Freispruch im Gazi-Prozess

Fünf Jahre Transparenz

Freispruch für die türkischen Polizisten, die Demonstranten erschossen. Die staatliche Kontra-Guerilla hatte die Riots provoziert.

In Gazi kennt man das schon: Bereits im Morgengrauen zog am 12. März eine Polizei-Tausendschaft auf, die Zugänge zu dem mehrheitlich von Aleviten bewohnten Stadtviertel in Istanbul wurden systematisch abgeriegelt und kontrolliert. Da einige der Demonstranten wussten, was sie erwartete, waren sie bereits am Vorabend angereist und hatten die Nacht bei Freunden verbracht.

Wie jedes Jahr fand an diesem Tag die jährliche Großdemonstration statt: Genau vor fünf Jahren waren hier 28 jugendliche Demonstranten von der Polizei erschossen worden. Doch in diesem Jahr war die Stimmung noch geladener als sonst. In einem der absurdesten Gerichtsverfahren der türkischen Rechtsgeschichte waren vor knapp drei Wochen 18 Polizisten vom Strafgericht in Trabzon wegen fehlender Beweismittel freigesprochen worden, die beiden Haupttäter kamen mit einem lächerlichen Strafmaß davon.

Einer von ihnen, der Polizist Adem Albayrak, der in erster Instanz zu 24 Jahren verurteilt wurde, erhielt jetzt eine Strafe von sechs Jahren und acht Monaten. Da die Untersuchungshaft angerechnet wurde, konnte Albayrak das Gericht als freier Mann verlassen. Nach vier Monaten könnte er schon wieder in den Polizeidienst eintreten. Begründet wurde das Urteil damit, dass die Jugendlichen, die Albayrak mit gezielten Gewehrschüssen in Kopf und Brustbereich tötete, an kriminellen Handlungen beteiligt gewesen seien und der Aufforderung, sich zu ergeben, nicht Folge geleistet hätten.

Der ebenfalls wegen Mordes angeklagte Mehmet Gündogan wurde mit der gleichen Begründung und einem Strafmaß von drei Jahren und vier Monaten aus der Untersuchungshaft entlassen. Auch er kann nach fünfzehn Monaten wieder in Polizeidienst eintreten. Die Angehörigen der Ermordeten kündigten daraufhin an, vor den Europäischen Gerichtshof zu ziehen.

Schon bald nach dem Vorfall hatten die ballistischen Untersuchungen ergeben, dass alle Toten durch Polizeikugeln starben. Nach kurzer Zeit waren auch 35 »Provokateure« gefunden worden. Doch das Verfahren gegen die zwanzig mutmaßlichen Todesschützen wurde immer wieder erfolgreich verschleppt und in die Länge gezogen. Allein der Verhandlungsort wechselte ständig.

Zunächst wurde das Verfahren von Istanbul nach Trabzon verlegte. Nach nur einer Anhörung entschied die Strafkammer Trabzon, das Verfahren einzustellen: Die Beamten hätten in »Ausübung ihrer Amtspflicht« gehandelt. Als die Angehörigen der Getöteten Einspruch erhoben, landete die Akte schließlich beim Justizministerium in Ankara. Doch erst nach dem letzten Regierungswechsel, wurde das Verfahren endlich im September 1997 in Trabzon neu aufgerollt. Die Angehörigen beantragten eine Verlegung nach Istanbul, da die Prozessbeobachtung durch die Entfernung erschwert werde - jedoch umsonst.

Der Zivilpolizist Adem Albayrak, der in Gazi dabei fotografiert worden war, wie er mit einem Zielfernrohr am Gewehr auf Demonstranten zielte, erklärte in Trabzon, die Bevölkerung von Gazi sei eine Ansammlung von Terroristen. Diese Aussage wurde trotz Mahnung der Anwälte nicht in das Gerichtsprotokoll aufgenommen. Der Angeklagte Mehmet Gündogan erklärte im Gerichtssaal, er habe zwei Jugendlichen im Dienste des Vaterlandes erschossen. Die Richter bestätigten mit ihrer Entscheidung diese Haltung in der »türkischen Sicherheitspolitik«.

