»Zug des Lebens« von Radu Mihaileanu

Spiel mit dem Tod

Kann das Kino vom Holocaust handeln? Radu Mihaileanus Film »Zug des Lebens« ist ein Experiment mit dem Schrecken.

In der ersten Szene wirft sich Shlomo (Lionel Abelanski) aus Angst auf den Boden: Man müsse fliehen vor dem, was er gerade im Nachbardorf erfahren habe. Andere Männer schließen sich ihm an und ziehen mit Klagegeschrei durch die Straßen der jüdischen Siedlung irgendwo in Osteuropa. »Gott hat zugelassen, dass sie es tun.« Die deutschen Truppen rücken an und verhaften in der näheren Umgebung alle von der Straße weg. Wie kann die Gemeinde gerettet werden?

Versammlung. Shlomo, der Dorfdepp, hat die Idee, den Nazis zuvorzukommen. Den Deutschen muss nach bester deutscher Art begegnet werden. Schlussfolgerung: Man deportiert sich selbst. Die Gemeinde verkauft alles, was sie hat, besorgt sich einen mehr als maroden Zug und Nahrungsmittel für die Reise nach Osten. Die Rettung liege in der Sowjetunion, von dort aus könne man dann nach Israel reisen. Um als echter Deportiertentreck durchzugehen, muss es Bewacher und Gefangene geben; Juden spielen Juden und deutsche SS-Truppen. Mordechai (Rufus) wird Sturmbannführer, weil er am besten Deutsch spricht, und der jiddische Restakzent wird von einem Lehrer (Johan Leysen) leidlich beseitigt. Mordechai soll später sogar zum Feldmarschall werden, weil es die Situation erfordert. Da sich im Zug eine kompetente Kleidermanufaktur - »Wer sind die besten Schneider der Welt? Natürlich wir Juden!« - befindet, stellt das kein Problem dar.

Der Zug wird sich in Bewegung setzen, es wird dramatische Situationen geben, in denen die Juden von echten Deutschen angehalten werden, Momente, in denen die fiktiven Wachmannschaften ein Höchstmaß an herrischem Gehabe an den Tag legen. Es wird eine kommunistische Partei gegründet, deren Zentralkomitee umgehend Ausschlussverfahren einleitet. Man sieht Szenen, in denen einer zum Chefanalytiker der deutschen Angriffspläne wird, weil er am besten Schach spielt, oder wie Leute aus dem deutschen Knast befreit werden können, obwohl sie schon abgeschrieben waren, und der Überlebenskampf fast aufgegeben wird, weil man auf viel rabiatere deutsche Truppen stößt. Die dann aus Roma bestehen, mit geklauten Lkw unterwegs sind, und noch perfekter SS-Mannschaften darstellen können als die Juden. Man wird unter Bomben die russische Grenze überschreiten, und das Ende des Spiels kommt dennoch.

»Zug des Lebens«, der erste Spielfilm des aus Rumänien stammenden Regisseurs Radu Mihaileanu, ist hinsichtlich Plot, Dialogen, Schauspiel ein uneingeschränkt extremes Werk. So, wie man immer weiter Details der einfachen wie genialen Geschichte beschreiben möchte, möchte man auch seitenweise Dialoge wiedergeben. Es ist ein Film, in dem es um nichts weniger geht als darum, Gott auszutricksen - frei nach dem Vorurteil des jeden übervorteilenden Juden. Wie in dem Dialog eines Ehepaars: »Ich bete für alle Kinder und Jugendlichen. Aber die brauchen auch Eltern. Also bete ich auch für die Eltern. Und warum dann nicht auch gleich für die Alten ...« - »Wenn du mit Gott nicht fertig wirst, dann gib ihn mir.«

Es geht um das Genre des Holocaust-Films, und seit Robert Benignis »Das Leben ist schön« wird lebhaft diskutiert, ob das Thema Holocaust überhaupt etwas in populären Medien, gar in einer Komödie, zu suchen hat. Schon Charlie Chaplin hatte sich an der Problematik des Nationalsozialismus versucht: Als er seinen Großen Diktator aus der Szene treten ließ, gestand er sich das Scheitern des Films ein, um kurz die Rettung der Menschheit aufzuzeigen und dann noch endgültiger die Niederlage einzugestehen - die im »Großen Dikator« der Sieg eines Narren über den anderen war.

Nur mit diesem Kniff kann sich auch Mihaileanu behelfen. Neunzig Minuten führt er den Zuschauer nach allen Regeln der Regiekunst in eine ungeheure Spannungskurve und lässt ihn dabei immer wieder hoffen, dass die Zugbesatzung die nächste, noch verrücktere Szene doch überstehen könnte - kann die Idee des Narren wirklich das ganze Dorf retten?

