Zum 25. Todestag Hannah Arendts

Lang lebe Israel ...

... aber wie? Drei längst vergessene Vorschläge zur Entschärfung des jüdisch-arabischen Konflikts. Zum 25. Todestag von Hannah Arendt.

Wenn sich Anfang Dezember der Todestag Hannah Arendts zum 25. Mal jährt, werden auch in Deutschland viele wieder im Vermächtnis der jüdischen Philosophin auf der Suche nach Brauchbarem herumsuchen. Man liest ein bisschen in »Über die Revolution«, schüttelt den Kopf über »Eichmann in Jerusalem«, um anschließend doch nur wieder in »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« fündig zu werden. Schließlich hat sich Deutschland, wenn auch spät, Arendt angeeignet - als Theoretikerin des Totalitarismus.

Dabei ist der Totalitarismus bei Arendt nur ein Thema am Rande, ein Phänomen des 20. Jahrhunderts, das sich bei der Beschäftigung mit ihren Hauptthemen, dem Nationalsozialismus und dem Antisemitismus, aufdrängt. In ihrem Hauptwerk »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« werden die historischen und strukturellen Formen autoritärer Herrschaft analysiert, vor allem im Hinblick auf die Beschaffenheit des Dritten Reiches und seiner Bewohner. Auch am Beispiel der Sowjetunion wird die staatliche Durchdringung der Gesellschaft untersucht. Die Betrachtung ist deutlich vom NS abgegrenzt, der Tod Stalins 1953 ist für Arendt gleichbedeutend mit dem Ende staatlicher Totalität in der Sowjetunion.

Arendts Äußerungen zum Thema Israel sind hingegen bisher nur wenig beachtet worden. »Jede reale Katastrophe in Israel würde mich mehr berühren als alles andere«, schrieb sie in den sechziger Jahren an ihre Freundin Mary McCarthy. Bis zu ihrem Tod war ihr Verhältnis zu Israel von Solidarität geprägt, die allerdings nie auf Kritik verzichtete. So warnte sie 1948 in einem Offenen Brief an die New York Times vor Menachem Begin, dem späteren israelischen Premierminister, der zu dieser Zeit als Vorsitzender der israelischen Freiheitspartei (Tnu'at Haherut) auf Staatsbesuch in den USA war.

Bei der Freiheitspartei handele es sich, so Arendt, um ein Sammelbecken des frü-heren Irgun Zvai Leumi, einer »terroristischen, rechtsradikalen, chauvinistischen Organisation«, die im britischen Mandatsgebiet Palästina »die Doktrin des faschistischen Staates gepredigt« habe. Nun, nach der Entstehung des israelischen Staates - die Proklamation erfolgte im Mai 1948, die Sowjetunion und die USA erkannten den neuen Staat sofort an - gebe sich Begin als Demokrat. Alle amerikanischen Politiker sowie die zionistischen Organisationen in den USA sollten sich weigern, mit Begin zusammenzutreffen.

Breits vor der israelischen Staatsgründung hatte Arendt zu Palästina publiziert. Im Dezember 1943 erschien in der Emigrantenzeitschrift Aufbau ihr Artikel »Kann die jüdisch-arabische Frage gelöst werden?« Der Essay beginnt mit einer Kritik an der Realpolitik der zionistischen Bewegung - Arendt gehörte von 1933 bis 1943 der World Zionist Organisation an -, um sich schließlich Fragen des jüdisch-arabischen Zusammenlebens zuzuwenden. Wie kann, so fragt Arendt, »Palästina als nationale Heimstätte für die Juden gerettet werden«, ohne dass dies zu Dauerkonflikten mit der arabischen Bevölkerungsmehrheit führt.

