Die Linke und die Umstrukturierung Osteuropas

Den Osten entdecken

Der EU-Beitritt der osteuropäischen Länder bedeutet eine weitreichende Kräfteverschiebung zugunsten Deutschlands.

Auf die verschlafene Wiedervereinigung folgt die vergessene Ost-Erweiterung. Dass die so genannte deutsche Einheit nicht der Abschluss eines historischen Vorgangs war, sondern vielmehr erst dessen Anfang bildete, konnte bereits Anfang der neunziger Jahre jeder ahnen, der sich mit den Folgen der Vereinigung beschäftigte. Doch es ist still geworden in der radikalen Linken um den deutschen Drang nach Osten. Um nicht missverstanden zu werden: Dabei handelt es sich nicht um eine banale Wiederholung der Geschichte, sondern um einen modernen und moralisch verbrämten europäischen Imperialismus unter deutscher Hegemonie.

Ähnlich wie beim Angriff auf Jugoslawien, der wahlweise menschen- oder völkerrechtlich legitimiert wurde, wird auch bei der Ost-Erweiterung kulturalistisch argumentiert. Typisch dafür sind die Zeitungsbeilagen zum diesjährigen Schwerpunkt der Frankfurter Buchmesse: »Polens Rückkehr nach Europa«, titelt die taz, »noch ist Polen nicht gewonnen«, warnt die NZZ. In vermeintlich vorpolitischen Kulturbegriffen wird vom »entführten Sohn« schwadroniert. Der Kidnapper - alles wissen es - ist der russische Bär, ein asiatisches Tier. Manchmal etwas mitleidig, jedoch mit der notwendigen Härte werden in den Politik- und Wirtschaftsteilen der Zeitungen die osteuropäischen EU-Beitrittskandidaten auf die Schulbank verwiesen und benotet, und schließlich wird ihnen das Zeugnis ausgestellt. Das Klassenziel ist erreicht, 2002 kommt die Reifeprüfung, schon ein Jahr später könnten die ehemaligen Ostblockstaaten frisch gebackene Mitglieder der Europäischen Union sein.

Es existieren natürlich wesentliche Unterschiede zwischen Jugoslawien und den anderen ehemaligen Ostblockstaaten, insbesondere in der politischen Strategie der Führungseliten. Jugoslawien setzte auf einen selbständigen Kurs gegenüber dem Westen, andere Staaten ordneten ihre Interessen Westeuropa unter. Ausnahmen bildeten vorübergehend die Slowakei und bis heute Weißrussland. Diese Staaten öffneten ihre Wirtschaft nicht kompromisslos, sondern wagten es, Schlüsselindustrien in eigener Regie weiter zu betreiben und sie nicht der Weltmarktkonkurrenz auszusetzen. Reformfeindlichkeit, versteckte Staatswirtschaft, Verstoß gegen das Naturrecht auf Privateigentum sind noch die mildesten Urteile, die über diese Länder zu hören sind.

Die Aggressivität der Ost-Erweiterung lässt sich am besten erkennen, wenn sie auf Widerstand stößt. Geht nicht die Staatsmacht auf Distanz, sondern artikulieren bestimmte Bevölkerungsgruppen ihren Unmut, werden sie dafür kritisiert, nur ihre Privilegien sichern zu wollen. Polnische Bauern und Bergarbeiter, nach dem Verständnis der EU zum Großteil überflüssig, protestieren seit zehn Jahren gegen die Konsequenzen eines Beitritts und stoßen im Westen bestenfalls auf seelsorgerisches Verständnis.

Dabei darf natürlich nicht übersehen werden, dass sich der Widerstand zumeist in fetischistischen Formen äußert: Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus gehören zum Standardrepertoire, die neuen Zentralen der Weltverschwörung werden in Brüssel, Berlin und, wie ehedem, in Moskau vermutet. Dennoch kann nicht ignoriert werden, dass die umfassende Umstrukturierung eines halben Kontinents direkt vor der Haustür vor sich geht. Und diese Umwälzung der ökonomischen und sozialen, kulturellen und ideologischen Verhältnisse inklusive der Umschreibung der Geschichte ist in der radikalen Linken bisher nicht untersucht worden - mit wenigen Ausnahmen wie dem Projekt »Für einen Neuen Anti-Imperialismus« und der ansonsten nicht zu Unrecht viel gescholtenen Zeitschrift Gegenstandpunkt. Hier finden sich wenigstens Versuche, den Umbau Osteuropas zum deutsch-westeuropäischen Hinterhof zu kritisieren.

