Aids und die kritische Aids-Debatte

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Thabo Mbekis Einsatz gegen Anti-HIV-Medikamente war kontraproduktiv. Aids-AktivistInnen fordern dagegen die ultimative Kombi-Therapie gegen Aids: Armutsbekämpfung, basisnahe Gesundheitsversorgung plus Anti-HIV-Medikamente.

Der häusliche Pflegedienst Siniosizo ist ein Pionier-Modell für gesundheitspolitische Strategien gegen Aids in Südafrika. Das Projekt verfolgt einen integrativen Ansatz, der das Soziale nicht vom Biologischen trennt, der auf Selbstorganisierung der Community, Basisversorgung und auf freien Zugang zu antiretroviralen Medikamenten, die den HI-Virus bekämpfen, setzt.

Aus dieser pragmatischen Perspektive und der Erfahrung der Vor-Ort-Versorgung weist das Projekt zu Recht die Position der so genannten Aids-Kritik zurück (Jungle World, 29 und 30/00). Im Vorfeld der 13. Internationalen Aids-Konferenz in Durban hatte der südafrikanische Präsident Thabo Mbeki Wissenschaftler, die vor der Anwendung retroviraler Medikamente warnen und die Verursachung von Aids durch HIV in Frage stellen, in eine Beratungskommission eingeladen. Nicht nur die Erfahrungen von Siniosizo stehen gegen diese Art der Kritik.

Liz Towell, Pionierin des südafrikanischen Anti-Aids-Aktivismus, leitet seit fünf Jahren den häuslichen Pflegedienst Siniosizo in Durban, der zu den größten im Land zählt. 40 Freiwillige betreuen rund 700 am Aids-Vollbild Erkrankte in zwölf Stadtteilen, Townships und Squattercamps. Die Freiwilligen kommen aus den betroffenen Communities und kämpfen gegen die weitverbreitete fatalistische Haltung, gegen Aids könne man nichts machen. Zwar sagen die MitarbeiterInnen von Siniosizo, dass antiretrovirale Medikamente nicht an der Spitze ihrer Forderungsliste stehen, sondern die Bekämpfung von Armut, Stigmatisierung und Perspektivlosigkeit. Doch sie bemühen sich gleichzeitig, soviele PatientInnen wie möglich in klinischen Studien unterzubringen, um ihnen zumindest für befristete Zeit Medikamente zur Verfügung zu stellen. Denn wenn hier jemand kritisch erkrankt, dann bedeutet das meist den Ausbruch mehrerer so genannter opportunistischer Infektionen gleichzeitig, die den immungeschwächten Körper angreifen und wegen fehlender Medikamente nicht behandelt werden können.

Am Modell Siniosizo wird deutlich, in welche beiden Richtungen die Anti-Aids-Arbeit gehen muss: Erstens gilt es, der engen biologischen Gesundheitsdefinition der WHO entgegenzutreten, die die sozialen Faktoren außer Acht lässt. Und zweitens müssen der Norden und die Pharmakonzerne unter Druck gesetzt werden, antiretrovirale Medikamente aus dem Patentschutz zu nehmen und billig zur Verfügung zu stellen. Denn erst eine integrative Anti-Aids-Strategie, die von Community-naher Aufklärung bis zu antiretroviralen Therapien reicht, kann helfen, die gesellschaftliche Tabuisierung von Immunschwächen und den individuellen Fatalismus aufzubrechen.

Das zeigt sich an den Grenzen, auf die die südafrikanische Aufklärungspolitik in den letzten Jahren gestoßen ist. Seitdem das Gesundheitsministerium der ANC-Regierung Aids-Aufklärung zur Priorität gemacht hat, sind Kondome fast überall erhältlich, Aids-Tests und Beratungen relativ leicht zugänglich. Fast neunzig Prozent der Bevölkerung haben ein gutes Basiswissen über Aids. Trotzdem sind die Erfolge der Präventionsarbeit gering.

Nach wie vor gibt es viele Neuinfektionen, hauptsächlich durch heterosexuelle Übertragung. Das hat mindestens zwei Gründe. Solange antiretrovirale Therapien und viele andere Medikamente nicht zur Verfügung stehen, weil sie zu teuer sind, wird die verheerende Erfahrung Immunschwäche gleich Tod nicht gebrochen, die die subjektive Abwehr und Verdrängung der Realität von Aids katalysiert. Zum anderen kann noch so viel Aufklärungsarbeit nicht plötzlich festgefügte Geschlechterverhältnisse verändern. Die wenigsten Frauen können ihre Sexpartner davon überzeugen, Safer Sex zu praktizieren. Die meisten Männer weigern sich kategorisch, Kondome zu benutzen.

Erfahrungen von GesundheitsarbeiterInnen zeigen, dass die Motivation zur Prävention steigt, wenn konkrete medizinische Verbesserungen angeboten werden. Da ist es kontraproduktiv, wenn Thabo Mbeki sich gegen den Einsatz von antiretroviralen Therapien in Südafrika einsetzt. Im Sinne einer antikolonialen »afrikanischen Renaissance« machte Mbeki mit seinen Statements im Vorfeld von Durban zwar die Bekämpfung von Armut stark, gleichzeitig reduzierte er aber die Aids-Debatte darauf und legitimierte die Ablehnung antiretroviraler Medikamente in einem politisch-ideologischen Zirkelschluss. Dabei wird die - auch von der so genannten Aids-Kritik angeführte - Gleichung HIV = Aids = Tod gerade durch den Einsatz wirksamer Therapien aufgebrochen, nicht durch die Leugnung eines Zusammenhangs zwischen HIV und Aids.