Sie stellt diese Frage zu einem Zeitpunkt, als die Deutschen den überwiegenden Teil Europas militärisch beherrschen und sich schon längst daran gemacht haben, die europäische Judenheit zu vernichten. Von den wenigen Juden, die fliehen konnten, versuchen viele nach Palästina zu gelangen, wo die britische Mandatsmacht nach den Prämissen aus ihrem »Weißbuch über Palästina« die Zuwanderung von Juden zu verhindern sucht. »Im freien Spiel der Machtpolitik kann man die Juden, da sie über keinerlei Machtposition verfügen, als quantité négligeable betrachten«, schreibt Arendt und schlägt vor, eine jüdisch-arabische Föderation zu schaffen, die sich in ihrer Struktur an den USA orientieren soll: »In dieser Vereinigung besitzt kein Einzelstaat irgendeine Vorherrschaft über den anderen, und alle Staaten zusammen regieren das Land.«

Eine weitere Möglichkeit sieht Arendt in einem noch größeren Zusammenschluss, einer Mittelmeerföderation. »In einem derartigen Modell wären die Araber stark repräsentiert, jedoch nicht in einer Position, daß sie alle anderen dominieren könnten. (...) Für die Juden hieße dies, daß man ihnen ihre Würde und ihre Stellung unter den Völkern des Mittelmeers wiedergegeben hätte, zu deren kulturellem Ruhm sie doch so viel beigetragen haben.«

Kurz nachdem 1948/49 die westliche Welt verblüfft zur Kenntnis nehmen musste, wie der gerade erst gegründete Staat Israel bereits seinen ersten Krieg führte und gewann, erschien in der Review of Politics Arendts Essay »Frieden oder Waffenstillstand im Nahen Osten?«: »Trotz aller gegenteiligen Hoffnungen sieht es so aus, als ob Gewalt die einzige Sprache sei, die die Araber nicht verstehen können. Im Hinblick auf das arabisch-jüdische Verhältnis haben der Krieg und die israelischen Siege überhaupt nichts verändert oder gelöst.«

Und wieder macht Arendt einen Vorschlag, von dem niemand etwas wissen will. Nicht die Israelis, »die Araber bestenfalls als interessantes Beispiel volkstümlichen Lebens und schlimmstenfalls als ein rückständiges Volk, das nicht zählte« ansehen würden. Nicht die arabische Seite, von der »mit unbekümmerter Hartnäckigkeit immer wieder der alte Eigentumsanspruch auf das Land erhoben« werde, ohne zu erkennen, dass die Juden schon längst etwas ins Land gebracht hätten, »das durch seine schiere Produktivität bald zum ausschlaggebenden Faktor wurde.«

Arendt setzt auf die Ökonomie als gemeinsame Basis eines guten Zusammenlebens von Juden und Arabern, auf eine sozialistische Ökonomie, die bereits im britischen Mandatsgebiet Palästina entstanden sei: »Wenn amerikanisches und europäisches Kapital ins Land floß, dann kam es nicht als dividendenbringendes Kapital abwesender Aktionäre, sondern in Form von ðSpendenÐ, welche die Empfänger nach eigenem Gutdünken verwenden konnten.«

Und die auch so verwendet wurden: »für die Errichtung von Kollektivsiedlungen, für langfristige Darlehen an Landwirtschafts- und Arbeitergenossenschaften, für das Sozial- und Gesundheitswesen, für kostenlose Bildung und Erziehung für alle und ganz allgemein für den Aufbau einer Wirtschaft mit einem ausgesprochen sozialistischen Charakter. (...) Und dies geschah ohne Eroberung und ohne den Versuch, die Eingeborenen auszurotten.«

Da zudem der Gewerkschaftsverband Histadruth maßgeblich an der Entstehung des israelischen Staates beteiligt gewesen sei, müsse es doch möglich sein, so Arendt, die arabischen Flüchtlinge zurückkehren zu lassen und gemeinsam eine regionale Föderation, einen palästinensischen Staatenbund aufzubauen: »Eine Nahost-Föderation hätte die Aufgabe, eine allen gemeinsame Wirtschaftsstruktur zu schaffen, sie müßte für ökonomische und politische Zusammenarbeit sorgen und dafür, daß die wirtschaftlichen und sozialen Errungenschaften der Juden allen zuteil werden.« Das Kapitel des Essays »Frieden oder Waffenstillstand im Nahen Osten?«, in dem diese Gedanken 1950 ausgeführt wurden, trägt die Überschrift: »Föderation oder Balkanisierung?«

Am 4. Dezember 1975 starb Hannah Arendt in New York.

Hannah Arendt: Israel, Palästina und der Antisemitismus. Herausgegeben von Eike Geisel und Klaus Bittermann. Wagenbach, Berlin 1991, 123 S., DM 15,80