Robert B. Brandoms »Expressive Vernunft«

Arbeiten am Begriffsroman

Der amerikanische Sprachphilosoph Robert B. Brandom und sein Werk »Expressive Vernunft«.

Es ist nicht alles wahr, bedeutsam oder auch nur erbaulich, was Krach schlägt. Ein Beispiel? Als der alttestamentarische Prophet Elia auf dem Berg Horeb seinen Gott suchte, erlebte er erst ein Erdbeben und danach eine gewaltige Feuersbrunst. Das waren zweifelsfrei »große Ereignisse«. Von beiden aber sagt die Schrift, der HErr sei »nicht darin« gewesen. Dann jedoch »kam ein stilles sanftes Sausen« und dem folgte zuletzt eine Stimme, welche die berechtige Frage stellte: »Was hast du hier zu tun, Elia?« (1. Kg. 19: 11-14). Was immer das nun gewesen sein mag, was der Prophet auf dem Horeb zu tun hatte - etwas ganz ähnliches wie jenes »stille sanfte Sausen«, nämlich den Gedanken des gesegneten Innehaltens und Überlegens, benennt die Wendung von der »leisen Stimme der Vernunft«. In dieselbe Schublade gehört wohl auch die schöne alte Volksweisheit: »Erst denken, dann reden« und ihr entfernter Cousin: »Wer brüllt, hat Unrecht«. Worauf ich hinauswill?

Unter den unzählbaren Lüsten, in deren Lianenranken wir Zweibeiner-auf-Kohlenstoffbasis uns verstricken können, ist die Lust an Begriffen und ihren Verknüpfungen die äußerlich unscheinbarste - ein »stilles sanftes Sausen«. Trotzdem gibt es - abgesehen vom mitternächtlichen Heißhunger auf Kartoffelchips, der uns auch bei Schneeregen aus der Wohnung und zur Tankstelle treibt - kaum eine Begierde, der man sich rauschhafter überlassen kann.

Es ist die Lust am Integrieren und Unterscheiden des Wissbaren, die den achtzigjährigen Amphibienforscher ergreift, wenn er die Rückseite einer Froschfotografie feinsäuberlich mit »Litoria Caerulea« beschriftet; dieselbe Lust, die der mathematischen Physikerin kurz nach der Doktorprüfung auf einer langen S-Bahn-Fahrt eine neue Überlegung zur Theorie der schwachen n-Kategorien als Hilfsmittel einer n-dimensionalen ausgedehnten topologischen Quantenfeldtheorie eingibt; keine andere Lust als die, die bei der Redaktionssitzung einer politischen Zeitschrift Köpfe heißlaufen lässt, wenn die Frage im Raum steht, ob für die Beurteilung der Vorgänge in Nahost eher geopolitische oder eher völkerrechtliche, eher historische oder eher instrumentalistische Begriffsnetze aufgespannt werden müssen; die nämliche Lust, die Thomas von Aquin umgetrieben hat, als er sich die Frage stellte, wieso Jesus am Kreuz sterben musste und ob es keinen besseren Weg zur Welterlösung gab. Es kann nur diese Lust gewesen sein, die den Distinguished Service Professor of Philosophy an der University of Pittsburgh, Robert B. Brandom, dazu gebracht hat, sein im Original runde 730, in der kürzlich erschienenen deutschen Fassung über 1 000 Seiten dickes Buch »Making it Explicit« bzw. »Expressive Vernunft« zu schreiben.

Wie der oben abgespulte Katalog von möglichen Aggregatzuständen der Lust belegt, sind a) der jeweilige Inhalt derselben und b) ihr vorgängiger Zweck im Grunde nebensächlich. Trotzdem sind sie hinsichtlich ihrer Wichtigkeit sozial gestaffelt. Vom Frosch hängt wenig ab, davon, wie wir uns politisch äußern, schon mehr, und von Jesus für Christen alles. Im günstigsten Fall geraten die Gemeinsamkeiten aller genannten Beispiele selbst ins Zentrum der Aufmerksamkeit. So ist das bei Robert Brandom, doch löst man sein Buch aus den übrigen Fällen heraus, gilt es eine Beklommenheit zu überwinden, die schon bei den allernaheliegendsten Fragen aufkommt. Fragen wie: Worum geht es überhaupt?