Sonst wird das Thema einfach ignoriert. Während bewegte Linke massenhaft zum Treffen von Währungsfonds und Weltbank nach Prag reisen und die Globalisierung auch einfache Gemüter erregt, wird anlässlich des EU-Gipfels im Dezember in Nizza hierzulande kein Mensch auch nur ein Transparent hochhalten oder ein Flugblatt verteilen. Der für die Erweiterung zuständige EU-Kommissar Günter Verheugen und seine Brüsseler Kollegen sind entweder schlicht unbekannt oder gelten auch unter deutschen Linken als die langweiligen Onkels aus dem gemütlichen Haus Europa.

Die Ursachen für die erstaunliche Unwissenheit sind in der Geschichte der neuen Linken zu finden. Nach fundamentaler Kritik am staatssozialistischen Projekt in den sechziger Jahren freundeten sich viele mit dem sozialdemokratischen Imperialismus Willy Brandts und seinem Motto des »Wandels durch Annäherung« an; andere organisierten K-Gruppen und pflegten romantische Vorstellung vom Realsozialismus. Und die überwiegende Mehrheit wendete sich bald ganz von den als »statisch« und damit als uninteressant eingeschätzten realsozialistischen Staaten ab.

Der große Streik von 1980 und die Gründung der Solidarnosc in Polen waren dann folglich für die einen die Vollendung der Revolution - für die anderen die blanke Konterrevolution. Osteuropäische Geschichte wurde nur in Mythen rezipiert und zur Leinwand für die eigenen Projektionen. Die fehlende kritische Auseinandersetzung mit dem, was hinter dem eisernen Vorhang geschah, ließ die Linke nur verdutzt auf die nicht verstandenen Vorgänge von 1989 reagieren.

Nach dem Zusammenbruch des Realsozialimus schwankte die neue Linke zwischen heimlicher Freude und blankem Erschrecken und blieb doch auf jeden Fall begriffslos. Sie musste zuschauen, als die gesellschaftlichen Verhältnisse in Osteuropa in kürzester Zeit auf den Kopf gestellt wurden, und sieht die osteuropäischen Länder nur zehn Jahre später kurz vorm Beitritt zur Europäischen Union.

Von dem als Antitotalitarismus getarnten Antikommunismus des Mainstreams bedrängt, versuchte man in den neunziger Jahren am Staatssozialismus doch noch einige sympathische Eigenschaften zu finden. Die DDR wurde halb ernsthaft, halb ironisch verteidigt. Anstatt den Transformationsprozess vom Staatssozialismus zum proto-kapitalistischen Staat zu kritisieren, wurde plötzlich genau abgewogen: Das Gesundheits- und Rentensystem sei doch gar nicht schlecht gewesen; auch habe der Staatssozialismus massenhaft Arbeitsplätze für Frauen bereitgestellt. Die Spontis, Hedonisten und Kulturlinken wiederum erklärten, nun werde der provinzielle Spießermief des Kleinbürgersozialismus von der »Weltkultur« hinweggefegt.

Doch der eiserne Vorhang hat auch bei der (west-) deutschen Linken eine mitunter peinliche Unkenntnis der Geschichte, Politik und Kultur der osteuropäischen Länder produziert - und das Desinteresse hält an. Osteuropa ist für die deutsche Linke ein weißer Fleck auf der Landkarte geblieben. Kurdischer »Befreiungskampf«, südamerikanische Bauernbewegungen und Befreiungstheologien, zapatistische Internet-Agitation und die Intifada gehören zu den Standards linksradikaler Diskussion. Zu Osteuropa fällt der Linken heute nichts ein außer ein paar Stereotypen.

Die atemberaubend schnelle und umfassende Revision der Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs, der auch die Zurückdrängung des deutschen Imperialismus hinter Oder und Neiße bedeutete, wird 2002 seine nächste Etappe finden. Dann werden aller Voraussicht nach Polen, Ungarn, Tschechien und Estland in die EU aufgenommen. Was die Nato-Ost-Erweiterung militärisch vorgegeben hat, wird dann ökonomisch und politisch vollendet. Dies bedeutet eine weitreichende Kräfteverschiebung - zugunsten Deutschlands, zum Nachteil Russlands und mittelfristig auch der USA.

Eine Kritik an Kapital, Nation und Staat in und an Deutschland muss diesen Sachverhalt wenigstens begreifen. Die EU und ihre Ost-Erweiterung als imperialer Zugriff sind bisher von der Kritik ignoriert worden. Der Überfall auf Jugoslawien war nur die sichtbare Seite eines umfassenderen Programms: die Schaffung eines europäisch-deutschen Hinterhofs.