Hinter den sieben Bergen

Bloß nicht erwachsen werden. Viennale 99: Ein Bericht aus dem Haiderreich.

Einmal über die Grenze, verstummt der Chor der Entrüstung, der in Deutschland den Aufstieg des ostmärkischen Führers begleitet. In Wien wird Haider als Normalfall gehandelt.

Und ich fürchte, es ist zu wenig, mit dem Finger auf die anderen zu zeigen. Eine Jugend, die es reizvoll findet, sich leicht beeinflussen zu lassen, macht sicherlich an Staatsgrenzen nicht Halt. Eine Einladung für den Politiker, der diese Disposition instrumentalisieren möchte. Was geht vor? Wer das dumpfe Gefühl hat, mit Warnen & Mahnen sei nicht genug getan, tut gut, sich auf einem Filmfestival wie der Viennale umzugucken. Im Hauptfestival-Kino, dem großen und stets überfüllten Gartenbau, dominierte das ganz junge Kino-Publikum. Und was gab es in Wien zu sehen? Filme aus der ganzen Welt, in der eben diese Generation Latenzen auskostet, pathetisch die große Erwartung ausspielt und ausprobiert, wie das ist, sich von wem beeinflussen zu lassen.

Wenn es Ziel der Filmfest-Dramaturgie war, ein weltweites Generationenbild wahrnehmbar zu machen, dann ist sie geglückt. Ungeachtet des Umstands, dass man Diskurse nicht ins Anthropologische abdrängen darf, ich weiß, ich weiß, aber ich berichte ja bloß. Also von China/Hongkong bis Österreich, der Reihe nach.

Wir reden nicht von diesen Lebensgefühl-Filmen. Beginnen wir mit einem historischen Kostümfilm aus Hongkong/ China 1996: "Feng Yue" ("Verführerischer Mond") von Chen Kaige, erlesen fotografiert von Christopher Doyle, der auch für "Psycho" von Gus Van Sant verantwortlich ist. "Feng Yue", ein Epos übers Erwachsenwerden. Über eine Art Krankheit. Zu spät: "Wären wir doch bloß nicht erwachsen geworden!"

Ein anderer Film. Eine melodramatische Kunstwelt. Der schöne Prinz und die junge Bettlerin. Oder der ziellose, reiche Junge aus dem Schloss in der Normandie und die bosnische Asylantin, die weiß, was sie will. "Pola X" (1999) von Léos Carax ("Die Liebenden von Pont Neuf"): hoch gestimmte Gefühle von erheblichem Pathos und doch wirklich. Was motiviert, kommt nicht aus dem Diesseits der eintönigen Welt. Hinter dem Alltag wartet die große Liebe oder etwas, das alles anders macht. Der schöne Pierre (Guillaume Dépardieu): "Mein ganzes Leben habe ich auf etwas gewartet, was mich vorwärtstreiben würde ... jenseits all dessen".

Die Sehnsucht nach dem Reiz jenseits der Pflichten als Ehemann, Vater, Arbeitnehmer. Aus der Haut fahren. Sich von einer neuen reizen zu lassen. In "Peau neuve" ("Neue Haut") der 35jährigen Französin ƒmilie Deleuze geht es um einen Familienvater, der soeben bemerkt hat, wie erwartungslos das Diesseits ist, er lässt sich in einem Lager umschulen. Auf die Bedienung schwerer Baumaschinen. Und er polt seine Beziehungen um. Lebenspartner wird der ganz junge Manu, "der keinen Codes folgt, keine Rollen spielt und niemanden nachahmt". Manu (Marcial Di Fonzo Bo) ist das autarke Kind, das für alle Erwartungen gut ist, inklusive der, dass er es doch packt, die große Maschine zu bändigen und den Erwachsenen zu folgen. Gedreht ist dieser schön gespielte Film wie ein Doku-Drama, freilich ein nicht eben gängiges.

Ich darf an dieser Stelle zwischenschalten, dass ich es auch nicht toll finde, seminarmäßig einen Film nach dem anderen abzuhandeln, bloß um meine These zu belegen. Viel lieber hätte ich erzählt, was mir Moritz Bleibtreu, Udo Kier und Grete Tiesler erzählt haben. Schade eigentlich. Aber jetzt mit Anekdote und Interview zu kommen, passt nicht ins Sendeformat, den Artikel-Look, die General-Latenz, das Generationen-Jenseits oder wie auch immer.

