Freie Radios

Als der Kanal noch voll war

Vom Subjekt in sozialen Kämpfen zum unabhängigen Netzwerk: Einige der legendären Freien Radios Italiens senden heute noch.

Ich liebe das Radio. Es kommt zu den Leuten nach Hause, es spricht direkt zu dir. Und wenn das Radio frei, aber wirklich frei ist, gefällt es mir noch mehr«, sang Eugenio Finardi 1976 in seinem Lied »La Radio«, einem der größten Hits im Italien jenes Jahres. Gerade hatte das Verfassungsgericht das staatliche Radiomonopol auf die nationale Ebene beschränkt und privaten Sendern somit gestattet, regional zu senden. Zwar gab es viele Jahre lang zu diesem Urteil keine parlamentarische Regelung und damit kein Gesetz. Doch die Richter ebneten mit ihrer Entscheidung den Freien Radios den Weg.

In allen größeren italienischen Städten entstanden kleine unabhängige Stationen, die sich als experimentelle Werkstätten verstanden und sich selten durch Professionalität, dafür aber umso mehr durch ihre Beweglichkeit auszeichneten. Gerade weil sie ohne Programmformate und festgefügte Pläne arbeiteten, entwickelten sich die vielen Freien Radios zu Ideenschmieden. Für einige Jahre blühte eine Kultur der Nischenradios: Ob Feministinnen, Schwule, Psychiatrie-Gegner, Stadt-Indianer, Antifaschisten oder militante außerparlamentarische Organisationen - alle sendeten ihre eigenen Programme.

Gegenöffentlichkeit herzustellen war erklärtes Ziel all dieser Gruppen, und in den sozialen Kämpfen der Siebziger spielten diese Radios eine wichtige Rolle. Berühmt wurde eine Sendung im März 1977 auf Radio Alice in Bologna: Live berichtete der Reporter, wie die Polizei das Gebäude des Senders stürmte, beschrieb, wie die überraschten Radioleute plötzlich in die Läufe von Maschinenpistolen guckten und übertrug die Drohungen der Polizisten im O-Ton. Andere Radiostationen wiederholten die Sendung - ein Klassiker der Gegenkultur. Am Tag zuvor hatte die Polizei auf einer Studentendemonstration in die Menge geschossen und Francesco Lo Russo, ein Mitglied der Lotta Continua, getötet. Auch hier hatte Radio Alice live berichtet.

Die bolognesische Radiostation funktionierte mitunter wie eine Trommel, mit deren Hilfe Tausende von Demonstranten mobilisiert werden konnten. Radio Alice versammelte die Anführer des Widerstandes vor einem Mikrofon. In den heißesten Tagen dieser Kämpfe - wie etwa nach dem Tod von Francesco Lo Russo - arbeiteten die verschiedenen freien Radiostationen eng zusammen, um eine nationale Verbreitung der Informationen zu erreichen. Teilweise wurde sogar auf das Telefon zurückgegriffen, um in Echtzeit den Informationsfluss zwischen den beteiligten Personen in allen Städten aufrecht zu erhalten. Diese Durchsagen wurden dann über die anderen freien Sender ausgestrahlt, wie Radio Popolare in Mailand, Città Futura, Città Aperta und Onda Rossa in Rom, Città 103 in Bologna - der zweite Sender neben Alice - Radio Sherwood in Padua und Canale 89 in Triest.

Die Freien Radios hatten aber noch andere Funktionen, als zu Demonstrationen aufzurufen und von Straßenschlachten zu berichten. Bei dem Erdbeben im Friaul 1976 wurden über die Stationen Appelle von Verwandten weitergegeben, Familien zusammengeführt und die Hilfsaktionen koordiniert.

