Wo ist die Peripherie?

Jenseits von offizieller Repräsentation und Mainstream verbirgt sich die Drittkultur. In den Schrebergärten Manhattans, Wiesbadens, Kreuzbergs und Wels'. Festival-Hopping

Auf der Lower East Side, zwischen den Avenues A und B, Höhe 3. bis 8. Straße sprießt & gedeiht es in Höfen und auf den Fundamenten abgerissener Häuser: schmucke Schrebergärten, angelegt und gepflegt von ziemlich jungen Besetzern öffentlichen Grund und Bodens, den Squattern. Drumherum Slum, Dreck und Müll, weswegen der New York-Film von 1998 zutreffend »Dirt« heißt. Regisseur David Evans zeigte seine Dokumentation als Europa-Premiere auf dem Exground-Festival in Wiesbaden.

Der Dreck-Film ist munter musikalisch organisiert. Wir hören Bob Golden, Rusty Magee, Monica Zetterlund, Marian Chang und Paul Goldman. Das bewahrt uns davor, Betroffenenleid zu teilen & Und-dann-ist-auch-gut. Schon bitter, dass die Stadt es sich anders überlegt hat: Erst war es opportun, das Slum-Bild zu verschönern; inzwischen wird die Lower East Side schicker, und New York schickt sich an, die Squatter-Gärten

zu räumen, zu planieren, Rasen auszusäen, einzugittern und zu verkaufen. Wie die dicke Raupe den Boden platt macht, das sah ich mit eigenen Augen sowohl im Film als auch live in der East, 8th st., direkt vor der illegalen, nicht-fundamentalistischen Lesben-Herberge, in deren 6-Bett-Zimmern auch männlich zu definierende Obdach Suchende willkommen sind.

Falls jetzt jemand fragt, was das für ein Scheiß ist, »Dirt»-in-Wiesbaden mit Kuhlbrodt-in-New- York in einen Topf zu werfen, dann sind wir auf dem dramaturgisch richtigen Weg, von der Exposition zur Theorie der Schrebergarten-Kultur zu kommen. Ich darf zwischenschalten, dass im »Dirt»-Film jemand ausdauernd damit beschäftigt ist, seinen Topf Scheiße in das Gemüsebeet zu tragen, weil genau das die beste Düngung von allen ist, wie man sieht. Außerdem möchte ich außer der Lower East Side und Wiesbaden noch das Grenzgebiet von Kreuzberg und Mitte sowie die oberösterreichische Stadt Wels ins Spiel bringen.

Zum ersten Mal wieder ein Welser Filmfest. Ich fand's gelungen: Das Periphere trieb herum, rieb sich hier und dort, irrte im Leeren und machte sich unvermutet fest. Prima, um von dort zu unvorhersehbaren Frustrationen, zu jähen Querverbindungen und zur florierenden Theorie des Peripheren zu kommen, genauer gesagt zur »Drittkultur«, wie es in der »Dirt»-Kultur des Schrebergarten-Films so schön gesagt wird.

Ich kann's nicht ändern: Alles was ich hier beschreibe, stammt aus dem Monat November. Also weiter im Verhaspeln: Es gibt die eigene offizielle Kultur, die unter dem Namen »Children of Berlin« nach New York geschickt wird und einem durchaus fremd bleiben kann (ausgestellt noch bis Anfang Januar im P.S.1 in Queens, verknüpft mit dem Museum of Modern Art). Zweitens verhalten wir uns richtig, wenn wir die Kultur der Dritten Welt als fremde erleben. Und drittens ist geografisch, ethnisch, aber eben nicht generationenmäßig grenzenlos, wer sich in der Generation, Sozialisation, Bandenzugehörigkeit, den Vor- und Hasslieben aller Art in der Drittkultur verständigt - so, allerdings dunkler, David Evans in »Dirt«. In seinem Film, von dem ich mich nicht lösen kann, bringen die Besetzer vor ihren Gärten Schilder an, auf denen steht: »Eigentum des Volkes«. Das New York Police Department fährt Wannen auf und prügelt Leute rein. Was ist daran anders als das, was demnächst mit den Lower-East-Side-gleichen Gärten am Bethaniendamm Ecke Mariannenstraße (hoffentlich nicht) passieren wird? Man braucht in keinen Film zu gehen, sondern nur zu Fuß vom Künstlerhaus zum Ostbahnhof, um (Dritt-)Kultur zu erleben.

