Aufstand in der Kabylei

Ihr habt Autos - wir haben nichts

21 Jahre nach dem »berberischen Frühling« machen Jugendliche in der algerischen Kabylei erneut einen Aufstand. Die Repression ist überaus hart.

Barrikaden aus brennenden Autoreifen, Verkehrsblockaden, Angriffe auf öffentliche Gebäude und Polizeistationen - seit dem 18. April liefern sich überwiegend jugendliche Demonstranten in den Städten der Kabylei immer wieder erbitterte Straßenschlachten mit der Polizei. Am Samstag nahmen die Unruhen eine dramatische Wendung. Für diesen Tag hatte der oppositionelle FFS (Front der Sozialistischen Kräfte) zunächst zu Friedensmärschen aufgerufen. Im letzten Moment wurden die Demonstrationen abgesagt, um, so der FFS, ein von »Kreisen der Macht« geplantes »Blutbad« zu vermeiden.

Dennoch versammelten sich in den Städten der Kabylei Tausende von Demonstranten. In Bejaia versuchten sie, die schwer bewachte Präfektur zu stürmen, wie in anderen Städten ging die Polizei auch hier mit Tränengas und Schusswaffen gegen die Proteste vor. Nach Angaben des FFS wurden allein am Samstag im Bezirk Tizi Ouzou 23 Demonstranten von der Polizei getötet. In anderen Städten der Kabylei starben sechs Menschen, in Boghni soll auch ein Polizist getötet worden sein. Die Zahl der Toten hat sich damit nach algerischen Presseangaben vom Wochenende auf über 50 erhöht.

Im Aufstandsgebiet nordöstlich der Hauptstadt Algier ist eine der am besten organisierten algerischen Minderheiten zu Hause: die Kabylen, die unter sich nicht die offizielle Amtssprache Arabisch, sondern die Berbersprache Tamazight sprechen. Sie sind die wichtigste der berbersprachigen Bevölkerungsgruppen, denen rund ein Drittel der knapp 30 Millionen Einwohner des Landes angehört. Seit der Unabhängigkeit von Frankreich 1962 haben sie sich der Arabisierungspolitik der Zentralregierung widersetzt. Einige der wichtigsten politischen Parteien Algeriens, wie der FFS und der RCD (Sammlung für die Kultur und die Demokratie), sind in ihrem Kern kabylische Regionalparteien. Sie arbeiten in der Kabylei als Clan- und Lobbyparteien. Ihre Konkurrenz treibt sie häufig dazu, systematisch Gegenpositionen zueinander einzunehmen.

Beide haben sich aus unterschiedlichen Gründen für eine Beendigung des Aufstands ausgesprochen. Der FFS will die Proteste kanalisieren, um sich als Oppositionskraft zum amtierenden Regime zu profilieren. Die Partei, die Mitglied der Sozialistischen Internationale ist, spricht sich für die »nationale Aussöhnung« mit den Islamisten aus. Der RCD hingegen definiert sich als anti-islamistische Kraft und hat ein modernistisches, mittlerweile klar bürgerlich-liberales Profil. Nach einer längeren Periode in der Opposition trat er 1999 in die Regierungskoalition ein. Parteichef Saïd kündigte jedoch am Sonntag an, der RCD werde wegen der repressiven Regierungspolitik aus der Koalition austreten.

FFS und RCD sind aus einer regionalen Basisbewegung hervorgegangen, dem MCB (Berberische Kulturbewegung). Anfang der achtziger Jahre kam es zu Protesten gegen die staatlichen Versuche, die Berbersprache Tamazight zu unterdrücken. Die sich rasch ausbreitende Bewegung nahm auch demokratische und soziale Forderungen auf und geriet im so genannten berberischen Frühling im April 1980 in eine scharfe Konfrontation mit der damaligen realsozialistisch-nationalistischen Diktatur der Einheitspartei FLN und des Militärs.

Am vorletzten Wochenende jährten sich diese Proteste zum 21. Mal. In einigen kabylischen Städten veranstalteten Jugendliche deshalb Gedenk- und Protestmärsche, bei denen die Forderung nach Gleichberechtigung der Tamazight-Kultur auf eine allgemeine soziale Unzufriedenheit traf. Die brutalen Reaktionen und Schikanen der Polizei führten am vorletzten Sonntag zur Eskalation. Ausgehend von den Kleinstädten Amizour und El Kseur, die auf den Höhen über der Regionalmetropole Bejaia liegen, verbreitete sich der Aufstand wie ein Lauffeuer.

Jussuf, ein Naturwissenschaftler der Universität Bejaïa, der in Amizour wohnt, erklärte, dass die Verhaftung zweier Jugendlicher, die am Vortag an einer der Demonstrationen zum Jahrestag des »berberischen Frühlings« teilgenommen hatten, und ihre anschließende Misshandlung durch die Polizei zur Eskalation geführt hätten. Am gleichen Tag war im rund 100 Kilometer entfernten Tizi-Ouzou ein Jugendlicher im Polizeigewahrsam gestorben. Daraufhin kam es zu Plünderungen durch aufgebrachte Jugendliche, Autoreifen brannten auf den Straßen, die Konfrontation mit den Ordnungskräften folgte.

