Aktionen der Tute Bianche

Rebellion der Körper

Die erfolgreichen Aktionsformen der italienischen Tute Bianche werden von den internationalen Protestbewegungen begeistert übernommen.

Das Abschiebegefängnis in der Via Corelli ist in Sichtweite. Doch die Straße, die zum Lager führt, ist von mehreren Hundert Carabinieri abgesperrt. Soeben hat die Polizei es abgelehnt, eine Delegation aus JournalistInnen und AnwältInnen auf das Gefängnisgelände zu lassen. Vor den Polizeiketten formieren sich mehrere hundert Männer und Frauen in weißen Overalls. Unter diesen Anzügen tragen sie Polster aus Schwimmwesten und Schaumstoffmatten, Schoner für Ellenbogen und Knie. Alle sind mit Helmen und Gasmasken ausgerüstet.

Kurz darauf entbrennt ein heftiger Kampf zwischen den weiß Uniformierten und der Polizei, Tränengas macht das Atmen unerträglich. Doch die Militanten weichen nicht zurück und schlagen die Polizei, angefeuert von mehreren Tausend DemonstrantInnen, sogar kurzzeitig in die Flucht. Schließlich darf unter Parolen wie »Siamo tutti clandestino!« - »Wir sind alle Illegal!« die Abordnung das Lager betreten. Am selben Abend verkündet der italienische Innenminister Enzo Bianco die Auflösung des Gefängnisses.

Die Szene spielte sich Ende Januar vergangenen Jahres während einer Demonstration gegen ein Abschiebegefängnis in Mailand ab und markierte die Geburtsstunde der Tute Bianche in ihrer heutigen Form. Das Lager ist nach Renovationsarbeiten zwar seit Monaten wieder mit Abschiebehäftlingen belegt, doch die mitunter auch schlagkräftigen Demoauftritte werden immer populärer.

Bereits 1993, als AktivistInnen gegen die erste Räumung des bekannten Centro Sociale Leoncavallo, das sich bis dahin noch in der gleichnamigen Straße befunden hatte, demonstrierten, waren die weißen Overalls präsent. Sie symbolisierten jedoch zunächst nur die »Unsichtbarkeit« marginalisierter Gruppen, um deren rechtlose Lebenssituation als Obdachlose, Illegalisierte oder Beschäftigte in prekären Arbeitsverhältnissen zu skandalisieren.

Seit Beginn letzten Jahres sind die Tute Bianche nun dank ihrer Defensivbewaffnung auch für die direkte Konfrontation mit den Sicherheitskräften gewappnet. Dabei sind sie jedoch darauf bedacht, das Konfliktniveau niedrig zu halten. »Unsere Aktionen sind nicht spontan, sondern koordiniert, um jede Panik zu vermeiden. Wir wollen, dass alle, auch Familien, sich an unseren Demonstrationen beteiligen können«, so die Aktivistin Enrica im Gespräch mit der Jungle World.

Die Tute Bianche bezeichnen ihre Aktionsform als zivilen Ungehorsam. »Wenn jemand ein McDonald's-Restaurant entglast, ist das in unseren Augen keine Gewalt.« Die Bedeutung der spektakulären Aktionen, die jeweils vorher in den Medien angekündigt werden, beschreibt Enrica wie folgt: »Wir wollen die Konfrontation, weil wir die Gewalt des Systems zeigen wollen.« Die Militanten in den weißen Overalls wollen ihren Körper zur Waffe machen. Da im Kapitalismus der Körper eine Ware ist, rufen sie zur »Rebellion der Körper« auf.

Um den Unterschied zwischen Legitimität und Legalität zu verdeutlichen, wurde in Rom beim Besuch des österreichischen Rechtspopulisten Jörg Haider Ende letzten Jahres ein riesiges Plakat entrollt, auf dem ein Konzentrationslager mit der Bildunterschrift: »Nie wieder!« abgebildet war. Die italienische Polizei ging hart gegen die Tute Bianche vor und zerstörte das Plakat. »In den Augen des Staates ist es zwar legal, Abschiebegefängnisse zu betreiben, gleichzeitig ist es illegal, an den Judenmord zu erinnern. Für uns ist ersteres jedoch illegitim, letzteres ist für uns legitim und notwendig«, sagt Enrica.

Getragen wird die Aktionsform vor allem von den AktivistInnen der Vereinigung Ya Basta und den Centri Sociali des Landes. Einige dieser Zentren koordinieren sich in der so genannten Carta di Milano, die zugleich als eine Art Konstitution formuliert wurde. Die Vereinigung Ya Basta besteht aus etwa zehn Gruppen im ganzen Land, die stark mit den sozialen Zentren verflochten sind.

