Was ist denn das für einer?

Bei Thorsten Krämer und seinem Roman "Neue Musik aus Japan" hat alles mit jedem zu tun

Sind Sie mit Marlon Brando befreundet? Nein? Macht nichts. Die Zeit hat sich jetzt auf zwischenmenschliche Kontakte spezialisiert und in ihrer Beilage Leben eigens eine Rubrik für die Promi-Suche eingerichtet. Der Falafel-Händler Salah Ben Ghaly möchte unbedingt Marlon Brando kennenlernen. Obwohl sie sich noch nie begegnet sind, kennen sie sich indirekt. Das Problem ist nur, daß es zwischen dem einen und dem anderen fünf Variablen gibt. Eine Theorie besagt nämlich, daß zwei sich fremde Personen irgendwo auf dem Planeten, trotz aller Distanz, dennoch über höchstens sechs Stationen (d.h. Personen) miteinander bekannt sind. Der erste Versuch der Zeit, dies zu beweisen, schlug fehl. Der zweite läuft noch.

Wer auch immer diese Theorie - auch six degrees of separation genannt - in die Welt gesetzt hat, sie zieht. Und Thorsten Krämer, 27, zieht mit. In seinem Roman "Neue Musik aus Japan" treffen in zwanzig Geschichten einander zunächst fremde Menschen aufeinander, es ergeben sich Vernetzungen, gemeinsame Erlebnisse führen zusammen, die lange zurückliegen, aus einer Zeit, in der man sich noch nicht kannte.

Die Geschichte beginnt damit, daß Arnd zu einem Freund nach Hamburg fährt und dabei Anne kennenlernt. Er verliebt sich in sie, und weil sie sich für japanische Popmusik interessiert, nimmt er ihr ein Tape auf. Halt, damit beginnt die Geschichte ja gar nicht! Also gut. Die Geschichte beginnt damit, daß Makiko und Haruki in Tokio das Endspiel der Fußball-WM zusammen mit einigen Deutschen sehen.

Genau genommen beginnt das Buch mit dem Foto auf dem Cover. Darauf sind zwei Asiatinnen zu sehen, die sich gegenseitig vor dem Kölner Dom fotografieren. Jemand hat sie beim Fotografieren fotografiert. Auf ihren Fotos ist er im Hintergrund zu sehen. Er trägt ein T-Shirt, auf dem steht: I am in your picture. Die Geschichte zum Cover läßt sich dann auch nachlesen. Und obwohl alle diese Geschichten scheinbar nichts miteinander zu tun haben, gehören sie zusammen.

Dabei hatte Thorsten Krämer das gar nicht beabsichtigt. Vermutlich hat er einfach nur eine Tape mit japanischer Popmusik aufnehmen wollen und den Kassetten-Titel "Neue Musik aus Japan" dann für seinen Roman zweitverwertet. Oder er fand die Idee interessant zu wissen, was alles gleichzeitig geschieht. Wie eine seiner Figuren, die einen Nervenzusammenbruch erleidet, weil sie sich fragt, wer die Menschen sind, die "zufällig alle gerade in einem Bus sitzen".

Bernhard heißt dieser Typ. Er ist krankhaft eifersüchtig und zersticht deshalb Doris die Reifen ihres Autos. Eigentlich hatte sie an diesem Tag nach Hamburg fahren wollen. Über die Mitfahrzentrale hatten sich noch Arnd und Jürgen gemeldet. Aber jetzt muß ihre Freundin Anne einspringen. Gut für Arnd. Er kommt doch noch nach Hamburg und kann Anne gleich mit seinen Kenntnissen in Sachen japanischer Popmusik beeindrucken. Schlecht für Arnd. Denn Anne kennt den japanischen DJ Haruki, der nur über Arnd lächelt und Anne "aus musikalischer Sicht" von dem Verehrer abrät. Der von Arnd so sorgfältig aufgenommene Mix landet schließlich im Papierkorb.

"Neue Musik aus Japan" funktioniert ähnlich wie Memory. Man liest eine Geschichte, schlägt das Buch wieder zu, und beginnt eine beliebige andere. Zwar sind sie nicht identisch, trotzdem gibt es manchmal einen Aha-Effekt. Oder man hat eine Art Déjˆ-vu-Erlebnis, weil einem einige Personen bekannt vorkommen. Das ist dann wie beim Klassentreffen. Man muß eine Weile überlegen, woher man die Leute kennt, die da plötzlich in Sakkos und kurzen Haaren um einen herum stehen. Dann hat man endlich die Querverbindung gefunden und kann weiterdenken.

