Alternative Lebensformen

Knochenzähler

Er fiel ins Wasser. Und zwar in das der Spree. So wird es zumindest von den »Autonomen Totengräbern« behauptet. Die wollen vergangene Woche »den hohlen Schädel von Horst Wessel aus braunem Schlamm ausgegraben und wenig feierlich der Spree übergeben« haben. Der SA-Sturmführer ist damit nicht nur tot, sondern jetzt sogar kopflos tot. Zugegeben, so groß ist der Unterschied nicht. Aber der Akt der nekrophilen Wessel-Hasser hat ja auch mehr symbolischen Wert: Ein Märtyrer ohne Kopf nützt den Nazis nichts, dachten sich die selbst ernannten Totengräber wohl. Der Märtyrer ohne Schädel war vorher aber noch viel mehr Märtyrer: einer ohne Gebeine - ja, er hatte noch nicht einmal ein eigenes Grab. Nur das seines Vaters - Ludwig Wessel.

Den Nazis reichte das als Pilgerstätte. Musste wohl auch, denn das Grab des SA-Sturmführers, der 1930 nach einer Schießerei unter Zuhältern daran verstarb, dass seine Kameraden einen jüdischen Arzt daran hinderten, ihn zu behandeln, gibt es nicht mehr. Einst lag der Wessel direkt neben seinem Vater auf dem Berliner Nikolai-Friedhof, Jahr für Jahr von den Nazis verehrt. Bis die deutsche Welt ins Wanken und die Alliierten nach Berlin kamen.

Dann nämlich wurden die Gebeine des Märtyrers fachgerecht entsorgt: Die Alliierten planierten die letzte Ruhestätte des Friedrichhainer SA-Mannes. Den Nazis war's entweder egal oder sie wussten es nicht besser: Sie pilgerten trotzdem zum Nikolai-Friedhof, vermehrt seit der deutschen Vereinigung. Am Grab des Märtyrervaters legten sie »stoßtruppweise und unter strenger Polizeiobservierung Blumen und Gebinde mit schwarz-weiß-roten Schleifchen« (Berliner Morgenpost) nieder. Und - das hatte das Springer-Regionalblättle offenbar übersehen - vor allem unter strenger Journalistenobservierung.

Denn mit der Anmeldung einer »Horst-Wessel-Gedenkdemonstration« hatte ein Berliner SA-Fan es geschafft, die Öffentlichkeit auf sein einplaniertes Vorbild hinzuweisen. Erst recht mit der Ankündigung, künftig jedes Jahr zu Ehren des toten Zuhälters aufzumarschieren. Die Demonstration aber fiel ebenfalls ins Wasser. Der Berliner Staatsschutz bot eine achtseitige Verbotsbegründung auf und setzte sich damit vorm Oberverwaltungsgericht durch.

Auf die emsigen Polizisten wartet nun bereits der nächste Auftrag: herauszufinden, was die »Autonomen Totengräber« auf dem Nikolai-Friedhof angestellt haben. Gegraben worden ist auf dem Totenacker tatsächlich. Aber wer weiß schon, ob die Nummer mit dem erbeuteten und entsorgten Wessel-Schädel stimmt? Die Spree abzusuchen, ist eine Höllenarbeit, denn die ist ziemlich lang. Also, liebe Staatsschützer, da bleibt nur eins: selber ausbuddeln und die verbliebenen Knochen zählen!