»Zug des Lebens« verkehrt die Historie: Schließlich hat die Idee einer Horde anderer Verrückter dazu geführt, dass die Dorfbewohner Todesangst erleiden müssen. Dies ist nicht der einzige Erzählstrang, der nicht nur die Judenvernichtung der Deutschen thematisiert, sondern zugleich auch die mediale Verwertbarkeit reflektiert. »Zug des Lebens« ist ein Kommentar zu Chaplin, Lubitsch, Spielberg, zu Benigni und einer Reihe klischierter Vorstellungen in Antisemitismus und Rassismus. Und nicht nur das: Spätestens, wenn der in dieser fiktiven jüdischen Gemeinde verbreitete Hass auf den Kommunismus und die Begeisterung für den Kommunismus aufeinanderprallen, wenn ein heftiger Disput darüber geführt wird, ob Juden überhaupt zum Proletariat gehören können, hat der Film seine Selbstironie bewiesen. Nicht einmal die Gestalt der »jüdischen Prinzessin« - in der Figur der Esther (Agathe de la Fontaine) - fehlt.

Der Film ist ein dramaturgisches Experiment mit dem Publikum, das von der Regie mit D-Zug-Tempo auf kurviger Strecke durch Tragik und Komik gefahren wird, nur um es in der letzten Szene brutal sitzen zu lassen. »Zug des Lebens« bedient sich nicht der Dramaturgie, um eine Geschichte zu erzählen. Hier fallen Dramaturgie und Geschichte untrennbar zusammen. Die Schauspieler agieren nicht nur in einem Film, sie treten zugleich selbst als großes Regie-Ensemble auf und geben sich alle erdenkliche Mühe, die Bilder einer Deportation in ihrer Rolle als geschundene Juden echt aussehen zu lassen. Gleichzeitig zeigen die von Juden zu Totenkopfverbänden mutierenden »Wachmannschaften«, mit welchen darstellerischen Mitteln man zum Nazi wird.

Mihaileanu inszeniert rauschhaft einen Mikrokosmos, der sich stilistisch am ehesten an den temporeichen und dennoch ornamentalen Szenarien Emir Kusturicas orientiert - ein Großteil der Crew gehört zum Stammpersonal des jugoslawischen Regisseurs. Doch wo sich Kusturica mit seiner Kamera dezent wieder aus der durch ihren Blick erschaffenen Welt zurückzieht, hält Mihaileanu umso härter drauf. Nicht das Lachen, die dazu benötigte Atemluft soll im Hals stecken bleiben. Auch das ist ein - wörtlich gemeinter - Aspekt von »Zug des Lebens«.

Der Film hat lange bis nach Deutschland gebraucht, er stammt aus dem Jahr 1998. Henryk M. Broders euphorischer Spiegel-Artikel im letzten Jahr mag dazu beigetragen haben, dass er überhaupt einen deutschen Verleih gefunden hat. Immerhin wäre wenigstens die Berlinale ein bedeutendes Filmfest gewesen, auf dem er hätte gezeigt werden können, wenn nicht gezeigt werden müssen.

Obwohl ansonsten Ordenshuberei vermieden werden sollte, hier eine Preisauswahl: Publikums- und Kritikerpreis São Paulo 1998, Publikumspreis Cottbus 1998, Publikumspreis Miami 1999, Publikumspreis Hamptons 1999, Publikumspreis Sundance 1999. Wie hieß es in anderem Zusammenhang schon mal in dieser Zeitung: Das Publikum hat verstanden. Sollte »Zug des Lebens« eine weitergehende Diskussion - nicht nur von links - nach sich ziehen, dann dürfte sie ungefähr so verlaufen: »Zug des Lebens« leiste der in Deutschland verbreiteten ethnizistisch begründeten Vorliebe für jüdische Kultur Vorschub, er sei zu romantisch oder unpolitisch. Mag sein, denn möglich ist es wohl, dass der Zuschauer die verhackstückten Klischees wieder zusammenfügt. Kann ein Film Geschichte erklären?

Der Film selbst ist jedenfalls um Antworten selten verlegen, zum Beispiel, wenn Mordechais Sprachlehrer Schmecht, der deutsche Emigrant, seinem Schüler erklärt: »Ich verlange also nur von Ihnen, wenn Sie perfekt Deutsch sprechen wollen, neben dem Akzent den Humor wegzulassen.« An anderer Stelle flucht der Vater Esthers über ihren Liebhaber, der in der »Wehrmacht« seinen Dienst versieht und gleichzeitig zum stalinistischen Flügel des Zug-ZK gehört. »Der ist ja nicht nur Nazi, der ist auch noch Kommunist!«

»Zug des Lebens«, F 1998. R: Radu Mihaileanu. D: Lionel Abelanski, Rufus, Clément Harari, Michel Muller, Agathe de la Fontaine, Johan Leysen, Bruno Abraham-Kremer. Start: 23. März