Das neue Online-Magazin »Schön« richtet sich an russische Emigranten in Berlin

Der Lifestyle fürs Exil

Journalisten der russischen Nachrichten-Website »Meduza« haben in Berlin ein russischsprachiges Online-Magazin für Expats gegründet.

Am 17. März bildete sich vor der russischen Botschaft in Berlin eine lange Schlange. Die russische Opposition hatte dazu aufgerufen, am Sonntagmittag zur Abstimmung zu gehen, um angesichts der unfreien und manipulierten Präsidentschaftswahl zumindest gemeinsam Protest zum Ausdruck zu bringen. Bis zu 2.000 Personen demonstrierten dort gegen die russische Regierung, darunter bekannte Persönlichkeiten wie Julija Nawalnaja, die Witwe des Oppositionspolitikers Aleksej Nawalnyj, und Michail Chodorkowskij.

In Berlin leben schon lange viele Menschen aus Russland und anderen postsowjetischen Ländern. Als nach der Großinvasion Russlands in die Ukraine Hunderttausende Russ:innen, oft aus Angst vor der Mobilmachung oder politischer Verfolgung, aus Russland flohen, zog es auch deshalb viele von ihnen in die deutsche Hauptstadt. Neben Tiflis, Belgrad und Paris ist Berlin eines der Zentren dieser jüngsten russischen Emigrationswelle.

Die Gründung eines Magazins, das sich explizit an russischsprachige Emi­grant:in­nen in Deutschland richtet, liegt deshalb nahe – zumal kritische russische Medien ­ohnehin nur noch im Ausland ange­siedelt sein ­können: so wie das Online-Magazin Meduza, dessen Hauptsitz sich in der lettischen Hauptstadt Riga befindet, und das mit Schön nun ein russischsprachiges Online-Magazin über das Leben in Berlin gegründet hat (nicht zu verwechseln mit dem englischsprachigen, mittlerweile in Berlin ansässigen Modemagazin Schön!).

»Der Name ›Schön‹ war auch als Gegengewicht zu einer schrecklichen Zeit, zu schrecklichen Umständen gedacht.« Chefredakteur Dmitry Vachedin

Schön präsentiert sich als ein poppiges Lifestyle-Magazin, sein Stil erinnert an Stadtmagazine wie Ex-Berliner oder die in Deutschland jüngst eingestellte Zeitschrift Vice. »Wir erzählen Geschichten. Berliner Geschichten in russischer Sprache«, fasst der Herausgeber Maksim Filimonow die Linie von Schön im Gespräch mit der Jungle World zusammen. Beispiele für solche Geschichten: Mosaike in Marzahn, ein Fahrrad-Guide für Berlin, urbane Waschbären, die unaufhörlichen Probleme mit der Deutschen Bahn oder auch Texte mit Überschriften wie »Alle Menschen lügen. Wenn sie Sex kriegen möchten, lügen sie noch mehr«. Hinzu kommen jede Woche die Wochenendtipps der Redak­tion.

Dieser Lifestyle-Fokus ruft auch spöttische Kommen­tare hervor. So schrieb der Journalist Nikolai Klimeniouk auf Face­book: »Falls Sie es noch nicht wussten: Laut der neu gegründeten russischen Emigranten-Online-Publikation Schön, einem Ableger von Meduza, ist die einzige ›normale‹ Art, Silvester in Berlin zu feiern, in einem Techno-Club. Andere Geschichten: Wie Russen die Partnersuche in Berlin revolutionieren wollen (wörtlich: ›Durch die Eroberung Berlins erhalten wir Zugang zur internatio­nalen Gemeinschaft‹), wo man Vintage-Designerkleidung kaufen kann, welche Drogen man in den Clubs nehmen sollte und welche nicht, und wo man die besten Underground-Rave-Partys findet«.

Chefredakteur von Schön ist Dmitry Vachedin, der seit 20 Jahren in Deutschland lebt und früher als Journalist für Meduza und die Deutsche Welle zu ­politischen Themen gearbeitet hat. Gemeinsam mit dem Politologen Alex Yusupov betreibt er den russischsprachigen Podcast über deutsche Politik »Kanzler und Berghain«. Die Idee zur Gründung von Schön sei nach einem gemeinsamen Ausstellungsbesuch in Berlin bei einem Bier mit dem Chef­redakteur von Meduza, Iwan Kolpakow, entstanden, erzählt Vachedin. Man sei sich einig gewesen, dass Berlin ein russischsprachiges Medium brauche, und vereinbarte, dass Meduza dieses Medium technisch und zu Beginn auch finanziell unterstützen solle. Das Kernteam von Schön besteht aus sechs Menschen. Langsam wolle man finanziell unabhängig werden, weshalb es seit einigen Tagen eine ­Paywall gibt.

Vor kurzem veröffentlichte das Magazin einen langen Bericht über den Drogenhandel im Görlitzer Park in Kreuzberg und die politischen Debatten über die damit verbundenen sozialen Probleme.

