Die Pärchen-Maschine

Liebe, Sex, Leidenschaft und Abgründe als Inszenierung vor privatem Hintergrund: Boss Hog spielen Funk-Punk und machen Sumpfrock.

Unbeirrt, als würde die Welt sich nicht schnell genug drehen, rocken das New Yorker East Village und die angrenzende Lower Eastside vor sich hin. DJ-Culture, Clubbing, digitaler Alltag hin oder her: Wenn Thurston Moore & Guests, also Sonic Youth und Umfeld, in einem Club an der Houston Street auftreten, ist das immer noch ein gesellschaftliches und künstlerisches Großereignis und erregt mehr Aufmerksamkeit und Interesse als ein Auftritt von, sagen wir mal, Grandmaster Flash, den es an diesem Ort wahrscheinlich nie geben würde.

Klar, jede Szene braucht ihre lokalen Helden mit internationalem Glanz und soll sie lieben, selbst wenn der Glanz immer mehr zur Patina wird. Doch wird man das Gefühl nicht los, dass die Boheme von einst in ihrer eigenen Ästhetik gefangen ist und den nachfolgenden Generationen nicht viel Neues einfällt. An den schwarzen Brettern der einschlägigen Cafés und Bars werden über die aushängenden Zettel fast ausschließlich unzählige Sänger / Drummer / Bassisten für (Punk-) Rockbands gesucht, und Iggy Pop ist immer noch die nicht zu vernachlässigende, historische Größe, auf die man sich gerne bezieht.

Dabei sind der Dreck und die Gosse, aus der viele Bands einst krabbelten, längst verschwunden. Denn die süd-östlichen Bezirke der Stadt - einst noch letzte Flecken von Verrottung und Schande - sind inzwischen genauso unter den Gentrifizierungshammer gekommen wie der Rest von Manhattan. Das heißt, ohne viel Geld läuft gar nichts. Der ambitionierte Rocker mit attitude muss tagsüber Erwerbsarbeit nachgehen, besser noch an der Börse spekulieren, um sein alternatives Dasein am Abend ins rechte Licht zu setzen. Das alles lässt den New Yorker Underground-Punk-Rock immer unzeitgemäßer und zahnloser klingen. Niemand merkt, dass es albern ist, wenn man in diesen Clubs so tut, als sei es noch irgendwann zwischen 1982 und 1992, zwischen Punk und Grunge also, während draußen das einundzwanzigste Jahrhundert angebrochen ist und die Prämissen von damals sich schon längst auf den Kopf gestellt haben.

Der Lichtblick dieser New Yorker Szene heißt nach wie vor Boss Hog, die - so viel vorweg - mit ihrem neuen Album »Whiteout« nicht angetreten sind, ihrer Lower-East-Side-Posse einen revolutionären Weg aus der Selbstwiederholung aufzuzeigen. Boss Hog sind eine fünfköpfige Band, die mit ihrer Vita bei der Underground-Glaubwürdigkeits-Olympiade ganz vorne mitspielen würden. Mittelpunkt der Band ist die Sängerin Cristina Martinez und ihr Gatten Jon Spencer, ein Pärchen, das sich bereits vor über einem Jahrzehnt internationale Streckenvorteile mit ihrer Band Pussy Galore erkämpfte. Cristina Martinez ist bei Boss Hog der Chef. Sie schreibt die Texte, singt und ist für das gesamte Erscheinungsbild der Band inklusive Video verantwortlich. Außerdem bringt sie mit jeder Neuerscheinung die ansonsten eher rumpflose Popjournalisten-Mannschaft zum Fabulieren. Frei nach dem Motto: Cristina Martinez ist total geil, aber da ich mich nicht traue, es einfach so zu schreiben, schreibe ich ganz viel anderes Zeug drumrum. Jon Spencer ist jener Jon Spencer, der mit seiner Band Blues Explosion die Welt seit Jahren in Entzücken versetzt.

