Familie Kantelberg-Abdulla kann nicht umziehen

Gefangen in Sebnitz

Die Familie Kantelberg-Abdulla möchte Sebnitz verlassen. Doch die Stadt weigert sich ebenso wie das Land Sachsen, ihr Haus zu kaufen.

Einige Narren in der sächsischen Kleinstadt Sebnitz ließen sich dieses Jahr an Karneval etwas besonderes einfallen. Verkleidet als Renate, Saad und Diana Kantelberg-Abdulla postierten sie sich vor der Apotheke der deutsch-irakischen Familie. »Star-Haus zu verkaufen, Verhandlungsbasis: 1 Tüte Wick-Rachen-Drachen«, stand auf ihren Plakaten. Nur wenige Tage vor dem Karnevalsgag hatten die echten Kantelberg-Abdullas bekannt gegeben, dass sie ihr Haus verkaufen und Sebnitz notgedrungen verlassen würden.

Denn seitdem im November letzten Jahres die öffentlichen Auseinandersetzungen über die Umstände des Todes von Joseph - dem Sohn von Renate und Saad Kantelberg-Abdulla - begannen, ist die Situation für die Apothekerfamilie unerträglich geworden. Diverse lokale Protagonisten heizen die Stimmung an, ein Polizeiwagen steht immer noch vor dem Haus der Familie. Doch weder die sächsische Staatsregierung noch die Stadt wollen Geld für den Kauf der Apotheke aufbringen, um der Familie so einen geregelten Umzug zu ermöglichen. Renate Kantelberg-Abdulla kommentierte das vorige Woche in der Bunten so: »Man will uns fertig machen. Wir sollen vertrieben werden und unser Haus wollen sie dann noch für einen Appel und ein Ei haben.«

Immer unverhohlener werden in der Stadt Drohungen gegen die Familie geäußert. Auf der Veranstaltung »Wie weiter in Sebnitz?« Ende Februar, an der auch der sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf teilnahm, kam es erneut zu rassistischen Anspielungen. Ein Mann rief in den Saal: »Die glauben, die können sich hier benehmen wie im Irak, wo man Steine werfen kann.«

Den ausländerfeindlichen Parolen zum Trotz nutzte Biedenkopf seinen Besuch, um den Sebnitzern im Rahmen eines »Fünfjahresprogramms zur Förderung von Tourismus und Jugend« zehn Millionen Mark in Aussicht zu stellen. Doch die Wiedereinführung des Fünfjahrplans scheint die Bürger nicht zu besänftigen. Schon im Januar hatten die zunächst des Mordes an Joseph verdächtigten Jugendlichen die Stimmung in der Stadt beschrieben. Auf die Frage, wie sie darauf reagieren würden, wenn die Familie die Mordversion weiter aufrecht erhalte, antwortete Sandro Richter dem Stern: »Ich gar nicht. Aber es gibt Leute, die sagen: Wir kümmern uns schon um die.« Uta Schneider, die Tochter eines anderen Sebnitzer Apothekers, ergänzte: »Das sind Reaktionen, weil hier manche einfach nur Hass haben und jetzt damit drohen, dass sie denen die Bude abfackeln.«

Dutzende Drohbriefe erreichten inzwischen die Familie. Den vorläufgen Höhepunkt der Hetzkampagne bildete im Februar ein Brief, der einige Patronenhülsen enthielt. »Wir werden euch liquidieren. Wir haben Zeit und vergessen euch nicht«, schrieben die Absender. Wie ernst solche Ankündigungen zu nehmen sind, bestätigte indirekt auch Biedenkopf. Auf die Frage eines Sebnitzers, ob es denn nötig sei, vor dem Haus der Familie einen Polizeiwagen zu postieren, antwortete er: »Seien Sie doch froh, dass der Wagen da steht.« Man möge sich bloß vorstellen, so der Ministerpräsident, wie viel schlimmer alles hätte kommen können, wäre der Familie etwas zugestoßen.

Dabei wurde Sebnitz längst offiziell rehabilitiert. Die Medien entschuldigten sich für den »Rufmord des Jahres«, und der Presserat rügte im Februar Bild, die Berliner Morgenpost und die taz wegen unzulässiger Tatsachenbehauptungen. Einhellig geht man inzwischen davon aus, dass Joseph Abdulla nicht ertränkt wurde, sondern an einem Herzversagen starb.

