»Das Weimarer Kino«

Das Design der Ufa

Thomas Elsaesser interpretiert die Geschichte des Weimarer Kinos als Produktgeschichte.

Einer der schönsten Western ist John Fords » Der Mann, der Liberty Valance erschoss«. Darin geht es um die gesellschaftliche Position der Wahrheit: Ist es besser, der Vergangenheit die Form von Legende und Mythos zu geben, um die auseinanderstrebenden Kräfte der Gesellschaft darüber zu einigen, oder ist die offene, vielleicht unbefriedigende Form des endlosen Disputes darüber, was die Wahrheit einer Vergangenheit ist, angemessener? Fords berühmt gewordene Antwort: If fact becomes legend print the legend!

Kein Kino ist so sehr Legende wie das der Zwanziger-Jahre, das Kino der Regiekünstler Murnau, Lubitsch und Lang. Der vor allem durch seine umfassenden Arbeiten zum deutschen Kino hervorgetretene Filmwissenschaftler Thomas Elsaesser führt in seinem neuen Buch vor, wie stark zwei filmhistorische Werke unsere Betrachtungsweise dieses Kinos bis heute prägen: Lotte Eisners »Die dämonische Leinwand« und Siegfried Kracauers »Von Caligari zu Hitler«. Beide Bücher entstanden nach 1945, in dem Bemühen, die Katastrophen zu erklären, die die Deutschen über die Welt gebracht haben, oder, um das, was wertvoll war an deutscher Kultur, zu retten.

Eisner erklärt den auffälligen Stil, die Nachtgestalten, Phantome und Irren des deutschen Films aus der Kunstgeschichte heraus, als Fortsetzung von deutscher Romantik und Expressionismus. Kracauer betrachtet die Filme wie die Psychoanalyse Träume, als Zeugnisse der psychischen Befindlichkeit Deutschlands. In den Kinobildern der zwanziger Jahre kann er schon den Hitler ausmachen, der real erst 1933 an der Macht ist. Beide Methoden betrachten Kinobilder nicht als Kinobilder, sondern als Dokumente in ganz anderen Kontexten: Kunstgeschichte und Soziologie.

Einer der Vorzüge von Elsaessers Essays: Ansichten und Theorien werden nicht triumphierend beiseite geschoben, weil manches an ihnen naiv oder falsch ist. So liefert der frühe Kracauer Elsaessers theoretisches Werkzeug zum Verständnis des Kinos. Kracauer sieht das Bewegungsbild des Filmes als das, was auch Schrift ist, als technisches Medium, als Form, in der Menschen sich und die Welt denken. Nicht: Eine Erfahrung wird mit Schrift ausgedrückt, sondern Schrift ist immer schon da und bestimmt, welche Form Erfahrung annehmen kann. Technologien durchdringen und verändern Bewusstsein. Die menschliche (Selbst-) Wahrnehmung einer hauptsächlich auf Schrift abgestellten Kultur ist eine ganz andere als die einer von Bildern dominierten. Kracauers in den Zwanzigern entwickelt, bis heute brisante Fragestellung: Wie kommt es, dass für den Massengebrauch bestimmte, industriell hergestellte, serielle Bilder des Kinos trotzdem Effekte von Subjektivität erzeugen? Sehr zu Recht geht es daher bei Elsaesser nicht um das, was man landläufig Filminhalt nennt, sondern um den Blick, der sich auf Filme richtet. Elsaessers entscheidende Kategorie zur Erfassung des Kinos: Design.

Besonders in Deutschland haben die maßgebenden Schichten Film nie als Kunst angesehen, sondern als billiges Vergnügen des Pöbels. Zugleich gab es mächtige internationale Konkurrenz, gegen die sich hiesige Filme behaupten mussten.

In diesem Spannungsfeld ersann die bedeutendste deutsche Produktionsfirma Ufa ein Konzept und einen Markennamen mit denen sich alles unter einen Hut bringen ließ: Dem Bildungsbürger wurden die kanonischen Literatur- und Theaterstoffe verfilmt (»Die Nibelungen«, »Faust«), dem Ausland eine Bezeichnung für alles Deutsche im Kino geliefert und dem Massenpublikum die Schaulust befriedigt - Filme wie »Faust« und »Metropolis« waren das am höchsten entwickelte Special-Effect-, Spektakel- und Action-Kino ihrer Zeit.

Elsaesser arbeitet anhand der Produktionsgeschichte einiger markanter Filme heraus, wie Montage, Lichtgebung, Kamera-Arbeit, Dekoration, Schauspiel, Inszenierung zu einem Film-Design ausgearbeitet wurden, das es dem Kino ermöglichte, seinen Platz zwischen traditioneller Hochkultur, neuer Großstadtkultur und Massengeschmack einzunehmen. Wenn man genau hinsieht, ist dieser filmische »Expressionismus« überhaupt nicht das, was die Kunst Expressionismus nennt.

Sieht man zur gleichen Zeit entstandene Filme aus anderen Ländern, so findet sich auch in ihnen die allein den Ufa-Filmen zugeschriebene Lichtgebungskunst. Das filmische Design leistet vor allem eins: Es verhüllt die technisch-industrielle Herkunft des Films. So nimmt Film eine imaginäre Identität an, die bis heute wirkt.

Mit Elsaessers filmhistorischen Entdeckungen vor Augen lässt sich sagen: Unser systematisches Ausblenden all dessen, was ein Film ist, was durch ihn hindurchfließt, macht aus ihm erst das, was wir in ihm sehen. Mit anderen Worten: Die gängigen Kategorien, mit denen wir Filme unterscheiden und einordnen (Kunstfilm oder Hollywood z.B.) erweisen sich als erwünschte Effekte genau jener Arbeit an der filmischen Oberfläche, am Design. Den Produzenten und Regisseuren allerhöchste Aufgeklärtheit im Umgang mit Markt-, Massen-, Kultur- und Konkurrenzanforderungen zu unterstellen, schmälert nicht deren Kunst, im Gegenteil: Elsaessers Blick auf die (Weimarer) Filmarbeit sieht Filme erst als die hochkomplizierte Mischform, die sie sind.

Um Thomas Elsaessers Buch zu würdigen, komme ich auf John Ford zurück. »Der Mann, der Liberty Valance erschoss« ist ein äußerst ambivalentes Unternehmen. Während der Film für die Legende plädiert, zeigt er auch die Wahrheit dahinter, dementiert die Legende also zugleich. Damit legt Ford, nach einem Gang durch alle Aspekte des Problems, die Entscheidung darüber, in welcher Form wir Vergangenheit aufbewahren und nutzen wollen, zurück in unsere Hände. Thomas Elsaesser folgt ihm darin. Die Methode von Elsaesser ist wie die des Westerns eine aufklärerische: Man kann sich der Geschichte nicht entledigen, außer in der Bewegung, sich ihrer bewusst zu werden.

Thomas Elsaesser: Das Weimarer Kino - Aufgeklärt und doppelbödig. Vorwerk 8, Berlin 1999, 358 S., DM 68