Alternative Lebensformen

Meinungen überall

Ich weiß ja: Sie können ihn auch nicht mehr hören. Aber es muss sein. Statt des wirklichen Namens können wir ja Neubonn sagen. Das klingt ein bisschen besser. Neubonn also ist in letzter Zeit in aller Munde. Es gibt niemanden, dem nicht etwas zu Neubonn einfällt.

Okay, vielleicht guck ich zu viel Fernsehen. Vielleicht geh ich zu oft zum Arzt und lese deswegen zu viel Zeitung. Und vielleicht gehe ich auf die falschen Partys. Klar muss man dann denken, dass Neubonn das Thema des Jahres ist. Und es wird ja noch schlimmer. Ich sag' nur: 3. Oktober und Silvester und 9. November. Dann wird es kein Halten mehr geben für Experten, Liebhaber, Touristen, Politiker, Reporter: Sie werden uns noch mehr als sonst ihre Meinung über Neubonn unterjubeln. So gesehen müsste man sofort Reißaus nehmen. Bleibt man, ist der letzte Rest an Unbefangenheit hinüber. Und seinetwegen ist man doch überhaupt erst nach Neubonn gekommen.

Derzeit sieht nämlich alles danach aus, als wolle man einem dieses nette und fidele City-Feeling austreiben, um einem stattdessen Auffassungen über die Stadt einzutrichtern, die einen zum bescheidenen, aber auch stolzen, ehrfürchtigen und praktischerweise selbstkontrollierenden, vergnügungs- und konsumgeneigten Hauptstadtbürger machen. Andererseits läuft doch alles bestens. Man ist an einem Ort, über den alle reden, wo etwas los ist, wo ziemlich viel Geschichte passiert. Man weiß ja gar nicht mehr, wie gut man es hat.

Neubonn schmeichelt einem und irgendwie ist man per Wohnsitz auch wichtiger als jemand in Lüneburg oder Essen. Aber leider, leider führen diese Möglichkeiten nicht zum persönlichen Hauptstadtglück. Man kann weder die Besonderheit Neubonns verleugnen, noch kann man sich so richtig mitfreuen auf dem Hauptstadtrummel. Dieses Dilemma ist angesichts von Hungerkatastrophen, Krankheiten oder großen Pleiten ein eher kleiner, schon luxuriöser Kummer, aber deswegen ja nicht weniger abschaffungswürdig.

Also was tun, wenn mal wieder jemand kommt und einem seine Meinung über das Verhältnis von Weltstadt und Prenzlauer Berg aufschwatzen will? In die Offensive gehen und fachsimpeln, auf dass sich die Decke wölbt? Geht nicht - man würde selbst zum Anwalt Neubonns werden. Und wenn einem jemand euphorisch, angetan, gar inspiriert daherkommt? Wenn jemand den Hauch der Geschichte in der Breiten Straße gesehen haben will? Zurückschlagen, gaga werden, sich für keinen Unfug zu schade sein?

Nein, man wäre nicht mehr derselbe. Was machen mit den Ostmentalen, den Westnasen, den Mauerschützen, den drei Damen vom Grill, Entspannungspolitikern, Kiezhansis? Den Herrschaften eine eigene Position entgegensetzen und sich eine Strategie zurechtlegen? Macht man nicht. Standpunkte halten nur auf. Nein, was man auch tut, es tut nicht gut und führt zu nichts.