Debatte um Ladenschlusszeiten

Shop Around the Clock

Eine kleine Geschichte der Debatte um den Ladenschluss in Deutschland zeigt: Der Abschied von den geregelten Öffnungszeiten dient nur dazu, den Rund-um-die-Uhr-Menschen zu formen.

Das Gute an den alten Sponti-Sprüchen ist, dass sie beliebig variiert werden können. Zum Beispiel so: »Stellt Euch vor, die Läden haben immer auf - und keiner kauft ein!« Der modifizierte Slogan passt nicht nur gut zum Thema, sondern setzt auch der aktuellen Debatte über den Ladenschluss etwas entgegen, ohne - wie meistens der Fall - die Widersprüchlichkeiten von Schluss- und Öffnungszeiten völlig zu ignorieren.

Denn über kaum ein anderes Thema wird so viel Stuss geredet und geschrieben, wird so viel gelogen und beliebig versucht, die Wirklichkeit zurecht zu biegen wie bei der öffentlichen Diskussion über den gesetzgeberischen Umgang mit dem Ladenschluss. Ein Blick in die Zeitungen der vergangenen Wochen zeigt, wie herrlich undifferenziert Journalistinnen und Journalisten sein können: »Das Ladenschlussgesetz ist ein Anachronismus, der in einer freiheitlichen Gesellschaft keine Existenzberechtigung hat.« (Die Welt) »Die dot-com-Gesellschaft hat die starren Bürozeiten aufgelockert.« (Süddeutsche Zeitung) »Um Rechtssicherheit und Transparenz zu schaffen, sollten die Öffnungszeiten unter der Woche ganz freigegeben werden.« (Financial Times Deutschland) Das Wohl der Republik hängt offensichtlich daran, wieviele Stunden täglich die Leute einkaufen können.

Als 1996 die Ladenöffnungszeiten ausgeweitet wurden, prophezeiten die Gewerkschaften, das Ende der Fahnenstange sei noch nicht erreicht - die Rund-um-die-Uhr-Gesellschaft stehe noch bevor. Die Arbeitnehmer-Vertreter dürften recht behalten mit ihrer Prognose. Nach dem geregelten Ladenschluss fällt als nächstes wahrscheinlich das Nachtflugverbot, damit die dot-com-Spontis auch nachts um drei noch zur New Yorker Börse düsen können. Oder mal schnell zum Ficken in den Puff von London, denn das mit der Börse lässt sich ja inzwischen online erledigen. Aber Vorsicht: Wem nach vollzogenem Beischlaf noch nach Shoppen zu Mute ist, der rennt womöglich gegen verschlossene Türen. »Nach 20 Uhr kann man auch in London nur noch in wenigen Geschäften einkaufen - trotz liberalerer Gesetzgebung«, warnte Ende August etwa die Financial Times Deutschland.

Den Vogel aber schoss die Süddeutsche Zeitung ab: »Viele Deutsche haben sich an die längeren Öffnungszeiten gewöhnt. Vom Urlaub am Mittelmeer haben sie die Erfahrung mitgebracht, dass dadurch die Lebensqualität steigt.« Wie bitte? Das ganze Jahr über Lebensbedingungen wie im Urlaub? Haben wir es plötzlich mit einem weichgespülten Kapitalismus zu tun, der uns den Müßiggang ermöglicht? Richtig an dem Argument der SZ ist sicherlich, dass der individualisierte, flexible und mobile Mensch sich nicht durch starre Zeiten einengen lassen will. Aber deshalb acht, zehn, zwölf oder 14 Stunden durcharbeiten? Fordern wir statt dessen lieber bezahlte Shopping-Pausen während der Arbeitszeit!

Schließlich gab es vor Jahren noch einen gesellschaftlichen Konsens darüber, dass Nacht- und Schichtarbeit auf das absolut Notwendige zu begrenzen seien. Der Sinn des 24-Stunden-Betriebs von Krankenhäusern, Polizei, Feuerwehr, Elektrizitätswerken und ähnlichem wurde zwar eingesehen. Doch leidenschaftlich gestritten hat man auch, ob es gesellschaftlich notwendig sei, Tempo-Taschentücher in Nachtarbeit zu produzieren.

