»Heimweh« von Tim Staffel

Noch mal: Zärtlichkeit & Zorn

Tim Staffel bastelt mit »Heimweh« weiter am Outcast-Image. Aber nicht der Entwurf ist unsympathisch, sondern die Ausführung.

Roadmovie. Splatteroption. Paralleluniversum.« Tim Staffel macht nicht viele Umstände. Drei Wörter, hart aneinander gesetzt, und fertig ist das Programm, in das der 1965 geborene, in Berlin lebende Autor seinen zweiten Roman einrollt. Der Roman heißt »Heimweh« und handelt von jungen Männern, die unterwegs sind, weil eine Sehnsucht nach Geborgenheit sie treibt. Unterwegs in einem Ford Mustang, in schlammigem Gelände, irgendwo zwischen Berlin und Istanbul.

Beim Grenzübertritt - man erfährt nicht, von wo nach wo, wohl aber, dass Blauhelme auf beiden Seiten patrouillieren - fließt Blut, und das nicht zu knapp. Jemand isst ein Ziegenherz, viel später sticht einer ein Messer in den Hals eines anderen. »Komm kill, kill, Baby, kill«. Weil Drogen und krankheitsbedingter Kontrollverlust im Spiel sind, lassen sich die Halluzinationen nicht immer vom realen Geschehen scheiden. Vielleicht kommen die Hauptfiguren, Marvin, Tizian und Cem, von einem anderen Planeten, vielleicht nicht. Und nur ein Buchstabe und ein Buchstabendreher fehlen, damit aus »alien« »allein« wird.

Manchmal ist das gar nicht schlecht. Im Fall von Titti Twister zum Beispiel, einem DJ in einem Berliner Club namens WTF. Der Club existiert tatsächlich, in einem Altbau nicht weit von Spree und S-Bahn-Trasse, zwischen Friedrichshain und Mitte. Titti Twister raucht gerne Joints, und einmal rammt er sein Knie in eine Kaffeetasse, weil er glaubt, in eine Badewanne voll mit Kaffee zu springen. Hinterher schmerzt das Knie, aber Titti Twister bleibt guter Dinge. Er ist es auch, der von sich sagt: »Ich leg Platten auf und lauf durch meine Filme.« Leider ändert das nichts am weiteren Verlauf der Dinge.

Staffel selbst ist im WTF aufgetreten, hat mit DJ-Unterstützung und Breakbeats sein Debüt »Terrordrom« vorgetragen, ohne dass er auf den Text hätte schauen müssen. Mehr Sprechgesang als Lesung war das. Als er sein neues Buch vor einigen Tagen im Kölner »Studio 672« vorstellte, musste man in einer langen Schlange warten, bevor man in den Club hinuntersteigen durfte. Das war, als wollte man zum Auftritt eines angesagten DJs. Das Motto zur Lesung lautete »pop & poets«, und obwohl Staffel den Text recht brav vom Blatt ablas, war nicht zu leugnen, dass es um Literatur für Fans statt für Leser ging.

In Staffels Pop-Qualitäten mischt sich ein Geschmack von Subversion und Subkultur, nach Absage an den Kulturbetrieb, nach etwas Besserem als Pop. Denn aus der Inszenierung des Autors als Star ragt der Stachel der Dissidenz heraus. Deshalb gibt sich Staffel auch Mühe, auf den Fotos, die seine wöchentliche Berlin-Kolumne in der Zeit-Beilage »Leben« begleiten, traurig, gefährlich und sexy zugleich dreinzuschauen: ein müder Rebell mit großem Herzen.

Angesichts der tristen Royalisten, die in der Neuen Mitte siedeln, muss das nicht die schlechteste Geste sein. Einer ist übrig, der dem teuren Tuch der Herrenausstatter teure Streetwear vorzieht. Einer, der den Aufstand plant, der sich als Randfigur entwirft, der zur Generation zorniger junger Männer statt zur Generation Golf zählen will. Natürlich hat diese Pose ihren festen Platz im Betrieb. Natürlich gehört das enfant terrible, mag es sich in seinem Selbstentwurf noch so sehr abgrenzen, zur Szene der zur Zeit so hoch im Kurs stehenden jungen Berliner Autoren. Und natürlich wäre diese Inkonsequenz rasch verziehen. Wer wollte heute schon auf einer radikal nonkonformistischen Haltung beharren? Wer überhaupt wollte definieren, worin diese Haltung besteht? Das Problem liegt anderswo: da, wo die Literatur, die Staffel schreibt, nicht halb so aufregend ist wie die Rolle, die er vorstellt.