Denn zwar hat man das Buch - mit dem Einverständnis seines Autors - in zahlreichen Rezensionen, Kommentaren und universitären Auseinandersetzungen pauschal der »Sprachphilosophie« zugeschlagen. So konnte neulich eine Vorlesung an der Uni meines Heimatorts den lakonischen Titel tragen: »Sprachphilosophie der Gegenwart: Robert Brandom«. Die Erläuterung am Vorlesungsaushang präzisierte: »Gegeben werden soll eine Art Zwischenbilanz über Diskussionen der analytischen Sprachphilosophie des 20. Jahrhunderts. Robert Brandom nimmt mit seinem umfangreichen, von manchen schon als Klassiker betrachteten Buch ðMaking it ExplicitÐ Diskussionsergebnisse (...) auf und versucht diese in eine umfassende, pragmatisch ausgerichtete Philosophie der natürlichen Sprache zu integrieren.« Ein Buch übers Sprechen, Meinen und Handeln also? Schon.

Aber wenn man sich in der Gesamtanlage des Werks eine Weile lustwandelnd ergangen hat, kommt einem in den Sinn, dass man es außerdem mit ebenso weitreichenden wie - trotz der geschichtlichen Herkunft, auf der Brandom bescheiden besteht - originellen Überlegungen zur Philosophie des Geistes, des Sozialen, des Wissens und der Wissenschaften zu tun hat. Das liegt nicht nur an Brandoms Ideen, sondern auch an der Nährlösung »analytische Philosophie«, in der er sie großgezogen hat.

In Deutschland weiß man außerhalb von Fachkreisen nicht viel von dieser heutzutage hauptsächlich anglo-amerikanischen Philosophie. Das meiste, was in den letzten Jahren dazu von einer breiteren hiesigen Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen wurde, stammt von einem Abtrünnigen der betreffenden Tradition: Richard Rorty, dessen Werk gleichermaßen von der Analysis, der europäischen Hermeneutik (Gadamer), dem Neopragmatismus (im Rückgriff auf James und Dewey) und der Derrida-Lektüre beeinflusst ist.

Da trifft es sich zwar auf den ersten Blick gut, dass dieser Rorty, dem manche analytische Kollegen sein großes Interesse an »kontinentalen«, genauer: »französischen« Denkstilen arg verübeln, ausgerechnet ein Lehrer von Robert Brandom war und außerdem einer der beiden Leute ist, denen der sein großes Buch gewidmet hat. Andererseits aber verzerrt Rortys - von Brandom so nicht geteilte - anhaltende Polemik gegen den an der Mathematik und den Naturwissenschaften orientierten Stil der analytischen Philosophie das Bild dieser Schule beträchtlich. Von deren Sinn und Zielen gibt es nämlich so viele Definitionen, wie sie führende VertreterInnen und ParteigängerInnen hervorgebracht hat.

Daher ist im Hintergrund von Annette Baiers Vorlesungsskript »The Commons of The Mind« von 1997 eine andere »Analysis« gegenwärtig als in Michael Dummets aufschlussreichem Suhrkamp-Bändchen »Ursprünge der analytischen Philosophie« von 1992. Eine wieder andere Grundierung analytischen Denkens stellt »Der Empirismus und die Philosophie des Geistes« von 1999 vor, mit Texten von Wilfrid Sellars - der zweite große Name, dem Brandom sein Buch gewidmet hat. Hilary Putnams Schriften bieten eine weitere - und damit ist erst die Oberfläche angekratzt, oder andersrum: ein Bodensatz, der genug Zeit hatte, sich zu Büchern zu verfestigen.

Die eigentliche, laufende Diskussion findet in papers statt, die oft schon vor ihrer Veröffentlichung in Fachzeitschriften unter den Peers kursieren - ein Modell der philosophischen Diskussion, das, wie Rorty zu Recht häufig betont, den Gepflogenheiten der NaturwissenschaftlerInnen nachgebildet ist. Unsere S-Bahn-Mathematikerin von vorhin denkt ihre Gedanken ja, trotz Intuition, nicht in einem allenfalls durch ein bisschen historische Rückschau angereicherten kontemplativen Vakuum, sondern in einem echoreichen sozialen Logikraum der jüngsten Veröffentlichungen über die Klassentheorie von Morphismen und anderem relevanten Kram. Wenn man diese Debattenlage rund um Brandom im Sinn behält, wirkt die Tatsache umso beeindruckender, dass er den Weitblick aufbringt, gut hundert Jahre mehr oder weniger analytischer Gedankenarbeit in einem Buch zu konzentrieren und dem eine eigene Färbung zu geben.

Brandoms Geschichte schreibt sich, fast schon klassizistisch, zunächst vom Logiker und Metamathematiker Gottlob Frege (1848-1925) her, der die Kraft der formalen Logik dazu benutzen wollte, die Mathematik und das Denken auf dem Weg zu ihren vermuteten »Grundlagen« auf sich selbst zurückzuführen. Aus Freges Programm und dem mit seinem Alterswerk zeitlich koinzidierenden metawissenschaftlichen Spekulieren des neopositivistischen Wiener Kreises fand der Gedanke »Begriffsgrundlegung« dann ins Werk von Engländern wie Bertrand Russell und Alfred North Whitehead, die zusammen mit dem nach England emigrierten Ludwig Wittgenstein die eigentliche »analytische« Schule auf den Weg brachten.

