Die Linke und die Umstrukturierung Osteuropas

Den Osten kennen lernen

Die EU-Erweiterung ist keine geschlossene Veranstaltung. Es kommt darauf an, die ihr innewohnenden Widersprüche herauszuarbeiten.

So richtig die Kritik an der mangelnden Auseinandersetzung der deutschen Linken mit den Verhältnissen in Osteuropa auch ist, so greift sie doch zu kurz. Während Lutz Eichler in »Den Osten entdecken« (Jungle World, 47/00) die EU-Ost-Erweiterung als in sich geschlossene Veranstaltung skizzierte, glauben wir, dass es vielmehr darum gehen müsste, die dem Prozess innewohnenden Widersprüche herauszuarbeiten. Eichlers Forderung, den Osten zu »entdecken«, führt darüber hinaus auf die falsche Fährte, weil sie suggeriert, allein die Beschäftigung mit dem Thema würde genügen, um eine radikale politische Perspektive zu entwickeln. Wir meinen, dass eine solche Perspektive nur gemeinsam mit den OsteuropäerInnen entstehen kann.

Hinterhof, Hausflur oder Besenkammer? Die Frage, warum die EU die osteuropäischen Kandidatenländer überhaupt integrieren will, ist nicht einfach zu beantworten. Das klassische Beispiel einer imperialen Hinterhofpolitik, wie sie sich etwa im Verhältnis der USA zu Lateinamerika ausdrückt, kennt keine Integration dieser Länder in einen derart engen Verbund wie die EU.

Aus EU-Perspektive gibt es jedoch gute Gründe, die osteuropäischen Länder zwar nicht in die gute Stube, aber zumindest in den Hausflur zu lassen. Zur Begründung dient die von Eichler zitierte kulturalistische Buchmessen-Argumentation, in der sich die vermeintliche moralische Überlegenheit des Westens und die faktische Dominanz so genannter westlicher Werte im Reformdiskurs des Ostens widerspiegeln. Ohne den tatsächlichen ökonomischen Druck auf die osteuropäischen Staaten fehlte dieser Argumentation aber die materielle Basis.

Anfang der neunziger Jahre war es das Bestreben der EU, die Umorientierung der Region Richtung Westen zu garantieren und eine eventuelle Rückwendung zum Staatssozialismus zu verhindern. Dieses Bestreben führte zu den ersten vagen Versprechungen aus Westeuropa, die dann in einem langwierigen Prozess in die heutigen Beitrittsverhandlungen mündeten.

Die Öffnung der osteuropäischen Märkte für westliche Waren und westliches Kapital ist sicher einer der wichtigsten Gründe und kommt dem Hinterhof-Argument am nächsten. Sie ist aber de facto über die verschiedenen Assoziierungsabkommen schon längst vollzogen worden - die EU ist mit Abstand wichtigster Handelspartner für alle Beitrittskandidaten, in den letzten Jahren haben vor allem westeuropäische, aber auch US-amerikanische Konzerne viele der Filetstücke der osteuropäischen Wirtschaft erworben. Wenn man in Budapest einen Supermarkt sucht, so sind praktisch nur westliche Filialen zu finden.

Allerdings mussten die neoliberalen Strategen auch zur Kenntnis nehmen, dass die unsichtbare Hand des Marktes doch nicht alles regelt, sondern dass es einer Vielzahl von Institutionen und Normen bedarf, um dem Kapital profitables Wirtschaften zu ermöglichen. Die Forderung nach buchstabengetreuer Umsetzung des »acquis communitaire«, der 80 000 Druckseiten umfassenden Gesamtheit der EU-Regularien, ist der Versuch, westeuropäische »Rechts-« und Geschäftssicherheit in Osteuropa zu etablieren.

Nicht zuletzt ist es aber die Einsicht - gerade auch von deutscher Seite -, dass eine über tausend Kilometer lange Ostgrenze mit dem heutigen Wohlstandsgefälle für die Festung Europa zu einem dauerhaften Problem werden würde. Also wird diese Grenze gerade weiter im Osten reproduziert - einer der wenigen Faktoren, die von der Linken in Deutschland bisher einige Beachtung erfahren haben.

Darüber hinaus haben die Einzelstaaten jeweils eigene Strategien, die Erweiterung im EU-Poker für ihre Interessen zu nutzen. Während Deutschland versucht, per EU-Ost-Erweiterung das Gewicht der großen Staaten im komplizierten Institutionengefüge zu erhöhen und dadurch die hierarchische Integration voranzutreiben, ist beispielsweise das britische Ziel mit »erweitern statt vertiefen« zu umschreiben. Hierin liegt die eigentliche Brisanz des Gipfels in Nizza - die Auseinandersetzung darum, auf welche Weise die EU selbst »erweiterungsfähig« gemacht werden soll, greift tief in die bisherigen Entscheidungsstrukturen ein.

