Nachruf auf Claude Shannon

Maus, Maschine, Mensch und Mathe

Ein Nachruf auf Claude Shannon, den Mann, der uns die Nullen und Einsen beschert hat.

Es war einmal eine Kultur, an deren innerer Verdrahtung emsige Männlein und Weiblein ungefähr von dem Tage an, da in dieser Kultur Probleme der Berechenbarkeit, der Encodierung und der Übermittlung von Information aufgetaucht waren, eine so erstklassige Generalüberholung vornahmen, dass Schusterbub und Steuereinnehmer, alte Hex' und Artifex diese Kultur binnen weniger Jahrzehnte nicht mehr wiedererkannten.

Das Ensemble jener erregenden Dekaden begann man schließlich bündig »das Informationszeitalter« zu nennen. Dessen wirbelnde Abläufe verschwimmen inzwischen schon im Gedächtnis, so schnell gab eins das andere: Das Tischlein deckte sich, Alan Turing erfand die universale Turingmaschine, der Esel streckte sich, brillante Köpfe aus aller Welt namens Alonzo Church und Martin Davis, Norbert Wiener und Edsger Dijkstra, John von Neumann und Juri Matjasewitsch sowie zahllose andere, die kein Mensch kennt, warfen ihre Beiträge zu Hilberts zehntem Problem, Algorithmen, Maschinensprachen und der Methodologie der Programmierung in den Ring, der Knüppel sprang aus dem Sack, das Vöglein deckte zum Mahl, der Wichtel rüstete das Essen, Tom Stonier fragte sich, ob Information eine intrinsische Eigenschaft physikalischer Systeme sei, David Deutsch verschrieb sich dem Projekt des Quantencomputers und analysierte 1999 den »Information Flow in Entangled Quantum Systems«, Steven Spielberg drehte Kubricks unvollendeten Film »Artificial Intelligence« fertig. Am Ende war es endgültig so weit: Alle meine Freundinnen und Freunde hingen jeden Tag, den der liebe Gott werden ließ, stundenlang im Internet herum, schickten einander sinnlose SMS-Botschaften oder fragten sich, warum ihr im September 1998 in den USA gekaufter Toshiba SD-3108-DVD-Player die verdammte »Gladiator«-DVD nicht abspielen will.

Unterdessen jedoch ist so gut wie unbemerkt ein Mann gestorben, ohne den der ganze Tanz vermutlich etwas langsamer in Bewegung geraten wäre: Claude Elwood Shannon. Wer das war und warum man ihn kennen sollte?

Nette Frage: Warum muss man eigentlich wissen, wer die Leute waren, die das geschaffen oder verändert haben, worin man lebt oder womit man täglich umgeht? Ich weiß wirklich nicht, ob man so einer Frage wirksam - i.e. sie abwürgend - begegnen kann, indem man die wahre und daher zu Herzen gehende Geschichte Claude Shannons erzählt, der vor der Mitte des letzten Jahrhunderts der damals in nebligster Zukunft liegenden Zig-Milliarden-Dollar-Industrie namens »digitale Technologie« den entscheidenden Ideensamen lieferte. Shannon war industrieller Mathematiker and proud of it. Dennoch entsprach er dem unterkühlten Bild vom Number-crunching-»Theoretiker«, das sich die moderne Massenwelt von ihren eigentlichen Schöpfern und Veränderern macht, schon nicht recht, weil gerade seine spielerischsten Gedanken meist ernsteste Folgen hatten und umgekehrt selbst seine ernstesten Überlegungen spielerische Nebeneffekte produzierten, von denen er sich immer wieder mindestens so entzückt und überrascht zeigte wie seine Umgebung. Das Bild ist unscharf, vieles dürfte schwer zu entscheiden sein. War die berühmte »Shannonsche Maus«, ein aus Führungsmechanismus und daran gekoppeltem Rechner bestehendes magnetisches Spielzeug mit kleinen Ohren und einem fadendünnen Schwanz, das im Trial-and-error-Verfahren Wege aus einem Laybrinth finden konnte und also imstande war zu »lernen«, nun ein absurder Scherzartikel oder eine tiefsinnige kafkaesk-kybernetische Allegorie? Dieselbe Frage ließe sich mit Bezug auf die »ultimate Maschine« stellen, das gemeinsame Kind Shannons mit dem Künstliche-Intelligenz-Forscher Marvin Minsky: ein mit einem Schalthebel versehener schwarzer Kasten, aus dem, wenn man den Apparat einschaltet, eine mechanische Hand herausgreift, die das Gerät wieder abschaltet.

