Rußland nach den Attentaten

Wirbelwinde

"Auf die Angst ist der Haß gefolgt", schrieb die russische Zeitung Nowije Iswestija am Dienstag vergangener Woche. Und sie hat offensichtlich recht, betrachtet man die Reaktionen von Staat und Bevölkerung. Fünf Sprengstoffanschläge auf Wohnhäuser hatten seit Ende August in Rußland fast 300 Menschenleben gefordert. Niemand hat plausibel die Verantwortung für die Terrorkampagne übernommen.

Die russischen Behörden bliesen zur Jagd. Die Operation Wirbelwind wurde durchgeführt. Regierungsgebäude und Appartmentblocks wurden durchsucht, und die Präsenz der sog. Sicherheitskräfte auf den Straßen verdreifachte sich.

Ziel der Operation sind "Tschetschenen" bzw. "Kaukasier". Das basiert auf der Hypothese, die Anschläge stünden in Verbindung mit den Kämpfen in Dagestan, wo Militante unter Führung des tschetschenischen Warlords Schamil Bassajew und des Gotteskriegers Khattab für einen islamistischen Staat kämpfen.

Zwei Verdächtige aus dem Kaukasus hat die Polizei vergangene Woche im TV präsentiert. Die sagten, sie würden fälschlich beschuldigt. Zwei andere - tschetschenischer und usbekischer Herkunft - sind nach Angaben der Polizei als Urheber der Anschläge identifiziert, aber flüchtig.

Das Ausmaß der Fahndungsmaßnahmen ist beeindruckend. 11 000 Festnahmen sind bis Ende vergangener Woche von der Polizei gezählt worden - in fast allen Fällen war der Grund nicht Terrorismus. In Moskau müssen Menschen mit dunkler Hautfarbe jederzeit damit rechnen, von der Polizei verhaftet oder zur Zahlung von Bestechungsgeldern erpreßt zu werden. Nebenbei fand eine "Säuberung" der Hauptstadt von "Nicht-Einwohnern" statt. Nach Angaben des Fernsehsenders NTV wurden in den letzten Tagen 20 000 Menschen aus Moskau rausgeworfen.

In der Bevölkerung fiel die Kampagne offenbar auf fruchtbaren Boden. Die Komsomolskaja Prawda berichtete vergangene Woche, wie der Moskauer Fernsehsender TV 5 die Zuschauer zu einer Umfrage einlud: "Wen soll man aus Moskau ausweisen? Die Tschetschenen, die Kaukasier oder die Banditen?" Ergebnis: Dreimal soviele Stimmen für die Ausweisung der Kaukasier als für die der sogenannten Banditen.

TV 5 steht unter dem Einfluß des Moskauer OB und Präsidenten in spe Juri Luschkow. Der bezeichnete am letzten Donnerstag Tschetschenien als "eine Gemeinschaft von Banditen, die in Terrorismus, Sklavenhandel und Diebstahl engagiert sind". Da zeichnete sich schon ab, daß eine weitere Eskalation des Vorgehens gegen die abtrünnige Kaukasusrepublik bevorsteht. Denn, wie Premierminister Wladimir Putin sagte: "Die Terroristen verstecken sich auf tschetschenischem Territorium." Deshalb müsse es unter "Quarantäne" gestellt werden. Neue Truppen sind schon unterwegs. Vermutliches Szenario: Tschetschenien abriegeln und aus der Luft bombardieren.

Am Freitag traf sich das russische Oberhaus, der Föderationsrat, zu einer außerordentlichen Sitzung - ungewohnte Einigkeit im politischen Establishment, de facto grünes Licht für die russische Regierung, in Tschetschenien zu intervenieren. Eine Resolution wurde unterzeichnet, die "Notmaßnahmen" fordert. Le Monde zitierte aus dem Dokument, das Abkommen von Khassaviurt, das den Krieg zwischen Rußland und Tschetschenien beendete, habe "der Sicherheit des Landes enorme Schäden zugefügt".

Das Abkommen hatte pikanterweise Ex-General Alexander Lebed ausgehandelt. Der ist mittlerweile Gouverneur in Krasnoyarsk und hat am 9. September seine Kandidatur für die im kommenden Juni geplanten Präsidentschaftswahlen bekanntgegeben. In Rußland sei ein General an der Spitze des Staates nicht nur möglich, sondern auch notwendig, sagte er offenherzig. Ende letzter Woche schrieb die Zeitung Sewodnja, mit Jelzin gehe es gesundheitlich wieder bergab; er würde sich darauf vorbereiten, Lebed anstelle Putins als seinen bevorzugten Erben einzusetzen.

Das ist nicht das einzige Gerücht, das gestreut wird. Nach einem anderen ist die Regierung für die Bombenanschläge verantwortlich, um die Wahlen abzusagen und den Ausnahmezustand zu verhängen. Unabhängig von ihrer Stichhaltigkeit reflektieren diese Gerüchte, wie weit Jelzins Kreml-"Familie" und die Regierung in den Augen der Bevölkerung diskreditiert sind. Das ist nicht unbedingt emanzipatorisch. Aus der autoritären Präsidialherrschaft Jelzins kann sich ja noch eine waschechte Diktatur entwickeln, die das gesellschaftliche Desaster verwaltet.