Der Ruf der Völker

Die Rezeption des israelisch-palästinensischen Konfliktes in deutschen Medien lässt nur einen Schluss zu: Deutschland befindet sich im Krieg.

Seit dem 12. Oktober befindet sich Deutschland wieder im Krieg. Kaum ist die Nachberichterstattung zum Nato-Krieg gegen Jugoslawien vorbei, stürzen sich deutsche Medien schon in den nächsten Feldzug für die Rechte der Völker. Denn die Auseinandersetzung zwischen Israel und den Palästinensern ist keine Frage regionaler politischer Interessenskonflikte, sondern ein weltgeschichtliches Dilemma, das »in der Regel dadurch aufgelöst worden ist, dass eines der beiden Völker ausgerottet wurde« (Frankfurter Rundschau) - und damit ein Problem der Deutschen.

»Gibt es Krieg?« fragte Bild am Tag nach den Lynchmorden von Ramallah, und die Süddeutsche Zeitung antwortete: »Die Ölpreise, Börsenkurse und die möglichen Konsequenzen für die Volkswirtschaften: Die Europäer sind unmittelbar betroffen.« Nur die Beteiligten verneinten. Der Zwischenfall sei bedauernswert, erklärten die Palästinenser; die darauffolgende Strafaktion eine begrenzte militärische Vergeltung, kein Krieg, bekräftigte Israel. Wie immer, wenn deutsche Medien sich der Sache eines »versprengten und eingepferchten Volkes« (FR) annehmen, berichten sie in erster Linie von sich selbst.

Die Bilder sind bekannt, nur die Kommentierung hat sich geändert. Aufgeputschte Massen und vermummte Gestalten - die Komparsen in so vielen Berichten über die islamische Bedrohung - werden nun verständnisheischend als Repräsentanten eines unterdrückten Volkes dargestellt, das den ungleichen Kampf mit der israelischen Militärmaschinerie aufgenommen hat. Im ZDF-»Spezial« erklärte der Sprecher der Hamburger palästinensischen Gemeinde, Israel schieße mit Raketen auf Kinder. Und Andreas Chichowicz fasste die vorherrschende Stimmung in einem NDR-Kommentar zusammen: Solange Israel die Palästinenser als Menschen dritter Klasse behandele, könne Frieden immer nur eine Kampfpause sein. Man kenne dies, so Chichowicz, aus der Geschichte - bedeutungsschwere Pause - »etwa aus Südafrika«.

Die Entdeckung, dass neben Kindern auch paramilitärische Polizeieinheiten und die bewaffneten irregulären Tanzin-Milizen sich an den Kämpfen beteiligten, bedauerte nach der Schändung des Joseph-Grabs Helmut Bremer in der FAZ vor allem wegen des Imageverlusts für die palästinensische Sache. Auch die taz, die den Staat Palästina bereits anerkannt hat, versteht den Zorn der Jugend: »Israel (...) versucht mit allen erdenklichen Finessen substanzielle Kompromisse zu vermeiden.«

Die Bilder aus Nablus und Hebron widersprechen den mitgelieferten Kommentaren eklatant. Die Paraden der Kämpfer von Fatah und Hamas belegen, dass der aktuelle Aufstand mit der Intifada der achtziger Jahre nur wenig gemein hat. Zu Recht wies der israelische Historiker Moshe Zimmermann darauf hin, dass nicht mehr steinewerfende Jugendliche, sondern ausgebildete und mit Schnellfeuergewehren bewaffnete Milizverbände Gegner der israelischen Armee seien. Es scheint, als nehme einzig die israelische Armee ihren palästinensischen Konterpart ernst. Weil die bisherige Taktik der Aufstandsbekämpfung nicht mehr möglich ist, greift sie auf militärische Mittel zurück, die an die Luftschläge der Nato gegen Jugoslawien erinnern. Anders als bei diesen wurde aber die Autonomiebehörde drei Stunden zuvor über den Angriff informiert. Das ZDF titelte später »Israelischer Raketenanschlag in Ramallah« und machte aus einem geplanten militärischen Angriff ein terroristisches Attentat.