Andererseits lässt sich argumentieren, dass die EU kein wirkliches Interesse daran hat, die osteuropäischen Länder überhaupt über ihre Schwelle treten zu lassen. Immerhin ist die EU nicht »nur« ein transnationales neoliberales Projekt. Der interne Konsens wird auch über einige Umverteilungsmechanismen wie die Struktur- und Regionalpolitik abgesichert. Die Integration von bis zu zehn Ländern, die in ihrer ökonomischen Leistungsfähigkeit weit hinter dem EU-Durchschnitt zurückbleiben, könnte diese Einigkeit leicht sprengen. Ob tatsächlich die Integration der Kandidaten als Vollmitglieder die erste Wahl ist, kann deshalb bezweifelt werden.

Die augenblickliche Politik der EU entspricht beiden Tendenzen: Sie ist der Versuch, die Kerngebiete neoliberaler Deregulierung auf die Beitrittsländer auszudehnen, ohne diese an die Ausgleichs-, sprich Finanztöpfe zu lassen. Schon aus diesem Grund ist jedoch zu vermuten, dass die bislang anvisierten Beitrittstermine zwischen 2003 und 2005 kaum eingehalten werden, weil viele der brisanten (Verteilungs-) Fragen bisher auf die lange Bank geschoben wurden. Auch nach dem Beitritt wird der Platz für die osteuropäischen Länder allenfalls die Besenkammer des europäischen Hauses sein.

Aus Sicht der osteuropäischen Länder selbst ist die Erweiterung hingegen zunächst die Chance, in den »Klub der Auserwählten« aufgenommen zu werden und damit die Attraktivität des eigenen Landes als Standort und Wettbewerbsstaat beträchtlich zu erhöhen. Dies ist der Aspekt, der zeitweilig zu breitem Konsens über die Erweiterung führte.

Andererseits dient der »Sachzwang EU« den neoliberalen Eliten in den zu Beitrittskandidaten geadelten Ländern aber zur Durchsetzung von Deregulierung und »Reformen« gegen große soziale Gruppen wie öffentlich Beschäftigte oder LandwirtInnen und soll deren Transformationspolitik legitimieren. Angesichts der deutlicher werdenden sozialen Folgen des sich etablierenden peripheren, teilintegrierten Kapitalismus wächst der Widerstand und erschwert so die Erfüllung der »Beitrittskriterien«.

Die Erweiterungsdebatte spaltet die osteuropäischen Gesellschaften immer deutlicher - in diejenigen, die sich vom Beitritt persönliche Chancen versprechen, und diejenigen, die ihre Lebensgrundlage bedroht sehen. Stadt-Land, Ost-West, hoher und niedriger Bildungsstandard sowie Alter sind die wichtigsten demographischen Spaltungskriterien.

Dennoch stellt sich aus der Perspektive dieser Länder natürlich die Frage, ob es angesichts der Realität der EU besser ist, drinnen zu sein oder draußen. Aber auch Linke in Westeuropa tun sich mit dem Thema schwer: Die Solidarität untereinander - Einforderung sozialer Gerechtigkeit innerhalb der EU - könnte die mit den OsteuropäerInnen überlagern. Die kritische Auseinandersetzung mit solchen Positionen könnte ein Ansatzpunkt sein, eine eigene Position zur Europapolitik zu entwickeln - denn die Abstinenz von der Erweiterungsdiskussion ist nur zur Hälfte dem Desinteresse an Osteuropa, zur anderen Hälfte aber der Ignoranz gegenüber der Bedeutung der EU geschuldet. Solange nicht der theoretische linke Europadiskurs in eine politische Strategie bezüglich der EU umgemünzt wird, wird es auch keine vernünftige Position zur Ost-Erweiterung geben können. »Bleibt lieber draußen, so schön ist es hier gar nicht«, ist den OsteuropäerInnen gegenüber keine ausreichende Argumentation.

»Osteuropa entdecken« ist, wenn es nicht als erobern missverstanden wird, wichtig, aber nicht ausreichend. Es geht darum, OsteuropäerInnen kennen zu lernen - Netzwerke aufzubauen, gemeinsam eine Strategie zu entwickeln, die sich erkennbar und deutlich unterscheidet von rechten Anti-Europa-Slogans, die es ja nicht nur in Osteuropa gibt. Dazu gehört auch, die Ausgrenzung der GUS-Länder aus der europäischen Entwicklung zu thematisieren.

Die Westlinke wird eigene Positionen hinterfragen müssen, um ein Anknüpfen an Debatten der osteuropäischen Linken überhaupt erst zu ermöglichen. Dabei ist nicht nur die Auseinandersetzung mit kapitalistischen Verwertungsinteressen der EU in Osteuropa gefragt, sondern ebenfalls mit den Inhalten und systemimmanenten Folgen der autoritären Staatssozialismen. Eine gemeinsame Politik zu entwickeln, ist angesichts unterschiedlicher historischer und biographischer Hintergründe und unterschiedlicher Lebensrealitäten der Linken - oder besser: emanzipatorischer Gruppen - in Ost und West nicht einfach, aber unentbehrlich.

Die Osteuropa-AG beschäftigt sich seit einigen Jahren mit emanzipatorischen und antiautoritären Projekten in Osteuropa.

Kontakt: osteuropa-ag@web.de