Manche lesen die Entstehung der Analysis als wichtigsten Ausdruck der »linguistischen Wende« in der Philosophie des frühen 20. Jahrhunderts, d.h. der Abkehr von der Bewusstseinsphilosophie und Hinwendung zu Sprachphilosophie. Die Brücke dahin war die allmählich sich festigende Überzeugung, dass man Denken nur als Sprache untersuchen könne - man diskutiere mal einen »nichtsprachlichen Gedanken« oder stelle ihn sich auch nur vor. Vom späten Wittgenstein der »Philosophischen Untersuchungen« (1953 aus dem Nachlass) aus nahm die »Bedeutungsforschung« der Analysis dann eine »pragmatische Wende«, d.h. man befasste sich zusehends mit dem Sprachhandeln. Dieser Abschnitt kulminierte vorerst in Willard van Orman Quines Hauptwerk »Word and Object« von 1960.

Am Besten wird man der Reichweite von Brandoms »alt-neuem« Ansatz wohl gerecht, wenn man zwei in seinem Buch stark hervorgehobene Begriffspaare herausstellt: erstens »inferentielle Semantik« und zweitens »normative Pragmatik«. Mit »inferentieller Semantik« ist gemeint, dass die Bedeutung von Ausdrücken - besonders der als vorbildlich genommenen »assertorischen« (d.h. Behauptungen) - durch die Kette der Schlussfolgerungen über das mit ihnen Implizierte festgeschrieben ist. Sprechen heißt so: Angeben und Auffassen von Gründen. Hierbei folgt das Sprachhandeln inferentiell ermittelbaren Normen - daher: »normative Pragmatik«. Das darf man allerdings nicht so verstehen, als repräsentierten diese Normen ein Etwas namens »die Sprache«. Die Auffassung, dass es so ein Ding (de Saussures »langue«) gäbe, ist in Analytikerkreisen spätestens seit Donald Davidson, auf den Brandom sich ausführlich bezieht, diskreditiert. Brandoms Normen sind keineswegs so etwas wie die (angeborenen) »Tiefenstrukturen« des Linguisten und Erfinders der Transformationsgrammatik Noam Chomsky.

Mit Wittgenstein argumentiert Brandom, dass, wenn beim Sprechen wirklich apriorische Regeln angewandt würden, aus diesen Regeln nicht ersichtlich wäre, wie man sie anwenden soll. Also bräuchte man Meta-Regeln, für die wiederum weitere Meta-Regeln nötig wären und so fort. Das ist offensichtlich Blödsinn. Aber Brandoms Normen sind auch keine bloße Verbrämung des empirischen Tatbestandes, dass Menschen, wenn sie reden, gewisse Regelmäßigkeiten an den Tag legen. Eine Kapitelüberschrift im hinteren Teil des Buches weist den Weg zum richtigen Verständnis von Brandoms Normbegriff: »We have met the norms, and they are ours«. Ich zitiere das auf Englisch, obwohl die deutsche Übersetzung von »Making It Explicit« größtenteils vorzüglich ist - hier aber ist ihr zwingend eine hübsche Nuance entgangen. Denn Comic-LiebhaberInnen werden den Anklang an ein Zitat aus Walt Kellys »Pogo«-Cartoon erkannt haben: »We have met the enemy, and he is us«.

Solche Anklänge an das Sprachgut aus dem reichen Strom dessen, was Heidegger wegwerfend »das Gerede« nannte, sind aber nicht bemühte Auflockerung eines andernfalls drögen gelehrten Textes - obwohl Brandoms Baseball-Bezugnahmen ihm einen Platz in der sehr gemischten Gesellschaft von Stephen King, Stephen Jay Gould und Michael Bishop sichern, die aus dieser US-Nationalsportart Argumente oder Wortkunst bezogen haben. Vielmehr unterstreichen sie als Binnen-Illustrationen von einiger inferentieller Verweisfülle die zentrale Idee des Brandomschen Normenbegriffs, wonach die Normen selber in jenem sozialen sprachlichen Prozess entstehen müssen, der dann auf sie zurückgreift, sie umformt und so weiter. Das heißt, es gibt weder irgendwo ein Regelbuch, noch sind die Regeln eine Art zufälliger sozialer Durchschnitt - sondern sobald ich mich an einem bestimmten Sprachspiel beteilige, beteilige ich mich auch an der Erschaffung seiner Regeln.