Die Gesetzeslücke, von der die Freien Radios profitierten, ließ sich jedoch nicht nur für alternative Politik nutzen, man konnte hier auch eine Menge Geld verdienen. Nach dem Fall des staatlichen Rundfunkmonopols entstanden neben den Freien Radios auch eine große Anzahl kommerzieller privater Stationen. Doch es war nicht so sehr die Konkurrenz der kommerziellen Privatsender, die den Freien Radios zusetzte - paradoxerweise begann ihr Ende mit den Versuchen, die wachsende Macht des Medientycoons Silvio Berlusconi zu beschränken. Ähnlich wie sich die Freien Radios das Fehlen einer eindeutigen gesetzlichen Regelung zu Nutze machten, nahm sich Berlusconi diesen Freiraum, um sein Medienimperium aufzubauen. Das betraf vor allem das Fernsehen, doch für beide Medien gelten die gleichen Gesetze. Und als es darum ging, den gesetzlosen Raum zu schließen, orientierte sich die Debatte um ein neues Rundfunkgesetz vor allem am Fernsehen.

1981 entschied das italienische Verfassungsgericht, dass die Rundfunkübertragung ein öffentlicher Dienst von allgemeinem Interesse sei und daher nicht in den Händen weniger oder einer Privatperson liegen dürfe. Das Urteil sollte die Regionalisierung des Rundfunks und die lokale Verankerung der Sender stärken. Doch drei Jahre später umging Berlusconis Medienfirma Fininvest - die inzwischen die Fernsehkanäle Canale 5, Italia 1 und Rete 4 erworben hatte - das Verbot, indem sie auf allen ihren Kanälen die gleichen Programme abspielte. Berlusconi konnte auf die Unterstützung des damaligen Premiers Bettino Craxi zählen: Die Regierung erließ kurz darauf ein Dekret - das Berlusconi-Dekret -, mit dem die Aktion nachträglich legitimiert wurde. Zwar ließ das Parlament das Papier durchfallen, doch Craxi boxte den Beschluss 1985 mit Hilfe eines Misstrauensvotums durch. Das neue Gesetz erlaubte die so genannte »funktionale Verbindung«: Vorab aufgezeichnete Programme durften von nun an über verschiedene Sender in mehreren Regionen laufen. Zwar wurde auch dieses Gesetz vom Verfassungsgericht für unzulässig erklärt, doch im dritten Anlauf gelang es, die bereits bestehenden Verhältnisse gesetzlich zu untermauern. 1990 setzte die Regierung unter Giulio Andreotti das Mammì-Gesetz durch, das zwar scheinbar ein Anti-Trust-Gesetz für den Rundfunk war, tatsächlich aber eine Unterstützung für Berlusconi bedeutete.

Dieses Gesetz erlaubt neben den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten zwei Arten von Privatsendern: kommerzielle und gemeinnützige. Beide unterliegen einer ganzen Reihe von gesetzlichen Auflagen, gemeinnützige Radios haben Anspruch auf staatliche Gelder, wenn sie bestimmte Informationen von öffentlichem Interesse verbreiten. Beide senden Werbung.

Mit dem Konzept der Freien Radios hat das nur noch sehr wenig zu tun. Die meisten Freien Radios mussten irgendwann in den Achtzigern oder spätestens in den Neunzigern aufgeben. Manche der größeren Redaktionen schafften es zu überleben, konnten sich sogar vergrößern und neue Frequenzen hinzukaufen. Sie sind professioneller geworden, haben ihre Möglichkeiten verbessert und sich technisch weiter entwickelt. Dazu gehört auch der Auftritt im Internet. Radio Popolare in Mailand etwa - ehemals eines der großen Freien Radios - hat das Popolare Network gegründet, an dem knapp zwanzig kleine lokale Sender beteiligt sind und die Möglichkeit erhalten, ins Netz zu gehen. Eins dieser kleinen Radios ist das Fragola in Triest. Seit 1984 sendet Fragola aus einem Studio in einer ehemaligen Psychiatrie. Auch Radio Sherwood in Padua und das Onda Rossa in Rom sind immer noch aktiv.