Saftige Zulagen erstritten damals die Gewerkschaften für die Belastung durch Schicht- und Nachtarbeit. Doch schon bald nutzten das irgendwelche Schlaumeier, die sagten, wenn die Krankenschwester nachts arbeitet, dann könnten das die Verkäuferinnen doch auch. So kam es, dass der Konsens aufgekündigt und eine Neudefinition dessen gefunden wurde, was gesellschaftlich notwendig sei: Es müsse auch möglich sein, nachts um drei eine Schrankwand zu kaufen.

Erinnert sich noch jemand an die Debatten über fremdbestimmtes und selbstbestimmtes Arbeiten? Kapitalismuskritik setzte unter anderem hier an. Doch auf einmal wollen quer durch alle politischen Strömungen alle immerzu einkaufen gehen - ohne sich darum zu kümmern, dass sie so über die Zeitsouveränität anderer Menschen verfügen. Da wird nicht gefragt, ob es in den Lebensentwurf einer allein erziehenden Mutter mit zwei Kindern passt, wenn sie noch nach 20 Uhr hinter der Ladenkasse stehen muss. Sollen am Ende noch die Kindergärten rund um die Uhr auf haben, damit die Kids versorgt sind, solange Mama und Papa das Bruttosozialprodukt steigern?

Apropos Zeitsouveränität: Da argumentiert der autonome Linke, er wolle gerne bis zwölf Uhr mittags schlafen, dann sein Tagwerk verrichten, anschließend einkaufen gehen und danach in der Kneipe abhängen. Das nennt er dann selbstbestimmten Lebensentwurf. Die Verkäuferin hat selbstredend von ihm fremdbestimmt um 22 Uhr zur Stelle zu sein, wenn er seine 80 Gramm Mortadella kauft. Warum wird nicht umgekehrt ein Schuh draus? Es sei ihm ja vergönnt, bis in die Puppen im Bett zu liegen. Doch dann ist es auch egal, ob er um 13, 14 oder 15 Uhr an seinen Arbeitsplatz schreitet - seine Brühwurst kann er sich ja zwischen Frühstück und Arbeitsbeginn kaufen. Zeitmanagement hieße dann das Zauberwort. Warum eigentlich soll sich die Mehrheit der Beschäftigten im Einzelhandel dem Shopping-Interesse einer Minderheit beugen?

Die Rund-um-die-Uhr-Öffnungszeiten werden uns gerne als »kundenfreundlich« verkauft. Doch nur die großen Ketten und die Einkaufsfabriken auf der grünen Wiese werden Personal rund um die Uhr vorhalten können. Das kleine Käse-Geschäft oder der Schreibwaren-Laden hingegen werden auch weiterhin nur acht bis zehn Stunden geöffnet sein. Von den mittelständischen Fachgeschäften, denen Rot-Grün Unterstützung versprochen hatte, dürften immer mehr die Arschkarte ziehen, wenn eines Tages nur noch in den Kathedralen der Marktwirtschaft eingekauft wird.

Was völlig fehlt in der Debatte, sind Fragen nach der Kaufkraft und den Umsatzzahlen: Selbst die Vertreter des Einzelhandels trauen sich nicht mehr zu sagen, längere Öffnungszeiten bedeuteten auch mehr Umsätze. Das Arbeitsplatz-Argument ist ebenfalls obsolet geworden: Seit der Verlängerung des Ladenschlusses vor vier Jahren sind im Einzelhandel etwa 300 000 Arbeitsplätze weggefallen, während die Umsatzzahlen nur marginal stiegen. Der Verdrängungseffekt, den die Deregulierung der Öffnungszeiten mit sich gebracht hat, wird sich verstärkt fortsetzen: Die Großen verdrängen die Kleinen. Wird die Ware immer billiger, muss auch die Produktion immer billiger sein - und die Löhne müssen entsprechend gesenkt werden.

Manchmal fragt man sich, ob eigentlich niemand merkt, was mit der laufenden Debatte erreicht werden soll. Könnte es nicht sein, dass es demnächst heißt, Fische müssten jetzt rund um die Uhr in Dosen gepackt werden? Oder dass Steuerbeamte die Steueranträge gefälligst auch nachts bearbeiten? Letzten Endes geht es bei der Diskussion darum, hinter dem 24-Stunden-Verfügbarkeits-Versprechen vergessen zu machen, dass im selben Zeitraum die Verkäuferinnen und Verkäufer allzeit fürs Kapital bereit stehen.