Oder als individuelle Lerngeschichte reformuliert, die Brandoms auch auf Texte und Lektürepraxis ausgedehnten Gesprächsbegriff übernimmt: Dass es so etwas wie einen guten, gescheiten journalistisch-polemischen Stil gibt, habe ich weder aus dem Duden erfahren noch indem ich, sagen wir: meiner unmittelbaren Umwelt auf's Maul geschaut hätte, sondern durch die Lektüre von Gremlizaschen Konkret-Artikeln ab 1984.

Wenn man die Wittgensteinsche »Sprachspiel«-Metapher samt »Spielzügen« ernst nimmt und sie - was Brandom tut - um Begriffe wie ein »Punktekonto« erweitert, heißt das auch, von Sanktionen zu reden - »rote Karte«, würde man hierzulande wohl sagen. Das hat Konsequenzen für Fragen der Autoritätszuweisung oder -annahme, und die Folgen (etwa für die Wissenschaftstheorie, aber auch für die Kulturtheorie) derartiger theoretischer Annahmen laufen kaum auf eine »Diskursethik« hinaus - freilich auch nicht auf deren Gegenteil.

Nun ist die Jungle World nicht die Neue Berliner Philosophische Wochenrevue, und die Frage nach der »Anwendung«, dem »Nutzen« des Mammutwerks, sitzt mir nagend im Genick. Wenn ich - wie vor einigen Wochen in der taz - im Rahmen eines ansonsten informierten und interessanten Artikels lese, man könne aus Brandoms Schaffen ableiten, dass die bislang von vielen angenommene Inkommensurabilität zwischen so genannten Kulturen nicht existiere, klingt das zwar schön und politisch herzerwärmend, aber erstens kann man sowas seit den Siebzigern schon bei Davidson erfahren, der außerdem die wagemutige These vertritt, das meiste, was die Menschen allgemein glauben, müsse richtig sein, und zweitens würde gerade ein Brandomianer sagen, das mit der Inkommensurabilität sei eine Frage der Praxis und der in ihr »expressiv« verwendeten Normen. Wer ein philosophisches Buch braucht, um keine Geschichten vom rätselhaften Orient und der unergründlichen russischen Seele mehr zu erzählen, ist ein armer Hund.

Anwendungsgier aber ist stets Ursprung von verderblichen Dingen. Auf solchen Lebenshilfe-Schnokus trifft der Verdacht der intelligenteren unter den erklärten Widersachern analytischer und verwandter Philosophie zu, etwa Adornos oder, aus einer anderen Ecke, Gilles Deleuzes, die meinten, hier werde Common Sense grotesk aufgebläht. Andererseits ist an der Sache mit dem Common Sense sogar im Fall Brandom was dran - selten wurde vernünftiger über Vernunft geschrieben als bei ihm.

Aber Brandoms ins Gigantische ausgebauter, pragmatisierter, semantisierter, sozialisierter, inferentiell aufbereiteter und theoretisierter Vernunftbegriff ist von Common Sense im schlechten Sinne des Wortes - vom Spießerfetisch »Sinn« - so weit entfernt wie Gandhis Pazifismus von Feigheit. Mein Grund für die Annahme, dass »Expressive Vernunft« hier besprochen gehört, folgt keinem Anwendungswahn, sondern einem formalen, theoriestilistischen Kriterium - nämlich dem des durch diese Zeitung populär gemachten Mottos: »Was hätte Flaubert getan?« Es ist der gelassene, geduldige Gigantismus des Brandomschen Unternehmens, sein blickweitend Ästhetisches, was mich begeistert und was ich preisen will und daher an ein paar Beispielen aus dem »Plot« und einem Mini-Sprach-Schaustück dargestellt habe, von dem man mir natürlich glauben muss, ich übernehme die volle assertorische Verantwortung.

Dies hier ist eine verkappte Romanbesprechung. Und auch wenn Brandoms HeldInnen »Anapher«, »deontischer Status« und »Extension« heißen statt »Leopold Bloom« oder »Didi und Stulle« - er erzählt eine Geschichte. So werde ich denn dieses Buch neben die Werke Joyces, Musils und Schernikaus stellen, als großen, dauerhaften Begriffsroman. Am Ende bleibt deshalb dem Rezensenten nur übrig, im Zuge eines jener verzeihlichen Aussetzer der Selbstbeherrschung, die für Kunsterfahrungen kennzeichnend sind, wahrheitsgetreu zu erklären: Ein so schönes Buch habe ich seit Ewigkeiten nicht gelesen.

Robert B. Brandom: Expressive Vernunft. Begründung, Repräsentation und diskursive Festlegung. Suhrkamp Verlag, Ffm. 2000, 1014 S., DM 148,00