Meist bleibt es aber nicht bei einer Verbindung. Untereinander ergeben sich wieder neue. Und immer mehr. Der Roman sei, sagt Krämer, auf Unendlichkeit angelegt. "Eine offene Struktur. Die Personen leben weiter. Prinzipiell lassen sich alle Geschichten weiterführen." Kein signifikanter Augenblick wie bei der Kurzgeschichte, keine Geschlossenheit wie beim traditionellen Roman. Sein Buch liege irgendwo dazwischen, sagt er. Er meidet eine klare Festlegung, ebenso wie bei der räumlichen und zeitlichen Einordnung der Handlung. Mal spielt eine Geschichte 1995, dann wieder 1981 oder 1997.

Einzeln wirken die Geschichten belanglos, fast zu einfach erzählt. Etwa wenn die Türkin Idil in einer Kölner Disko Sven kennenlernt. Sie plaudern ein bißchen, mehr nicht. Bevor er geht, gibt er ihr seine Telefonnummer, und sie verabreden sich zum Frühstück. Sie verliert aber den Zettel und Sven damit aus den Augen. So ist das Leben. Manchmal bleibt es bei der einen flüchtigen Begegnung, manchmal nicht. Später, an einem ganz anderen Ort, unter ganz anderen Umständen, treffen sich die beiden aber wieder. Inzwischen läßt sich das, was damals in der Disko hätte beginnen können, nicht wieder aufgreifen. Nur im Ganzen machen die Episoden Sinn, nur so läßt sich die Entwicklung nachvollziehen.

Thorsten Krämer läßt seinen Figuren einen großen Spielraum, gibt ihnen die Möglichkeit, sich zu verändern. Jeden Tag. Während andere die Tristesse des Alltags beschreiben, reicht es bei Krämer, das Telefon abzunehmen und schon gerät man in den "machtvollen Strudel des Lebens". Immer wieder ruft ein Mädchen bei Jungs an und fragt sie, ob sie eine Freundin haben. Die meisten legen gleich wieder auf. Stefan sagt nein, und so hat er eine Freundin mehr.

Das Leben kann so einfach sein.

Es geht um die simplen Mechanismen menschlichen Zusammenlebens. Manchmal ergeben sich daraus komische Situationen. Einer z.B., versucht ständig mit Asiaten Japanisch zu sprechen. Es dauert eine Weile, bis er merkt, daß sein Gegenüber entweder Koreaner, Vietnamese oder Deutscher ist. Eine andere sitzt allein in einem Restaurant, ein Asiate kommt herein und spricht sie an. Sie findet ihn sympathisch, aber er steht bald wieder auf und geht. Das könnte das Ende sein. Aber bei Krämer gibt es immer eine zweite Chance.

Thorsten Krämer liegt aber, nicht nur was das Thema seines Romans angeht, voll im Trend. Die Schlichtheit des Erzählens, die einfachen Geschichten anderer Leute haben wieder Konjunktur. So geht es in Bücher wie "Sommerhaus später" von Judith Hermann oder "Simple Stories" von Ingo Schulze. Er selbst nimmt sich gegenüber dem Erzählten ganz zurück. Obwohl beim Schreiben natürlich immer Eigenes mit einfließt. "Man erzählt auch so über sich, ohne daß man in der ersten Person schreibt."

Anders als seine Kollegen bei Kiepenheuer & Witsch - Christian Kracht, Benjamin von Stuckrad-Barre und Benjamin Lebert: Da wird das Ich ausgeleuchtet, bis es ohne Schatten dasteht. Trotzdem treffen auch sie einen Nerv und beschreiben eine Befindlichkeit. "Was KiWi in den letzten Jahren gemacht hat, ist, ein neues Bewußtsein für eine andere deutsche Literatur zu schaffen", glaubt Thorsten Krämer. Dazu gehört auch - und damit ist er dann doch gar nicht so weit von seinen Verlagskollegen entfernt -, sich als keiner Gruppe zugehörig zu betrachten: "Ich fühle mich keinem Programm verpflichtet."

"Neue Musik aus Japan" ist nicht Krämers erstes Buch. Im vergangenen Jahr veröffentlichte er Erzählungen unter dem Titel "Ich heiße Hal Hartley". Darin hat er Filme von Jean-Luc Godard, Hal Hartley und Takeshi Kitano nacherzählt, um Parallelen aufzuzeigen. Er kennt sich aus bei Filmen und Schauspielern. In einer Kurzgeschichte beschreibt er, wie ein Freund von einer Begegnung seines Vaters mit Rainer Werner Fassbinder berichtet. Der Vater dieses Freundes sei von Fassbinder angesprochen worden, der Regisseur habe ihn zum Kaffee einladen und für seinen nächsten Film gewinnen wollen. "Mein Vater dachte natürlich, was ist denn das für einer, und ist einfach weitergegangen."

Vielleicht sollte man mal Thorsten Krämer fragen, ob er mit Marlon Brando befreundet ist. Dann muß die Suche bei der Zeit auch nicht mehr so lange dauern.

Thorsten Krämer: Neue Musik aus Japan. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1999, 176 S., DM 18,90