Von seinem Fenster aus konnte Jussuf beobachten, wie Polizisten auf offener Straße Jugendliche misshandelten, schlugen und in der Öffentlichkeit auszogen. Als Reaktion darauf, so der Augenzeuge weiter, »haben die Jugendlichen Straßensperren errichtet und Autofahrer an der Weiterfahrt gehindert. Sie warfen ihnen vor: 'Ihr habt Autos, aber wir haben überhaupt nichts.' Ab 10 oder 11 Uhr morgens kommt man nirgendwo mehr durch.« Zwar stünden Forderungen nach einer Anerkennung der Tamazight-Kultur im Vordergrund, der Aufstand sei aber weit stärker »Ausdruck einer verallgemeinerten sozialen Misere und Perspektivlosigkeit dieser Jugendlichen«, meint Jussuf. Die örtlichen Industrien befänden sich im Niedergang, und selbst für die meisten Universitätsabsolventen gebe es keine Jobs außerhalb der Saisonarbeit in der Landwirtschaft.

Tatsächlich existieren keine Organisationen, die das Vertrauen der Jugendlichen hätten und dem Aufstand eine weitergehende Perspektive verleihen könnten. Die Überreste der MCB wurden von FFS und RCD aufgesogen, was zum Tod der Bewegung führte. In den letzten Tagen wurden gerade auch Parteibüros des RCD und vor allem des FFS in einer Reihe von Städten angegriffen.

Die große Mehrheit der Bevölkerung bejaht Jussuf zufolge den Aufstand: »In den Krankenhäusern beispielsweise akzeptieren die Beschäftigten, dass die eingelieferten verletzten Jugendlichen sich mit falschen Namen anmelden. Denn die Erfahrung der brutalen Repression nach dem Frühjahr 1981 hat gezeigt, dass die Polizei die Krankenhausunterlagen benutzte, um die beteiligten Jugendlichen zu verhaften.«

Jussuf erwartet keine unmittelbaren politischen Erfolge, sieht die Aufstände aber doch als Signal der Hoffnung. Seine Frau ist pessimistischer. Sie beobachtete, dass einige der Jugendlichen islamistische Slogans riefen - möglicherweise nur als Provokation, weil die Islamisten ihnen als radikale Kraft gegen die Staatsmacht erscheinen mögen. »Aber vor fünf Jahren wäre es nicht vorstellbar gewesen, dass hier Slogans wie 'Das Volk ist auf Seiten der Gia' erscheinen«, sagt sie. Die Bewaffneten Islamischen Gruppen (Gia) hatten in der Kabylei bislang kaum Anhänger.

Der Zustand dieser Region, geprägt von Riots ohne größere gesellschaftliche Perspektive, ist nicht untypisch für das gesamte Land. Die soziale Lage - bei offiziell knapp 30 Prozent Arbeitslosigkeit - ist explosiv, dennoch gibt es keine organisierte gesellschaftliche Opposition. Indessen hat auch die Anziehungskraft der reaktionären Utopie des Islamismus angesichts der Massaker der letzten Jahre nachgelassen.

Zugleich sind der organisierten Arbeiterbewegung in ihrer gegenwärtigen Form die Hände gebunden. Die Einheitsgewerkschaft UGTA (Allgemeiner Verband der Algerischen Arbeiter) war in der Zeit der Einparteienherrschaft zwischen 1962 und 1989 immer eng mit dem FLN verbunden. Ihr bürokratischer Apparat ist bis heute von der damaligen Mentalität geprägt. Dennoch hatte die UGTA am 20. März zu einem landesweiten Streik gegen den Plan der Regierung aufgerufen, die algerische Ölgesellschaft zu privatisieren. Der 1971 verstaatlichte Erdöl-Monopolist Sonatrach gilt als Herzstück der algerischen Ökonomie, die lange Zeit auf einer Staatswirtschaft mit enormen Privilegien für die Militärs und die Bürokratie beruhte. Deren besondere Vorrechte bestanden nicht zuletzt im Zugriff auf die von der Sonatrach verwaltete Ölrente.

Staatspräsident Abdelaziz Bouteflika reagierte verärgert auf die gewerkschaftliche Initiative: »Keine soziale Kraft kann uns unter Druck setzen und sich als Gewissen oder Vormund des algerischen Volkes aufspielen.« Der Streikaufruf wurde aber dennoch nach Presseangaben in der Ölindustrie, an den Tankstellen, aber auch in der Metallbranche zu 92 Prozent befolgt. Nach einem Gipfeltreffen mit der Regierung rief die UGTA ihre Mitglieder zur Ruhe auf. Dennoch wurden Ende März auch der Banksektor, die Finanz- und Zollbehörden von einer Streikwelle erfasst.