»Charta 2000«

Auf in den Kampf!

Bourdieus Kritik am Neoliberalismus fällt in Deutschland auf fruchtbaren, aber vollständig verseuchten Boden.

Für die Einberufung von Generalständen der sozialen Bewegungen in Europa« - bei Pierre Bourdieus Aufruf »Charta 2000« wird's den Linken warm ums Herz. War nicht die Einberufung der Generalstände 1789 in Frankreich der Anfang vom Ende des Absolutismus? Und könnte nicht die Einberufung von »Generalständen der sozialen Bewegungen« den Anfang vom Ende des Kapitalismus markieren?

Schauen wir den Aufruf also genauer an. Zunächst sollen die sozialen Bewegungen der letzten Jahre - »Gewerkschaften, Bewegung der Arbeitslosen, Obdachlosen oder Staatenlosen, Frauengruppen, Homosexuelle, Umweltvereinigungen und viele andere« in einem Netzwerk gebündelt werden. Sie »verteidigen jene, die heute von der neoliberalen Politik immer mehr einem ungewissen Schicksal preisgegeben werden«. Ihre Gemeinsamkeit ist also zu-nächst defensiv definiert - gegen den so genannten Neoliberalismus und die Mächte, die den »Abbau, wenn nicht die Zerstörung des 'Wohlfahrtsstaates'« beabsichtigen. Der Vorschlag zielt auf die Installierung einer »kritischen Gegenmacht gegen die internationalen Mächte des Marktes«.

Eine neue Internationale sozusagen? Eine Internationale, die sich zunächst auf den plattesten Reformismus - Verteidigung des Wohlfahrtsstaates, eine »realistische Utopie«, Schaffung einer »solidarischeren Gesellschaft« - beschränkt?

Man könnte argumentieren, dass ein europäischer Sozialstaat »nur das Ergebnis von langen und schweren Klassenauseinandersetzungen sein könnte, von einer Radikalisierung, die schon im Ansatz die magere Utopie eines sozialstaatlich regulierten Kapitalismus überschreitet. Insofern birgt die neo-reformistische Perspektive eines 'Sozialen Europa' möglicherweise eine Eigendynamik in sich, die den Horizont eines Europäischen Sozialstaates überschreitet« (so Martin Rheinländer in ak, Nr. 429).

Aber die Fixierung auf den Feind in Gestalt des ominösen Neoliberalismus errichtet genau die ideologische Nebelwand, die eine solche Radikalisierung hemmt. Rheinländer scheint das nicht verborgen geblieben zu sein: »Warum«, so fragt er, haben sich »mittlerweile fast alle linken Strömungen derart an die sozialstaatliche Rhetorik angepasst, dass immerfort nur noch von einem 'Sozialen Europa' als Zielvorstellung die Rede ist?«

Ganz einfach, möchte man antworten: Weil die Ideologie des Neoliberalismus sich verdoppelt hat, weil ihr als Schein-Antagonismus der Anti-Neoliberalismus gegenübersteht. Die feindlichen Brüder bekämpfen sich auf dem gleichen Terrain - der unhinterfragten politischen Ökonomie der Warengesellschaft. »Weniger Staat, mehr Markt«, sagen die Neoliberalen, »mehr Staat, weniger Markt«, echot die Linke. Womit man glücklich in der Situation angekommen ist, die Guy Debord bereits 1988 so umschrieb: »Zum ersten Mal im modernen Europa versucht keine Partei oder Splittergruppe auch bloß vorzugeben, sie wolle es wagen, etwas von Belang zu ändern. Die Ware kann von niemandem mehr kritisiert werden ...«

Zu allem Überfluss aber berauscht sich die Strömung, die sich den Anti-Neoliberalismus auf die Fahnen geschrieben hat, an einer Droge der besonderen Art: dem Anti-Amerikanismus. Waren es gestern für die Anti-Neoliberalen noch die »neuen Herren der Welt«, die angeblich über die Finanzmärkte den katastrophischen Gang der Dinge programmierten, sind es heute die USA, die dafür verantwortlich zu sein scheinen - ein Ablenkungsmanöver, um über die katastrophenträchtige innere Dynamik der Warengesellschaft schweigen zu können. Ein Musterbeispiel dafür liefert die jüngste Monde Diplomatique mit dem Dossier »Amerika in unsern Köpfen«.

In Deutschland fällt dies auf fruchtbaren, aber vollständig verseuchten Boden: Hier hat man den Yankees nie verziehen, dass sie Deutschlands Griff nach der Weltmacht zweimal vereitelt haben. Und die sozialen Bewegungen tendieren im deutschen Postnazismus dazu, die Volksgemeinschaft gegen den amerikanischen Liberalismus in Anschlag zu bringen. Einen Vorgeschmack lieferte der euphorische Gewerkschaftschor, der bei der vereitelten Zerschlagung des Holzmann-Konzerns die deutsche Nationalhymne anstimmte.

Die Linke schert sich einen Dreck darum. So verwundert es nicht, wenn die »Feinderklärung« von Wolfgang Engler in dem Blatt Gegner, das sich auf den Rätekommunisten Franz Jung bezieht, eindeutig ausfällt: »Entweder Europa oder die Vereinigten Staaten!« Engler formuliert dies unter Berufung auf - Pierre Bourdieu: »Europa befindet sich im geistigen Kriegszustand, von außen und von innen. Es kann nur bestehen, wenn 'das Wirtschafts- und Politikmodell der USA den Vorbildcharakter verliert, den ihm die herrschende Meinung zuspricht'.«

Ist der Feind definiert und die europäische Unterstützung für den deutschen Hegemon gesichert, kann es endlich wieder heißen: Auf in den Kampf!