Arafat flieht ins Nichts

Nach Wochen der Gewalt verhandeln Israelis und Palästinenser wieder miteinander. Um mehr als einen fragilen Waffenstillstand geht es allerdings nicht.

Was waren das für Zeiten: Gerade einmal drei Monate ist es her, dass der israelische Premier Ehud Barak und der Palästinenserpräsident Yassir Arafat in Camp David recht gemütlich beisammensaßen. Damals schien, zum ersten Mal in der Geschichte des Nahostkonflikts, eine Verhandlungslösung in greifbarer Nähe. Und doch waren die recht weitgehenden Zugeständnisse Baraks für Arafat unzureichend. Der Gipfel endete ergebnislos, es kam zum Tempelberg-Besuch des israelischen Oppositionsführers Ariel Scharon mit den verhängnisvollen Folgen.

Als sich beide Politiker Anfang Oktober in Paris erneut trafen, waren die Ziele schon niedriger gesteckt. Die drohende Eskalation der Tempelberg-Unruhen sollte verhindert werden. Auch dieses Treffen scheiterte; es folgten die schwersten Auseinandersetzungen der letzten Jahre, die mit dem Lynchmord an zwei israelischen Soldaten in einer palästinensischen Polizeistation in Ramallah und den folgenden israelischen Raketenangriffen auf verschiedene Gebäude der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) ihre bisherigen Höhepunkte fanden.

Obwohl Arafat und Barak Anfang dieser Woche im ägyptischen Sharm el Sheikh erneut zusammen kamen, ist der Prozess, der ungeachtet aller Schwierigkeiten in den letzten sieben Jahren allmählich zu einem Frieden in der Region zu führen schien, vorerst unterbrochen. Mehr als ein fragiler Waffenstillstand scheint auf absehbare Zeit wohl nicht möglich.

Ein Grund dafür liegt in der Haltung Arafats. Die Regierungen der USA und gemäßigter arabischer Staaten wie Ägypten und Jordanien mussten ihn nachdrücklich mahnen, damit er sich ohne Vorbedingungen auf das Treffen einließ. Denn bei diesen Verhandlungen kann er politisch nur noch verlieren. Erneut wird US-Präsident William Clinton, den die Palästinenser nur noch als unmittelbaren Verbündeten Israels bezeichnen, als wichtigster Vermittler fungieren. Sollte Arafat in dieser Situation auf den israelischen Forderungen nachgeben, würde er viel von dem Prestige verspielen, das er in der arabisch-muslimischen Welt während der letzten Wochen zurückgewonnen hat. Zudem könnte er der palästinensischen Bevölkerung nur schwer erklären, warum über hundert Menschen, hauptsächlich Palästinenser und arabische Israelis, sterben und mehrere Tausend verletzt werden mussten. Damit man sich schließlich im Status quo ante wiederfindet?

Dahin aber will Ehud Barak. Er fordert die Einstellung der Gewaltaktionen, die Beendigung der anti-israelischen Propaganda sowie die erneute Inhaftierung von über hundert Hamas-Aktivisten, die Ende vergangener Woche aus PA-Gefängnissen entlassen wurden. Unter ihnen befinden sich hochrangige Führungskader, die die Verantwortung für diverse Bombenanschläge tragen, bei denen beispielsweise 1996 in Bussen und auf zentralen Plätzen in Tel Aviv und Jerusalem mehrere Dutzend Israelis ums Leben gekommen sind. Zudem würde Barak eine Verschiebung der für kommenden Samstag in Kairo geplanten Konferenz der Arabischen Liga gutheißen.

Für Barak spricht, dass er seinem Gegenüber noch immer die Verhandlungsoption offen hält. Selbst der Raketenbeschuss der PA-Gebäude in Gaza und Ramallah hatte eher symbolischen Charakter. Die israelische Armee hatte zuvor die PA gewarnt, sodass zwar erheblicher Sachschaden entstand, aber keine Menschen verletzt wurden. Sogar das Ultimatum zur Beendigung der Auseinandersetzungen von vorletzter Woche wurde auf unbestimmte Zeit verlängert. Mit diesem Ultimatum hatte Israel deutlich gemacht, dass bei gravierenden Zwischenfällen auch schwere Waffen wie Panzer und Kampfhubschrauber eingesetzt werden könnten. Daher kann Arafat von dem Vergeltungsschlag nach den Lynchmorden nicht überrascht worden sein. Die Rechtfertigungen der PA, die Polizisten hätten versucht, den Mob aufzuhalten, und die israelischen Soldaten hätten Zivilkleidung getragen, wurden von Fernsehbildern widerlegt.