So viel aber doch: Grete Tiesler hat eine einprägsame Rolle im eindrucksvollen Generations-Film der 28jährigen Österreicherin Barbara Albert: "Nordrand" (1999). Darin versuchen eine Wienerin und eine Serbin, sich ein Bild von einer Welt zu machen, die sich, wir haben 1995, neu formatiert. Wie geht das, sich beeinflussen zu lassen? "Nordrand" wird nicht explizit; ich kann hier keinen Merksatz zitieren; die Gesten, die Details sind es, die das Gefühl transportieren, dass die ganz Jungen ganz schön aufeinander angewiesen sind. Grete, die Erwachsene, schiebt sich energisch den etwas kurzen Rock runter; die Bewegung stimmt, sie kann die allgemeine Erwartung nicht bedienen, weil sie selbst Konkretes erwartet.

Mein letzter Halbsatz führt nicht weiter. Ich muss genauer werden. Udo Kier spielt die Hauptrolle in einem Film, in dem es um Pädonekromanie geht. Dänen graben in Rumänien eine Knabenleiche aus, um das zu tun, was sie tun müssen. Vom Kind, auch dem toten, ist die Rettung der Welt zu erwarten. Sagt Anders Ronnow-Klarlund: in seinem "Besat" ("Besessen"), 1999 gedreht in Lars von Triers Zentropa-Studios. Anders ist 27. Sein Bruder Martin hat den elektronischen Score ausgebrütet, der Signum für die Wiener Zuschauer-Generation ist. Ton und Bild sagen genug. Jedes mahnende & warnende Wort wäre periphere Erwachsenenwelt.

Wir sind das Zentrum. Müssten die 16jährigen sagen. Aber sie handeln stattdessen. Die beiden Schülerinnen Elin und Agnes werden auf dem Klo erwischt. Sich rechtfertigen? Aber hallo. "Wir sind Lesben und gehen jetzt ficken", kündigt die neue Fraueneinheit den lieben Mitschülern und Lehrern an. Ein völlig unkomplizierter, märchenhaft realistischer Coming-out-Film des Schweden Lukas Moodysson, 29: "Fucking Amal", gedreht 1998. Die Erwachsenen spielen in der Provinzstadt Amal eine Rolle zum Abgewöhnen.

Moritz Bleibtreu wird in "Luna Papa", dem 1999 in Tadschikistan von Bakhtiar Khudojnazarov gedrehten Film, kindisch. Als verspielter Zurückgebliebener, ganz bei sich selbst, tummelt er sich durch die phantastische Realität des Films. Allein unter Tadschikistanern. Zwölf Wochen Drehzeit. Bleibtreus Augenschlitze haben sich geöffnet. Quillt da nicht schon eine Pupille heraus? Die Lippen sind noch wulstiger, aufgesprungen, die Stoppeln länger. Das sieht gar nicht nach Hollywood aus. Er passt dahin, wo die 16jährige Mamlakat das Regiment führt. Und wo der ortsansässige Regisseur frisch fabuliert. Wunder sind zu erwarten. Dass sie passieren, dafür muss man selber sorgen.

In "Phörpa" ("Spiel der Götter"), dem 1999 in Bhutan gedrehten und gerade in Deutschland angelaufenen Film, kommen die Schüler ohne höhere Mächte aus. Regisseur Khyentse Norbu greift zum Mittel der bei uns weniger bekannten Klosterkomödie. Am Fuß des Himalajas. Was haben Jungmönche im Kopf? Den Unsinn, den alle Schüler machen, wenn von höheren Dingen die Rede ist. Aber eins erscheint sinnvoll: sich einen Fernseher zu beschaffen und das Endspiel der Fußball-WM zu sehen. Frankreich gegen Brasilien. Wie kriegen die Schüler das Geld für die TV-Miete zusammen? Werden sie die Satellitenschüssel rechtzeitig vor dem Anpfiff montiert haben?

Wir gehen der eurozentristischen Perspektive verlustig, die besagt, dass im (exil-) tibetanischen Kloster total vergeistigte Esoteriker herumschweben. Stattdessen übernehmen wir die Perspektive der Jungmönche. Und die ist WM-zentristisch. Eine Einladung zur weltweiten Kommunikation. Verständigungsprobleme bei der Fußballübertragung? Na, bitte.