Die Kunst des Peripheren ist schiere Gegenwart. Logisch, dass 60 Stammgäste Cookie's Bar von Mitte nach New York ins P.S.1 folgten, wo der Tresen in amerikanischer Stretch-Fassung wiederaufgebaut war, in den Rang eines Exponats erhoben (Erstkultur), gleichwohl aber wie in Berlin benutz- und benässbar. Kurator Klaus Biesenbach (Kunst-Werke Berlin) hatte keinen schlechten Einfall. Mitte ist auch in Queens.

Geografie können wir vergessen. Ebenso die sonst doch so gut gesicherten Grenzen von Mainstream und Frank-Sinatra-Gedudel. »I did it May Way«, tönt es wieder und wieder im japanischen »Swallowtail Butterfly« von Shunji Iwai. In den Slums der Geld-(Yen-)Stadt geht's um die Kohle. Kids- und Schülerbanden werden immer schlauer, Geld zu machen. Und wieso Sinatra? Wer das mit dem May-Way peinlich findet (und das sind viele), hat schon verloren. Denn das Mainstream-Tape enthält einen magnetischen Code für das völlig problemlose Fälschen von Geld.

Die Kids schieben das Falsifikat in den Yen-Scheine-Wechsel-Automaten und kriegen echte Scheine zurück. Dank Sinatra. Zur Schülerkultur gehört, dass der Erwerb nicht nur angelegt wird (Kid-Karaoke), sondern ebenso gut gefaltet, geknüllt und verbrezelt werden kann. Diese autonome Geldkultur muss sein, denn die Slum-Leute haben die falsche Staatsangehörigkeit und sind von Abschiebung bedroht. Sie brauchen etwas richtig Unjapanisches, um sie selbst zu sein. - So gesehen auf dem Exground der hessischen Hauptstadt. Der Film wurde dort verstanden (Alter des Publikums im Schnitt: 22).

Auf der Kinova in Wels (? - ja, bei Linz) stellte der Finne und Absolvent der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin, Hannu Salonen, seinen deutsch-finnischen Debüt-Spielfilm »Downhill City« vor. Musiker Artsi verlässt Finnland. Das Drittkulturelle, was er nicht mitnimmt, findet er in Prenzlauer Berg wieder. Besetzte Wohnungen gibt es noch hier und da. Salonens Film lebt von tausend wahren, so noch nie im Film gezeigten Beobachtungen. Der dichte, entspannte und in verschiedener Hinsicht ergreifende Film nimmt keine der sechs Personen, mit denen er mitläuft, in Besitz. Zwei Ältere sind dabei.

Das gibt Anlass, der Frage nachzugehen, ob die von mir behauptete Drittkultur exklusiv für die Junggeneration reserviert ist. Um es gleich zu sagen: Sie muss es nicht sein. Beweis: »Downhill City«. Und: So, wie die Welser Kinova von Andreas Gruber (»Hasenjagd«) souverän inszeniert war, fanden die Kinokulturen zueinander. Die Alten fabulierten sich aus ihren Fixierungen heraus. (Politische) Wunschträume in Erfüllung. Im rumänisch-französischen »Train de vie« (Zug der Hoffnung) deportieren sich 1941 Ost-Juden selbst - Richtung Palästina. Eine ambivalente Komödie von Radu Mihaileanu. Michele Placido hängt in seinem Spielfilm »Del perduto Amore« (Von verlorener Liebe) dem verlorenen Glauben an die Kommunistische Partei Italiens, genauer: an seine kommunistische Dorflehrerin nach. Auch formal ein Film der fünfziger Jahre: ein Schüler, die erste Liebe. Zukunftsträume in Kuba: »La vida es silbar« (Das Leben, ein Pfeifen), jetzt im Kino, auf dem Festival in Wels in einer Traumgemeinschaft: Eine amerikanische Ballonfahrererin schwebt in Havanna ein; nimmt sie den schönen Fischer mit? Und Regisseur Gianni Amelio brachte sogar den kollektiven albanischen Traum der frühen neunziger Jahre im Titel seines Films unter: »L'America« zu Schiff, erst mal nach Italien.

Kriegen wir die Kurve zur unträumerischen Allgegenwärtigkeit der so genannten Drittkultur? Emir Kusturica (»Underground«) startete mit seiner Band Zabranjeno Pusenje (No Smoking) von Wels aus seine Tournee nach Deutschland. Freundlich lächelnd kündigte er serbische Weisen an. Das war bodenständig verrockt. Im Alten Schl8haus saß sein Sohn am Schlagzeug. Er war so alt wie die Schüler von Wels. Alle waren da. Zum Schrebergarten-Sound.