An dieser Version soll nicht mehr gerüttelt werden, was auch der Grund sein dürfte, weshalb eine für Mitte Februar in Sebnitz geplante linksradikale Demonstration verboten wurde. Die Richter folgten dem Antragsteller, der »die Grenzen der physischen Belastbarkeit der Sebnitzer Bürger« erreicht sah. Die »aggressiv-kämpferische Diktion« des Demo-Aufrufes wurde ebenso zur Verbotsbegründung herangezogen wie die durch nichts begründete Annahme, dass es »mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit« zu Gewalttaten kommen würde. Die Befindlichkeiten der Sebnitzer werden damit über das Demonstrationsrecht gestellt.

Ein Ende der Auseiandersetzungen ist aber trotzdem nicht in Sicht, denn ohne finanziellen Offenbarungseid lässt die Stadt die Familie nicht ziehen, obwohl man sie loswerden will. Vor der Flucht der »Nestbeschmutzer« wünscht man ihren Kniefall und erwartet eine Entschuldigung für Behauptungen, die gar nicht aufgestellt wurden, wie Renate Kantelberg-Abdulla jüngst im Interview mit der Bunten berichtete: »Ich habe nie pauschal die Bürger dieser Stadt beschuldigt. (...) Dass sie in den Medien wegen dieser Geschichte pauschal verurteilt wurden, das tut mir sehr Leid, liegt aber nicht an mir.« Allerdings hält sie ihre Mordthese weiterhin aufrecht. Und das nimmt man ihr übel.

Im Februar gab die Familie ein viertes Gutachten bei internationalen Fachleuten in Auftrag, die noch einmal die Umstände des Todes von Joseph im Sebnitzer Freibad 1997 untersuchen sollen. Auch die Ermittlungen der Dresdner Staatsanwaltschaft sind noch nicht abgeschlossen. Immerhin musste Staatsanwalt Claus Bogner einräumen, es gebe weiterhin einen Zeugen, der beobachtet haben will, dass Joseph untergetaucht wurde (Jungle World, 8/01). Von den sächsischen Ermittlungen erwartet Renate Kantelberg-Abdulla nicht allzu viel. Schon im November hatte sie dem Berliner Tagesspiegel gesagt: »Wenn es (das Verfahren; S.W.) in der Hand der Dresdner Staatsanwaltschaft bleibt, kommt gar nichts raus.« Damit stand sie nicht allein. Selbst die FAZ forderte damals noch, den Fall durch Bundesbehörden untersuchen zu lassen. »Den örtlichen Behörden ist nicht zu trauen.«

Solche Töne werden mittlerweile in den Medien nicht mehr angeschlagen. Verurteilte man anfangs vorschnell die Verdächtigen, so wird jetzt die Version vom Badetod zur Doktrin erhoben. Dafür werden Widersprüche ausgeblendet oder uminterpretiert. So kritisierte etwa der Sprecher der Bundesarbeitsgemeinschaft Kritischer Polizisten, Thomas Wüppesahl, im ARD-Magazin »Kontraste« die schlampigen Zeugenvernehmungen durch die Dresdner Staatsanwaltschaft. Er behauptete, die früheren Aussagen der Belastungszeugen seien mit Suggestivfragen der Ermittler zu erklären.

Doch man kann der Dresdner Staatsanwaltschaft nicht vorwerfen, dass sie einseitig im Sinne der Kantelberg-Abdullas ermittelt hätte. So ist es unwahrscheinlich, dass sämtliche früheren Belastungszeugen nur von der Familie oder den Ermittlern beeinflusst wurden. Und es gibt mindestens einen Zeugen, der gegen den massiven Druck der Öffentlichkeit und trotz mehrfacher Vernehmungen bei seiner Aussage geblieben ist. Doch das findet keine Erwähnung.

Wahrscheinlich werden am Ende doch die Kantelberg-Abdullas verurteilt, gegen die ein Verfahren wegen Anstiftung zu falscher Verdächtigung läuft. Und die große Wende in der Berichterstattung, die keine andere Sicht der Dinge zulässt, wird gewiss keine Rügen des Presserates nach sich ziehen. Womöglich verhindert sie aber die Aufklärung des Falles.