Genauso wie der Pflegedienst Siniosizo ist auch das südafrikanische Township Khayelitscha ein Modell für eine gesundheitspolitische Strategie, die basisorientierte Public Health-Arbeit mit antiretroviraler Medikamentierung verbindet. Durch die Initiative engagierter ÄrztInnen und die Organisation Médecins sans frontières richtete das Gesundheitsministerium der Provinz Western Cape im Januar 1999 ein Präventionsprogramm gegen die Übertragung des HI-Virus von Mutter zu Kind ein. Angeboten wurden HIV-Tests, AZT-Vergabe und medizinische Betreuung. Die Frauen wurden über Risiken des Stillens informiert, hatten Zugang zu Babynahrung, prophylaktischen Medikamenten und HIV-Tests für ihre Babys. Plötzlich waren viele Frauen bereit, sich testen zu lassen, weil sie die Chance sahen, ein HIV-negatives Kind zur Welt zu bringen. Die meisten waren AZT gegenüber sehr misstrauisch. Aber bei aller berechtigten Kritik an der hohen Toxizität des Medikamentes belegen zahlreiche Studien, dass AZT, wenn es während der letzten Schwangerschaftswochen und bei der Geburt gegeben wird, die Wahrscheinlichkeit der HIV-Übertragung um die Hälfte verringert.

Viele Frauen brachten ihre Partner in die Kliniken mit, die sich ebenfalls testen ließen. Aids wurde zunehmend nicht mehr als Problem isolierter Einzelpersonen, sondern als wichtiges soziales Thema in der Community gesehen. Die Frauen starteten Selbsthilfegruppen. Das beeinflusste das öffentliche Bewusstsein in Khayelitscha stärker als jede staatliche Auflärungskampagne zuvor.

Seit der Aids-Konferenz 1996 in Vancouver hat die Einführung so genannter Proteasehemmer viele Krankheitsverläufe umgedreht. Proteasehemmer werden immer mit anderen antiretroviralen Medikamenten in Kombination gegeben und unterdrücken in sehr effektiver Weise die Replikation des HI-Virus. Genauso wie AZT zeitigen sie aber extreme Nebenwirkungen. Trotzdem eröffnet diese Kombi-Therapie eine medikamentöse Perspektive auf ein Überleben für lange Zeit.

Von dieser Therapie kategorisch abzuraten, nur weil von einigen umstrittene Wissenschaftlern Zweifel an der Erklärung für die Wirksamkeit dieser Therapie äußern, ist unverantwortlich. Das Problem liegt woanders: Bisher sind die wirksamen Therapien für fast alle Aids-PatientInnen in Südafrika wie in allen Ländern des Trikont unerschwinglich.

Genau diesen postkolonialen Skandal der Aidspolitik kritisierte die »Treatment Action»-Kampagne, der hauptsächlich HIV-positive Mitglieder angehören, auf der Aids-Konferenz in Durban. Seit 1998 diskutieren Aids-AktivistInnen, wie das internationale Handelsrecht genutzt werden kann, um Medikamente in den Trikont zu importieren. Den preiswertesten Weg stellt die generische Produktion dar, das heißt die eigene Herstellung eines Mittels ohne Verwendung des patentierten Markennamens. Machbar ist das wegen des so genannten Compulsory Licensing, durch das ein Land im Sinne des Trips-Agreement der WTO Präparate ohne die Einwilligung der Patent-haltenden Pharmafirmen herstellen kann, wenn das im öffentlichen Interesse eines Landes liegt.

In Thailand wurde beispielsweise das Medikament Diflucan (Fluconazole), das zur Behandlung verschiedener opportunistischer Infektionen benutzt wird, vom Pharmakonzern Pfizer für sieben Dollar pro 200 Milligramm-Kapsel verkauft. Fluconazole stand jedoch in Thailand nie unter Patentschutz. So begannen 1998 gleich drei thailändische Firmen mit der Produktion. Inzwischen ist das Mittel dort für 29 Cents pro Kapsel erhältlich.

Vor allem die USA und multinationale Pharmakonzerne üben Druck aus, um möglichst viele Länder dazu zu bringen, restriktive Patent-Gesetze zu verabschieden, die die Möglichkeiten des Trips-Abkommens und des internationalen Handelsrechts abschneiden. So hat sich die thailändische Regierung von juristischen Drohungen der USA einschüchtern lassen und erteilte, trotz massiver Proteste von Betroffenengruppen, keine Lizenz zur generischen Produktion des Medikaments DDI.

Es ist eine beliebte Taktik der Pharmakonzerne im Vorfeld von Konferenzen wie der von Durban, medienwirksam Preissenkungen oder Medikamentenspenden anzukündigen. Diese Gesten tun den Pharmakonzernen nicht weh, weil sie fast immer steuerlich absetzbar sind. Die Gesundheitsministerien von Trikont-Ländern erfahren von diesen Plänen meist erst durch die Presse. Häufig gehen auch versteckte Abhängigkeiten oder zeitliche Begrenzungen mit den pseudo-großzügigen Angeboten einher.

Angesichts dieser Situation und der realen Bedrohung durch Aids ist es schon sehr eigenartig, wenn so genannte Aidskritiker aus den Metropolen den Betroffenen in Afrika ausgerechnet mit antikolonialer Rhetorik von Therapien abraten, die in den USA und Europa mit Erfolg angewandt werden.