»Heimweh« setzt sich aus drei verschiedenen, aus der Ich-Perspektive erzählten Handlungssträngen zusammen, die jeweils von einem der drei Protagonisten bestimmt werden. Ein multioptionales Erzählen, das sich mal als Drogengeschichte, mal als Agenten-Story, mal als Skizze einer schwulen Liebe begreifen lässt. Oder als Imagination in den Köpfen der Figuren. »Er erzählt mir die Geschichte von Dirty Daisy, seiner Frau, einer seiner Frauen, die eigentlich Lilli heißt. Für mich ist es Dirty Daisy, weil sie nicht wahr ist. Nicht wirklich.« Mit diesen Sätzen öffnet der Roman. Sie sind symptomatisch, insofern es sich um alles, was folgt, ähnlich verhält: Es ist so, wie es erzählt wird, aber eigentlich anders, oder vielleicht auch nicht. Und vielleicht, so drängt sich der Verdacht auf, ist es auch einfach ganz egal.

Zur Vagheit gesellt sich eine gute Portion Kitsch. Die Protagonisten suchen Geborgenheit, Nähe, und sie suchen »Heimat«, einen »Ort, an dem noch niemand gewesen ist«. Ihre Sehnsucht, im Gegenüber diese Heimat zu finden (»Tizian ist Heimat«, denkt Marvin einmal), ist auch die Sehnsucht des Romans. Staffel hält dem Wunsch seiner Figuren nach Aufgehobenheit nichts entgegen. Ironie ist ihm fremd, wenn er etwa Cem als Marvins »Engel« anlegt. Wollte man eine alte Parole aufwärmen, man stieße auf so etwas wie »Gefühl und Härte, Zärtlichkeit und Zorn«.

Parallel dazu schöpft »Heimweh« aus der Populär-Mythologie, die uns das Kino erzählt. Mit einem Bankraub geht es los - »Bonnie und Clyde« grüßen aus der Ferne. Titty Twister ist der Name einer mexikanischen Absteige, in der Robert Rodriguez seine Western- und Vampirfilm-Parodie »From Dusk Till Dawn« kulminieren lässt. Ein mehrmals (u.a. auch in »Terrordrom«) variierter Satz lautet: »Entscheidend ist nicht der Fall, entscheidend ist die Landung.« Staffel hat ihn »Hass« abgeschaut, einem Film von Mathieu Kassovitz über Konflikte junger Männer in der Pariser Banlieu.

Schließlich - und das ist das Wichtigste - sucht die Mischung aus Kitsch und Splatter die Nähe zu David Lynchs »Wild at Heart«. Mit dem Unterschied, dass man im Film keinen Augenblick an der Notwendigkeit von Budenzauber, Blut und Gefühl zweifelt. Lynchs durch den Nachthimmel reitende Hexe ist die Entsprechung zu dem Hirn, das durch die Luft wirbelt. Auf der Leinwand bedingen Gewalt und Kitsch einander, im Buch nicht. Weil der Film den amerikanischen Träumen und Alpträumen so nahe kommt, schillert bei Lynch die Oberfläche. Bei Staffel bleibt sie stumpf.

Und das ist das große Problem von »Heimweh«. Welchen Träumen und Alpträumen könnte Staffel auf die Spur kommen? Der Roman verrät es nicht. Kitsch und Gewalt ermüden, weil sie weder wie bei Lynch flackern können noch ihnen stellte. Es gibt keine zweite Ebene hinter den Sätzen. Es gibt nur die matte Oberfläche, die Literatur für Fans anstatt für Leser, die Langeweile im Angesicht der Kraftmeierei.

Tim Staffel: Heimweh. Volk & Welt, Berlin 2000, 259 S., DM 32