Ibbenbüren und zurück

Das Verfahren gegen einen NPD-Anhänger, der vor einem Jahr einen Antifaschisten anfuhr und schwer verletzte, steht kurz vor der Einstellung

Ziemlich genau ein Jahr ist es her, als in Rostock rund 3 000 Neonazis unter Führung der NPD aufmarschierten. Damals hatten 1 500 AntifaschistInnen gegen den NPD-Aufmarsch in der Hansestadt protestiert, unter ihnen auch Holger S. aus dem Wendland.

Doch an den 19. September vergangenen Jahres kann sich der 28jährige heute nicht mehr erinnern. Nur aus Erzählungen weiß er, was an diesem Tag, an dem sich sein Leben grundlegend veränderte, geschah. Gegen 11.30 Uhr griffen rund 50 Neonazis aus Lübeck und Grevesmühlen ein Infozelt, das AntifaschistInnen am Rostocker Hafen aufgebaut hatten, an und verletzten zwei Menschen. Später brüstete sich die Gruppe mit ihrem "Abenteuer in Rostock" im Zentralorgan, einer von Hamburger Neonazis herausgegebenen Monatszeitschrift der Freien Kameradschaften.

Den wenigen noch im Zelt anwesenden AntifaschistInnen gelang es, die Angreifer abzuwehren. Sie versuchten jedoch über das antifaschistische Infotelefon, Hilfe für den Schutz des Zeltes zu mobilisieren. Holger S. gehörte zu jenen, die sich von einer Antifa-Demonstration in der Innenstadt zum nahegelegenen Zelt aufmachten. Was dann folgte, ist seit längerem Gegenstand eines juristischen Verfahrens, das zur Zeit kurz vor dem Abschluß steht.

Als Holger S. die vierspurige Straße, die die Innenstadt vom Hafengelände trennt, überqueren wollte, wurde er von einem mit vier NPD-Anhängern besetzten Auto angefahren. Zu diesem Zeitpunkt hielten sich auf beiden Seiten der Straße zahlreiche Menschen auf. Auch ein Trupp bayerischer USK-Beamter befand sich in Sichtweite des Geschehens.

Augenzeugen bestätigten gegenüber Jungle World, daß der Fahrer des Autos, der mittlerweile 21jährige Marc W. aus Lengerich, mit Tempo 80 - trotz Ausweichmöglichkeiten - direkt auf Holger S. zufuhr, der sich in der Mitte der Straße befand. S. prallte auf die Motorhaube und die Frontscheibe des Fahrzeuges, die durch den Aufprall zersplitterte, und fiel dann auf die Straße.

Während Marc W. weiterfuhr, versuchten Augenzeugen ärztliche Hilfe für den Schwerverletzten zu holen. Polizeibeamte, an die sie sich wandten, wiesen sie jedoch ab. Ein Augenzeuge erinnert sich, daß ein bayerischer USK-Beamter äußerte: "Was geht euch das an, das ist doch nicht dein Blut auf der Straße."

Erst zwanzig Minuten später traf ein Rettungswagen bei Holger S. ein und brachte ihn ins Krankenhaus. Marc W. hatte sich derweil an einer Tankstelle am Ortsausgang von Rostock Polizeibeamten gestellt. Filmaufnahmen zeigen vier kurzhaarige junge Männer, die gelassen eine Reichskriegsflagge über die zersplitterte Frontscheibe des Fahrzeuges ausbreiten.

Für Marc W. hatte der 19. September bisher kaum Folgen. Gegenüber der Polizei behauptete er, er sei in Panik vor Steinen geflüchtet, die auf sein Auto geworfen worden seien. Allerdings weist ein Gutachten der Fahrzeugprüfstelle Dekra nach, daß das Fahrzeug nicht von Steinen getroffen wurde. Schon einen Monat nach den Ereignissen erhielt W. seinen Führerschein zurück.

Marc W. ist vor Gericht bekannt: Ende 1995 wurde er wegen Körperverletzung angeklagt, weil er bei einer Jugendfeier in Lengerich im August 1995 einen Gast mit Fausthieben und glühenden Zigaretten verletzt hatte. Im Januar 1996 folgte eine Anklage wegen eines Verstoßes gegen das Waffengesetz. Bei einer Geburtstagsfeier im Oktober 1995 hatte W. einen Gast mit einer Gaspistole bedroht. Beide Verfahren wurden nach dem Jugendstrafgesetz gegen geringfügige Auflagen eingestellt.

Auch aus seiner rechten Gesinnung macht W. keinen Hehl. Bei seinen Vernehmungen erklärte er, daß er an dem NPD-Aufmarsch teilnehmen wollte und dabei in engem Kontakt zu Insassen eines aus Bielefeld angereisten Nazibusses stand. Er habe sich, als der Bus bei einer Polizeisperre anhalten mußte, in der Stadt verfahren und sei dann einem anderen NPD-Bus gefolgt, um zum Aufmarsch nach Rostock-Dierkow zu kommen. Dabei sei er zufällig am Zelt vorbeigefahren.

Die Staatsanwaltschaft Rostock hatte direkt nach dem Unfall Anklage gegen W. wegen "fahrlässiger Körperverletzung" erhoben. Für Rechtsanwältin Gabriele Heinecke, die Holger S. als Nebenklägerin vertritt, eine unverständliche Entscheidung: "Diese Anklage suggeriert, daß es sich um einen normalen Verkehrsunfall gehandelt hat. Hier hätte man zumindest wegen eines versuchten Tötungsdeliktes anklagen müssen."

Heinecke vertritt zudem die Auffassung, daß das zur Zeit zuständige Amtsgericht Tecklenburg das Verfahren an die Jugendkammer in Münster abgeben müßte. Der zuständige Einzelrichter hatte die Sache dem Jugendschöffengericht Ibbenbüren zur Übernahme vorgelegt, da er daran zweifelte, daß seine Strafgewalt ausreichte.

Doch das Schöffengericht lehnte im Mai die Übernahme des Verfahrens ab und regte eine Einstellung gegen eine Geldstrafe von 2 000 Mark an. Begründung: Holger S. habe "nach Einholung der schriftlichen Zeugenaussagen durchaus Anhaltspunkte für ein erhebliches Mitverschulden des Geschädigten, der einfach auf die Straße gelaufen sein soll, vor(gelegt). (...) Mildernd wird weiter zu berücksichtigen sein, daß zugunsten des Angeschuldigten von einer Panikreaktion auszugehen sein wird, in der sich ein Fluchtinstinkt durchsetzte."

Inzwischen habe auch der Tecklenburger Richter, an den das Verfahren zurückverwiesen wurde, eine Einstellung angeregt, erklärte ein Justizpressesprecher. Sollten die Staatsanwaltschaft und die Verteidigerin von Marc W. diesem Schritt zustimmen, hätten die Nebenklage-Anwältin und Holger S. keine juristische Möglichkeit, das Verfahrensende zu verhindern.

Heinecke kritisiert zudem, daß im gesamten Verfahren der politische Hintergrund und eine politische Motivation des Angeklagten ausgeblendet wurden. "Die Empfehlung des Richters, das Verfahren einzustellen, ist eine klare Parteinahme für eine Seite", so Heinecke. "In den Zeugenaussagen gibt es nichts, was diese Einstellung begründen könnte."

UnterstützerInnen und FreundInnen von Holger S. rufen jetzt zu einer Faxkampagne an den zuständigen Richter auf, um die Einstellung des Verfahrens zu verhindern. Holger S., der zunächst drei Wochen im Koma gelegen hatte, befindet sich noch immer in einer Rehabilitationsklinik.