Armutsbekämpfungsprogramm, das in den ärmsten Kommunen des Landes ansetzen soll. Bisher waren diese auf die Mildtätigkeit privater Hilfsorganisationen angewiesen. Nun soll auch in abgelegenen Gegenden eine effektive staatliche Gesundheitsvorsorge betrieben werden. Außerdem will man allgemeinen Zugang zu sauberem Wasser, zu Bildungsinstitutionen und kulturellen Einrichtungen ermöglichen. Ob tatsächlich genügend Geld für die Erfüllung dieser frommen Wünsche vorhanden sein wird und ob diese mit den Plänen des IWF und der internationalen Konzerne vereinbar sind, ist ungewiß.

Die Speisekarte für die nächste Woche stand zu Redaktionsschluß noch nicht fest.