Während die Treffen der Tute Bianche vorwiegend organisatorischen Charakter haben, liefern die Centri Sociali und Ya Basta den politischen Überbau. Viele Zentren gingen aus den Häuserkämpfen in Italien Mitte der siebziger Jahre hervor, als unter anderem die in der außerparlamentarischen radikalen Linken starke Autonomia Operaia (Arbeiterautonomie), die 1977 über hunderttausend Menschen mobilisieren konnte, Freiräume für Jugendliche und ArbeiterInnen schuf. Autonomia Operaia war vor allem in den Fabriken präsent und wurde Ende der siebziger Jahre im Spannungsfeld von bewaffnetem Kampf und extremer Repression durch den Staat de facto zerschlagen. Viele Mitglieder hatten die Idee einer bewaffneten Avantgarde prinzipiell abgelehnt. Sie waren der Überzeugung, dass nur eine Massenbewegung der ArbeiterInnen die Revolution durchführen könne.

Heute existieren in Italien über zweihundert solcher Zentren. Ya Basta selbst wurde 1996 von italienischen Delegierten des so genannten ersten interkontinentalen Encuentros in Chiapas, Mexico gegründet. Zum Großteil mit den Centri verbunden, wollten sie das zapatistische Politikverständnis in Europa populär machen. Sowohl der Aufstand in Mexico sollte unterstützt als auch der »Neoliberalismus in Europa« bekämpft werden, wie in einem Papier der Vereinigung zu lesen ist. Dabei bekommen die »Strategien des Zugangs zur Kommunikation« eine zentrale Bedeutung.

Diese Strategien dienen zugleich als Argumente gegen die Kritik an Ya Basta und Tute Bianche. Denn die Vorwürfe der Kritiker reichen von Reformismus und Fixierung auf die Medien bis zu Dominanzverhalten bei Aktionen. So äußerte ein Mitglied der Mailänder Gruppe F.I.L.E.F., die sich die Unterstützung von MigrantInnen zur Aufgabe gemacht hat, gegenüber Jungle World, dass die Idee für die Demonstration gegen das Abschiebegefängnis im Januar 2000 nicht von Ya Basta oder den Tute Bianche stamme. Vielmehr seien diese erst später hinzugekommen und hätten ihr Konzept den anderen Gruppen aufgezwungen. »Manche denken, wir seien reformistisch, weil wir medialen Einfluss wollen«, sagt Enrica. »Aber das heißt nicht, dass wir die JournalistInnen auch mögen.«

Ein Mitarbeiter von Radio Sherwood, einem mit Ya Basta eng verbundenen Sender, widersprach dem Reformismusvorwurf im Interview mit der Internet-Zeitung Aut: »Wir haben uns entschieden, von Ideologien Abstand zu nehmen, andere haben dies nicht. (...) Unsere Analyse der gegenwärtigen Welt hat uns dazu geführt, manche gesellschaftliche Aspekte in Betracht zu ziehen (...) auch zu dem Versuch, die Ketten zu durchtrennen, die uns zu eng mit marxistischer Orthodoxie verbunden haben.«

Außerhalb Italiens wird das erfolgreiche Aktionskonzept der Tute Bianche begeistert zur Kenntnis genommen. Bologna, Genua und Prag heißen die Wegmarken der Bewegungslieblinge, und an die Stelle der Inspiration zu eigenen Ideen tritt oft die Mythenbildung. »Wenn die Italiener sich gut ins Zeug legen, können sie das ganze Land blockieren«, zitierte etwa die SoZ im vergangenen Februar einen Aktivisten. Gemeint waren die geplanten Proteste gegen den G8-Gipfel. »Englische Reclaim-the-Streets-AktivistInnen haben schon überlegt, ganz durchsichtige Rüstungen zu bauen, in denen nackte Frauen auf die Polizei losgehen, um die Polizisten mit der Idee zu konfrontieren, eine nackte Frau zu schlagen.« Dass die realen Gewaltverhältnisse in der Gesellschaft ohnehin durch zahllose Übergriffe auf Frauen gekennzeichnet sind, lässt er offensichtlich außer Acht.

Mit dem Blick auf die kommenden Gipfeltreffen formiert sich die Protestbewegung, in der ganzen Welt entstehen Gruppen der Tute Bianche, unter anderem in New York, Mexiko, Finnland und Spanien. Im Juni findet in Genua ein internationales, so genanntes intergalaktisches Treffen statt, auf dem neue Strategien besprochen werden. Zur Mobilisierung gegen den G8-Gipfel, der vom 20. bis 22. Juli in Genua abgehalten wird, reisten vor kurzem AktivistInnen von Ya Basta und den Tute Bianche durch Deutschland, um ihre Gruppe und Praxis vorzustellen. Möglicherweise wird nun auch hier bald der gefürchtete schwarze Block durch einen weißen ergänzt.

www.ecn.org,
www.tutebianche.org