Angefangen hatte alles mit Schüssen, die aus einem Taxi auf vier alevitische Kaffeehäuser in Gazi abgefeuert wurden. Die Polizisten aus der nahe gelegenen Wache tauchten nur kurz auf und ließen weder die Leiche des erschossenen Aleviten entfernen, noch machten sie irgendwelche Anstalten, nach den Tätern zu fahnden. Aus Wut über die völlig gleichgültigen Sicherheitskräfte marschierten 500 bis 600 Bewohner des Viertels auf die kleine Polizeistation in Gazi zu. Als ein Demonstrant durch Schüsse aus einem Polizeipanzer getötet wurde, eskalierte die Situation, es kam zu einer Straßenschlacht mit der Polizei. Durch die nächtlichen Fernsehübertragungen aus Gazi alarmiert, strömten immer mehr Aleviten aus ganz Istanbul herbei, die Menge wuchs auf rund 2 000 Demonstranten an. Nachdem in Gazi und dem Stadtteil Ümraniye insgesamt 28 Menschen durch gezielte Schüsse getötet und etwa hundert zum Teil schwer verletzt worden waren, griff schließlich das Militär ein. Das erste Mal seit dem Putsch von 1980 wurde der Ausnahmezustand über einen Istanbuler Stadtteil verhängt.

»Der Mörder von Gazi ist der Susurluk-Staat«, ertönte es immer wieder bei der Demonstration letzte Woche zum fünften Jahrestag der Vorfälle. Denn bereits vor drei Jahren machten die Ermittlungen zur Zusammenarbeit des türkischen Staates mit der Mafia und der inzwischen nicht mehr zu leugnenden Kontra-Guerilla klar, was die Betroffenen längst wussten: Die Ausschreitungen von Gazi waren eine Provokation der staatlich gesteuerten Kontras. Die Verbindungen zwischen der so genannten Susurluk-Affäre und Gazi sind klar zu rekonstruieren: Im November 1996 verunglückte in der Nähe der Stadt Susurluk der Abgeordnete Sedat Bucak von der Partei des rechten Weges, zusammen mit Hüseyin Kocadag, dem ehemaligen stellvertretenden Polizeipräsidenten von Istanbul, und dem von der türkischen Justiz gesuchten ehemaligen »Grauen Wolf« Abdullah Çatli.

Seitdem steht Susurluk für die Existenz der staatlichen Kontra-Guerilla, die durch den Unfall entlarvt wurde. Çatli arbeitete lange Jahre als Killer für die türkische Regierung, die türkische Polizei versorgte ihn mit falschen Papieren. Seinen Waffenschein hatte der ehemalige Innenminister Mehmet Agar unterschrieben. Agar und Sedat Bucak saßen seit 1996 für Tansu Çillers Partei des rechten Weges im Parlament. Zu den Abgeordneten ihrer Fraktion gehörten ebenso der damalige Polizeipräsident von Istanbul, Necdet Menzir, und der ehemalige Gouverneur von Istanbul, Hayri Kozakcioglu.

Beide hatten während der »Unruhen von Gazi« Dienst und wurden damals für die Eskalation mitverantwortlich gemacht. Inzwischen ist bekannt, daß es sich hier um die Köpfe der türkischen Kontraguerilla handelt. Außerdem mit von der Partie in Gazi war auch der beim Susurluk-Unfall getötete Çatli-Freund und Polizeipräsident Kocadag. Im Zuge der plötzlichen Transparenz bei solchen Tabuthemen gab der ehemalige Vize-Sektionschef des polizeilichen Geheimdienstes, Hanefi Avci zu, der berüchtigte Kontra Mahmut Yildirim habe bei der Provokation in Gazi seine Finger im Spiel gehabt.

Der Stadtteil Gazi ist ein überaus geeigneter Ort, um Riots zu provozieren. Er ist einer der typischen Wohnviertel Istanbuls, in denen die verschiedenen Ethnien und Glaubensrichtungen - Türken, Kurden, Aleviten und Sunniten - vor allem eines gemeinsam haben: Sie teilen sich ihre Armut. Nationalisten, Islamisten und Aleviten leben in einer Zwangsgemeinschaft zusammen.

Über die Motive für die Provokation kann nur spekuliert werden. Sie mag als Anlass für eine darauffolgende Istanbul-weite Hatz auf »potenzielle Linksextreme« gedient haben. Denn nach Gazi kam es zu Massenverhaftungen und -Folterungen. Polizeipräsident Menzir betonte immer wieder, »er habe versprochen, der Anarchie in Istanbul ein Ende zu bereiten«.

An die Vertuschung oder Verschleppung polizeilicher Übergriffe hat sich die türkische Öffentlichkeit jedoch fast schon gewöhnt. Dass der Gazi-Prozess mit Strafmaßen endete, die an Freisprüche grenzen, löste keinen Protest aus. Auch dass gleichzeitig 380 Menschen bei der Großdemo am 12. März in Gazi festgenommen wurden und einige noch immer in Untersuchungshaft sind, nahm man hin. So hat sich in den vergangenen fünf Jahren nicht viel verändert: Nur das Schweigen ist noch drückender geworden.