Vier Faktoren machen Boss Hog zu einem liebenswerten Ereignis. Erstens macht ihre Musik Spaß. Das mag sich banal anhören, aber, bitte schön, welche Post-Punk-Grunge-was auch immer-Band macht denn Spaß? Und komme mir niemand mit Bands, die den Spaß auch noch plakativ in ihr Genre pressen wie Fun Punk. Dazu sollen sich Snowboarder die Beine brechen. Boss Hog machen richtig Spaß, weil Charme, Humor, Intelligenz und Sexualität von Cristina Martinez auf das Sumpfgerocke von Jon Spencer treffen. Sumpf wie Südstaaten. Sie sind keine weiße Jungsrockband, sondern eine Band, die für die Einflüsse schwarzer Musik offen ist und die dazu noch eine der charismatischsten Frontfrauen hat. Boss Hog sind Funk und Punk, Hüftschwung, gereckte Faust und mit Gegenständen nach einander schmeißen. Das ist so, weil Boss Hog zweitens auf einer Paarkonstellation beruht.

Jungsband-Bands gibt es mehr als genug, Frauenbands gibt es einige und es gibt ein paar gemischte. Die Pärchenband, die explizit auf diese Spannung setzt, eine permanente Dialogsituation heraufspielt und Liebe, Sex, Leidenschaft und Abgrund als Dauerthema mit real-privatem Hintergrund inszeniert, gibt es sonst nicht. Was zu Faktor Nummer drei führt, warum man sich Boss Hog nicht entgehen lassen sollte: Sie sind eine der aufregendsten Live-Bands, die es gibt. Dogmatische Raver wurden während eines Konzertes zu Fans. Ich habe es selbst gesehen.

Fünf Jahre haben Boss Hog sich Zeit gelassen mit ihrem neuen Album »Whiteout«. Fast hatte man sie schon zu den schönen Erinnerungen gelegt. Ein Grund, warum es so lange dauerte, ist, dass das ewige Locken und Necken zwischen Martinez und Spencer Früchte getragen hat. Seit drei Jahren haben sie einen Sohn. Vor dem neuen Album verließen sie aber auch das Major-Label Geffen zu Gunsten des Indie-Labels City Slang. Seitdem arbeiten sie allerdings mit mehr und bekannteren Produzenten zusammen als jemals zuvor, wie zum Beispiel mit Tore Johanssen, dem Produzenten der Cardigans. Das Album ist deswegen jedoch nicht exorbitant poppiger geworden. Vielleicht ist es an einigen Stellen ein wenig glatter und vielschichtiger im Klang, aber Boss Hog klingen noch immer mehr nach sich selbst als nach irgendetwas anderem. Und das bedeutet auch, dass man sich in »Whiteout« erst einmal einhören muss, und dass es mit ein wenig Geduld von Mal zu Mal besser wird - bis man nicht mehr davon lassen will.

Noch ein vierter und durchaus vernünftiger Grund, Boss Hog zu lieben, ist ihr Schnickschnack drumherum und ihr freudespendendes Merchandising. Bei ihrer Tour vor vier Jahren verkauften sie rosa Unterhosen, auf denen vorne Boss Hog und hinten »I Dig You« gedruckt war, die auch nach Hunderten von Waschgängen Form und Funktion beibehalten haben. Diesmal gibt's beim Erwerb der CD - zeitgemäß, aber nicht rasend modern wie die Band selbst - einen Cristina-Screen-Saver sowie ein Computerspiel, in dem man auf der Suche nach verlorenen Boss-Hog-Bändern durch das East Village und die Lower Eastside zu den Lieblings-Hangouts von Martinez und Spencer geschickt wird. Und wenn der New Yorker Bürgermeister Rudolph Giuliani nicht als nächstes die Sperrstunde auf 18 Uhr herunterschraubt, kann man, nachdem man das Spiel hinter sich hat, starspotten gehen, heißt es. Was dann doch zu viel des Guten ist.

Boss Hog: »Whiteout«. City Slang (Virgin)