»Alle finden, dass es wichtig ist, dass es das ›Berghain‹ gibt und da eine riesige Schlange ist, sehr wichtig, dass es Berlin gibt, und es da Spätis gibt oder was noch alles … ›Mustafas Gemüse-Kebap‹, zum Beispiel. Das sind Sachen, die plötzlich vor zehn, 20 Jahren oder so auftauchten, aber sehr wichtig wurden. Alle lieben sie«, beschreibt Vachedin den Blick vieler junger Men­schen,darunter auch Russ:innen, auf die deutsche Hauptstadt. Das seien dann auch Themen, die Schön bewegen: »Warum stand Kanye West bei ›Mustafas Gemüse-Kebap‹ in der Schlange?«

Auch Aleksej Nawalnyj ließ sich einen Döner der berühmten Kreuzberger Imbissbude ins Krankenhaus bringen, als er 2020 nach dem Giftanschlag durch den russischen Geheimdienst in der Berliner Charité behandelt wurde, berichtet Vachedin begeistert. Dennoch hat man bei Schön durchaus einen darüber hinausgehenden Anspruch: »Mir, und ich denke auch den Lesern, ist es wichtig, nicht nur bei Techno, Unterhaltung, Drogen und Sex stehenzubleiben, sondern auch politische Themen zu berühren«, sagt Vachedin.

Beispielsweise veröffentlichte das Magazin vor kurzem einen langen Bericht über den Drogenhandel im Görlitzer Park in Kreuzberg und die politischen Debatten über die damit verbundenen sozialen Probleme. Auch wolle man, obwohl die Redaktion zur Zeit ausschließlich aus russländischen Menschen besteht, verschiedene Perspektiven berücksichtigen: »Berlin ist nicht nur verbunden mit einer russländischen, sondern mit einer postsowjetischen Geschichte: mit Russland, Ukraine, Belarus. Entsprechend besteht unsere Funktion als Medium darin, nicht zu spalten, sondern zu vereinen.«

Davon ist bislang noch wenig zu spüren, die Inhalte scheinen vor allem zugeschnitten auf russische Expats. Ausnahmen gibt es jedoch: Am 23. Februar erschien ein Text des ukrainischen Journalisten Nikita Worobjow über Veranstaltungen in Berlin anlässlich des zweiten Jahrestags der russischen Großinvasion. Ansonsten ist bei Schön vom russischen Krieg gegen die Ukraine wenig zu spüren. Aber ist nicht gerade er es, der viele russischsprachige Menschen in Berlin derzeit jeden Tag beschäftigt?

»Für mich ist das eine apolitische Position: Wir sprechen nur vom Schönen.« Ekaterina Shuvalova aus Moskau, die seit fünf Jahren in Deutschland lebt.

Über den richtigen Namen für das Online-Magazin habe man monatelang nachgedacht. »Das war auch als Gegengewicht zu einer schrecklichen Zeit, zu schrecklichen Umständen gedacht«, sagt Vachedin. Außerdem gebe das Wort mit dem Umlaut visuell viel her. Zu Verwechslungen mit dem Modemagazin Schön! sei es bislang nicht gekommen, schließlich schreibe sich dieses mit einem Ausrufezeichen. Die in Berlin lebenden Ukrainer:innen wolle man zwar langfristig unbedingt einbinden und als Leser:innen ge­winnen. Doch sei man, was das betreffe, vorsichtig und verstehe die Skepsis gegenüber Schön als einem von Rus­s:in­nen gegründeten Medium.

Schön kommt aber auch nicht bei allen Emigrant:innen aus Russland gut an. Ekaterina Shuvalova aus Moskau, die seit fünf Jahren in Deutschland lebt, meint: »Für mich ist das eine apolitische Position: Wir sprechen nur vom Schönen. Ich kenne viele solche Leute, die diese Strategie für sich gefunden haben und die man niemals dazu überreden könnte, auf eine Demo zu gehen. Die sagen sich: Ich kann doch sowieso nichts ändern.«

Sie selbst sieht das ganz anders und arbeitet bei einer Organisation, die queeren russischsprachigen Menschen in Deutschland hilft. Auch viele Uk­rai­ner:in­nen habe man zu Beginn der Großinvasion entsprechend unterstützt. Zudem beschafft Shuvalova mit der kleinen Gruppe »UA Drone Forces« Drohnen für die ukrainische Armee. Die Initiative kauft für kleines Geld gebrauchte Drohnen, beispweise auf Klein­anzeigen.de. Da diese in Deutschland aber fast vollständig ausverkauft seien, besorge man sie mittlerweile in Kanada.

Als sich am 16. Februar nach Bekanntwerden des Todes Nawalnyjs eine spontane Demons­tration vor der ­russischen Botschaft in Berlin versammelte, war Shuvalova ­anwesend und sammelte mit einer anderen Unterstützerin Geld für die Drohnen. Eine Journalistin von Schön habe sie interviewt, allerdings am Ende nichts zu ihrer Spendenaktion geschrieben. Vielleicht waren Drohnen und praktische Hilfe für die Verteidigung der Ukraine etwas zu unschön für Schön.