Das Verständnis, das den Palästinensern in den deutschen Medien entgegen gebracht wird, sobald sie gewalttätig werden, entspringt nicht zuletzt der eigenen Sehnsucht nach Gewalt. Vertreter der jüdischen Gemeinden in Deutschland sahen sich kürzlich genötigt, die hiesige Berichterstattung zu kritisieren, da sie an »gezielte Desinformation« grenze. Deutlich drückt sich die vorherrschende Stimmung auf den Seiten des taz-online-Leserbriefforums aus. Ein »maier« schrieb dort am Tag nach den Lynchmorden von Ramallah: »Schon wieder bewiesen die Israelis, dass sie von den Menschenrechten nix gehört haben, aber am Ende wird Palästina bestimmt befreit von diesen Neofaschisten, dies ist der normale Verlauf der menschlichen Geschichte.«

Den Fernsehbildern des randalierenden und lynchenden Mobs fehlte diesmal jede Exotik. Sie waren kaum zu unterscheiden von den Bildern rassistischer Hetzjagden in deutschen Städten. Wohl wegen der Ähnlichkeit des Bildmaterials sah sich die »heute«-Redaktion gezwungen, Differenzen zu erzeugen. Voller Unverständnis und Empörung stehe man in Deutschland vor dem neuerlichen Ausbruch sinnloser Gewalt, bekräftigte Wolf von Lojewski und bat den Reporter aus Jerusalem »uns zivilisierten Europäern zu erklären, wie Menschen solche schrecklichen Taten begehen können«.

Dabei war es gerade einmal 24 Stunden her, dass Innenminister Otto Schily bekannt gegeben hatte, alleine in der ersten Hälfte des Jahres seien über 6 500 rassistische und antisemitische Straftaten verübt worden. Beide Tätergruppen sind »jugendliche Opfer«, hier wie dort mischt sich die zur Schau gestellte Abscheu gegenüber den Gewalttaten mit unverhohlener Sympathie.

Wie aber das antisemitische Ressentiment selbst, so ist auch die Sympathie der Medien zu den freiheitsliebenden Völkern von einer Ambivalenz gekennzeichnet, die eine Nähe zu jenen sucht, die sie zugleich hasst. Wie schnell die heute bekundete Solidarität mit den Palästinensern wieder zur Repression werden kann, hat das Beispiel der Kosovo-Albaner demonstriert. In kürzester Zeit verwandelten sie sich in den deutschen Medien vom unterdrückten Volk, das für Freiheit kämpft, zu mafiösen Banden von Radkappendieben. Solidarität können die Palästinenser also nur erwarten, solange sie das Bedürfnis nach Gewalt befriedigen und rechtfertigen.

Deshalb warnen die Kommentatoren vom Tagesspiegel bis zur taz vor Verhandlungen, bei denen die Palästinenser wieder einmal über den Tisch gezogen würden. Deshalb mischt sich unter die Empörung über die Gewalt immer auch die rechtfertigende Erklärung, und unter die Angst vor einem Krieg immer auch die Sehnsucht nach dem Ausnahmezustand. Beispielsweise wenn Werner Pirker in der jungen Welt bedauert, dass ein zukünftiger palästinensischer Staat »demilitarisiert« werde und lediglich über Sicherheitskräfte verfüge, »die für Paraden und das Niederhalten der eigenen Bevölkerung geeignet seien«, nicht aber für einen ordentlichen Krieg. Solange israelische Soldaten Palästinenser erschießen, kann man in Deutschland Blumen vor dem geschändeten jüdischen Friedhof ablegen und trotzdem weiter über die Juden nörgeln.

In Frankreich, wo der Konflikt Angriffe auf jüdische Einrichtungen und antisemitische Schmierereien nach sich zog, sind Vertreter von Juden, Muslimen, Katholiken und Protestanten mit einer gemeinsamen Erklärung gegen alle Feindseligkeiten an die Öffentlichkeit getreten. In Paris und auch in Washington fanden sowohl pro-palästinensische als auch pro-israelische Veranstaltungen statt. In Deutschland dagegen sah sich der bayerische Rundfunk genötigt, eine auf den Webpages des jüdischen Onlinedienstes Hagalil freigeschaltete Diskussionsseite als Zeichen der Toleranz zu preisen.