Die markigen Parolen der PA-Führung, man befinde sich im Krieg mit Israel, hat die Situation ebensowenig entschärft wie einige Gesten Arafats: Er besuchte palästinensische Verwundete, küsste ihre Gipsbeine und posierte als oberster Kriegsherr. Es ist nicht sicher, ob er einfach keinen Rückweg mehr sieht und ein Erstarken der Hamas befürchtet, oder ob es sich um eine Strategie handelt, die von den Solidaritätsbekundungen aus nahezu der gesamten islamischen Welt ihren Übermut bezieht. Jedenfalls hat Arafat die Flucht nach vorn angetreten - eine Flucht, die im Nichts enden könnte.

Wie während des zweiten Golfkriegs, als die PLO fast die einzige Verbündete Saddam Husseins war, scheint sich Arafat von der Ausbreitung des Konflikts auf die gesamte Region Vorteile zu versprechen. Was damals nicht gelang, dürfte auch diesmal erfolglos bleiben. Zwar wurde jetzt in Bagdad wie in Tripolis ein Heiliger Krieg aller arabischen Staaten gegen Israel gefordert. Doch zu mehr als einer symbolischen Truppenverschiebung an die jordanische Grenze ist der Irak nicht in der Lage. Hinzukommt, dass weder Ägypten und Jordanien, die Friedensverträge mit Israel abgeschlossen haben, noch Syrien und der Libanon an einer Eskalation interessiert sind.

Denn in allen Nachbarstaaten Israels befürchten die jeweiligen Regierungen für diesen Fall eine weitere Islamisierung großer Teile der Bevölkerung. Zudem leben in allen vier Ländern Hunderttausende Palästinenser unter elenden Bedingungen in Flüchtlingslagern. Für sie hat schon lange niemand mehr Verwendung, auch nicht die PA. Arafat hat sich in Camp David lediglich für eine Entschädigung der Flüchtlinge, nicht aber ausdrücklich für ihre Rückkehr eingesetzt.

Diese Entschädigung hätte er damals ebenso erhalten können wie ein zusammenhängendes Staatsgebiet auf über 90 Prozent der Fläche von Westbank und Gazastreifen. Und obendrein Teile Ostjerusalems als Hauptstadt eines künftigen Staates Palästina. Selbst die israelische Kontrolle über den Tempelberg hätte Barak wahrscheinlich aufgegeben.

Dass just in dieser Situation ein provokativer Besuch des israelischen Oppositionsführers Ariel Sharon auf dem Tempelberg alles geändert haben soll, ist merkwürdig. So vermutete Ehud Barak denn auch in einem Interview mit dem US-amerikanischen Time-Magazine, dass die Provokation Sharons den Palästinensern nur zum Vorwand gedient habe. Schließlich habe Israels Sicherheits- und amtierender Außenminister Shlomo Ben Ami den Besuch zuvor mit einem führenden palästinensischen Sicherheitsbeauftragten vereinbart.

Nun steht Barak vor einer innen- wie außenpolitisch prekären Situation. Innenpolitisch läuft alles auf eine Große Koalition mit Sharons Likud hinaus, sollte Arafat nicht doch noch einlenken. In israelischen Zeitungen publizierte Umfragen der letzten Woche zeigen, dass die Mehrheit der Israelis zwar eine Fortsetzung des Friedensprozesses wünscht, allerdings in Arafat keinen seriösen Verhandlungspartner mehr sieht. Deswegen votierte eine Mehrheit der Befragten zugleich für die Bildung einer Koalition der »Nationalen Einheit«.

Aber dem Ausland muss Barak weiterhin Verhandlungsbereitschaft demonstrieren. Was zunehmend schwieriger wird, zumal die Präsidentschaftswahlen in den USA bevorstehen und der republikanische Kandidat George W. Bush Ereignisse wie den Bombenanschlag auf einen US-Zerstörer vor der Küste Jemens, bei dem letzte Woche 17 Matrosen getötet wurden, nutzt, um für außenpolitische Zurückhaltung der USA zu werben.

Indes versucht die EU, sich einen Ruf als ernstzunehmende Ordnungsmacht im Nahen Osten zu erwerben. Mit zweifelhaften Erfolgen: So meinte etwa die New York Times-Korrespondentin Jane Perlez, der französische Präsident Chirac habe Yassir Arafat geraten, kein Waffenstillstandsabkommen zu unterzeichnen, solange Israel nicht der Einsetzung einer internationalen Kommission zur Untersuchung des Vorgehens der israelischen Armee zustimme. Daraufhin scheiterten die Verhandlungen, das Blutvergießen ging weiter.