Witz oder Weisheit? Haupt- oder Nebensache? War Shannons Arbeit an Ver- und Entschlüsselungssystemen ein Nebenpfad seiner Störungs- und Entstörungstheorien, oder waren vielmehr umgekehrt diese und damit auch seine mathematische Analyse der Unterscheidung Signal/Rauschen ein sekundärer, abgeleiteter Ausdruck seines tüftlerischen Interesses an Geheimsprachen, Schriften von anderswoher und all den »außerirdischen Signalen« in der Menschenwelt? Solchen Fragen folgt die »Metafrage« auf dem Fuß: Darf man Kippschalter wie diese überhaupt umlegen? Ist die wertende Entscheidung, ob man es bei einem Pionier wie Shannon mehr mit einer Inkarnation des homo ludens, einem ewigen Kind also, oder einem faustischen Gelehrtentemperament auf der Suche nach letzten Antworten zu tun hat, überhaupt erlaubt, nur weil das zufällige, von biologischen Gegebenheiten diktierte Ende so eines Lebens die Gelegenheit dazu schafft?

Der wichtigste Schubser, den der 1916 geborene Kommunikationsanalytiker und Informationstheoretiker jener kulturmorphologischen Universalmaschine gegeben hat, auf deren Gleisen wir in die Zukunft sausen, dürfte wohl der in seiner Diplomarbeit »A Symbolic Analysis of Relay and Switching Circuits« entwickelte Gedanke gewesen sein, den durch Schließung bzw. Öffnung gegebenen Ein/Aus-Zuständen eines Stromkreises Boolesche Binärcode-Digits zuzuordnen. Das Jahr, in dem er diese Arbeit schrieb, 1938, darf als Geburtsstunde des digitalen Computers gelten. Hier in Details zu gehen wäre zwar zweifellos sehr hübsch, wird aber leider durch die beklagenswerte Tatsache behindert, dass man bei Dingen, die sich zwischen Deduktion und Formalisierung abspielen, auch Wohlmeinenden und Aufnahmefähigen meistens zu viel erklären muss - wer weiß schon, was Boolesche Logik ist? Es ist und bleibt ärgerlich, dass - auf ihre Art keineswegs unnötige - Bücher wie Sadie Plants »Nullen und Einsen«, die der informationsgesellschaftlichen Lebenswelt mit gescheiten Metaphern, kulturkritischen Parabeln und philosophischen Versatzstücken aus den Arsenalen angesagter Theoriedichtung zuleibe rücken, unter den gegebenen Umständen automatisch stets mehr Leserinnen und Leser finden als etwa »Ein/Aus«, die auf's Grundlegendste beschränkte, dabei ausnehmend schön präsentierte und verständnisvoll arrangierte Auswahl aus Claude Shannons Schriften, die der Berliner Verlag Brinkmann und Bose letztes Jahr besorgt hat und die nur ein Viertel so viel kostet wie ein neuer Farbmonitor für die akkuratere Wiedergabe von PC-Ballerspiel-Panoramen.

Denn das Buch, das in Shannons Welt einführt, enthält nun mal notwendig ein paar Gleichungen, und da hört auch für die Neugierigsten der Spaß auf. Wie die Dinge liegen, habe ich hier keinen Platz dazu, an dieser Tatsache effektiv zu rütteln. Stattdessen will ich also zuletzt denen, die für Gleichungen nun mal nichts übrig haben, wenigstens zu bedenken geben, dass sich das mathematische Treiben, um das es hier geht, keineswegs so weit von den »kulturellen« Interessen entfernt abgespielt hat und noch abspielt, die, zum Beispiel, die Leserin und den Leser dieser Jungle-World-Seite umtreiben.

Shannon und das, wofür er steht, waren und bleiben nämlich durchaus prägend für eine Gegenwartskultur, die von neuerer Science Fiction - zahlreiche SF-Kulturschaffende von Paul di Filippo bis Neal Stephenson haben Shannon, der seinerseits SF-Autoren wie Silverberg und Clarke schätzte, offenen und versteckten Dank abgestattet - bis zu Pac-Man-Retro-Netzkunst-Basteleien, von der Bioinformatik - Shannon schrieb schon früh Aufsätze zur Populationsgenetik - bis zur Spieltheorie reicht.

Auf all diesen Feldern, an all diesen Fronten erzeugen so die rechnergestützten Benutzeroberflächen unseres Gegenwartsalltags das passende Märchen-Ende zum obigen Märchen-Anfang: Weil Shannon nicht gestorben ist, lebt das, was er war, noch heute.

Claude E. Shannon: »Ein/Aus«. Brinkmann und Bose, Berlin 2000, 334 S., DM 80