Bildungskanon im Internet

Was weiß der Roman?

Alle Welt macht sich Gedanken darüber, was man wissen sollte. Data Mining als Hilfsmittel der Kunst- und Kulturwissenschaften könnte bald jede Art von Kanon obsolet machen.

Nicht nur das Großhirn des Homo sapiens, auch seine erweiterten sozialen Ordnungen zwischen Welthandel und Kultur speichern ihr Wissen gern lokal gebunden und organisieren es am allerliebsten dezentral. Versuche, dagegen anzugehen - etwa durch die Computerisierung eines hypothetischen »common sense« oder durch die pädagogisch/ kulturmorphologische Bestimmung eines Kernbestandes von sozial unerlässlichem Wissen -, inspirierten in den optimismusverwöhnten USA noch 1984 den Beginn des mit immerhin 35 Millionen Dollar Startkapital ausgestatteten CYC Project und 1986 die Gründung der Core Knowledge Foundation. Mittlerweile begeistern diese beiden kühnen Großversuche jedoch nur noch ein paar Unentwegte und sind ansonsten zu semi- bis vollkommerziellen administrativen Dienstleistungsanbietern geworden (www.cyc. com und www. coreknowledge.org).

Die Info-Ökonomie komplexer Gesellschaften lässt sich, so scheint es, eben einfach nicht bündeln, parkettieren oder stromlinienförmig machen. Diese Einsicht ist letztlich selbst naivstem Nachdenken mit einigem gutem Willen unmittelbar zugänglich und daher im Grunde trivial. Nichtsdestotrotz hat sie in den unterschiedlichsten Formulierungen während der letzten 100 Jahre Wissenschaftstheoretikern wie Karl Popper oder Thomas Kuhn, Nationalökonomen wie Ludwig von Mises oder Friedrich von Hayek sowie last not least Sozialtheoretikern von Pierre Bourdieu bis Niklas Luhmann immer wieder viel Freude bereitet und sie zu allerlei byzantinischen Theorien des »sozialen Gedächtnisses« angeregt.

Spätere Generationen dürften die dabei entstandenen analytischen Konstrukte wohl mit demselben zwischen Abscheu und Bezauberung schwankenden Befremden betrachten, das die Kognitionswissenschaften der Gegenwart Sigmund Freud oder C.G. Jung und ihren großen poetischen Leistungen psychologischer Spekulation entgegenbringen.

Denn seit etwa 15 Jahren entwickeln und perfektionieren Informatiker mit wachsendem Erfolg einen Strauß mathematischer Verfahren, mittels deren der Zugriff auf nützliche Informationen innerhalb weit verzweigter und nicht hierarchischer Datenbasen mit nie zuvor gekannter Exaktheit erfolgen kann: »Data Mining« heißt das Zauberwort. Die Literatur zum Thema wächst stündlich, die einschlägigen Seminare der computerwissenschaftlichen Fakultäten kämpfen mit Bewerbungen von Interessenten aus den entlegensten gesellschaftlichen Zonen.

Die angesehene Technology Review (www. technologyreview.com) des Massachusetts Institute of Technology kürte das Data Mining in ihrer Februar-Ausgabe zu einer der »zehn Technologien, die demnächst die Welt verändern werden« - neben so arkanen Forschungszweigen wie flexiblen Transistoren, Biometrik und Mikrophotonik. Die Anwendungsmöglichkeiten der unter Data Mining zusammengefassten Mustererkennungsalgorithmen, Cluster-Klassifikationskataloge, »fuzzy« Regelwerke, »Karten« und Neural Networking-Methoden erstrecken sich von Börsenstatistiken über Kreditvergabe-Entscheidungshilfen, Kriminalstatistik, Versicherungsrecht, pharmazeutische Forschung, Einschätzung von Umweltgefahren und Analysen von Spielverläufen im Sport bis zur Mutationsdetektion in der Genetik.

Die großmaßstäbliche Anwendung von Data Mining-Ansätzen auf im engeren Sinne kulturelle - vor allem: schöngeistige und künstlerische - Datenbasen wird freilich vorerst noch nirgends unternommen. Dabei muss nicht erst auf Höhepunkte der Netzkunst und -literatur wie den digitalen Salon der New York School of Visual Arts (www.sva.edu/salon) oder die Internet-Romane »253« des Briten Geoff Ryman und »Abfall für Alle« von Rainald Goetz verwiesen werden, um die Plausibilität des kunst- oder literaturbezogenen Data Mining darzutun.

Schon die inzwischen stark patinierten Meisterwerke der Hochmoderne, aber auch spätere modernistische und, wie man dann gern sagte, »postmoderne« Entwürfe forderten und fordern dazu auf, das der Rezeption jeweils Gegebene eher als anschlussfähige Datenstruktur aufzufassen denn als schönen Schein von (oder: vor) irgend etwas anderem als den Daten selbst: etwa die »Bibliothek von Babel« des Jorge Luis Borges oder der als Palimpsest seiner eigenen möglichen Lektüren angelegte Roman »Wenn ein Reisender in einer Winternacht« von Italo Calvino, ferner die elektronische Musik seit 1960, diverse Werke der Konzeptkunst sowie eine schier unübersehbare Zahl von Artefakten der Popkultur, darunter die Filme Quentin Tarantinos wie aber auch die Musik Saul Williams'.

Der Traum einer quasi bis streng mathematischen Ästhetik, die sich zu solchen Produkten einer Kultur im Stadium fortgeschrittener Verwissenschaftlichung mit der wünschenswerten reflexiven Verfügungsgewalt zu verhalten wüsste, ist alles andere als neu. Schon die Zwölftontechnik kokettierte mit der eigenen »Wissenschaftlichkeit« ebenso wie später manch konkreter Poet oder neokonstruktivistischer Maler. Auf Seiten der zuständigen Kräfte in academia taten Strukturalismus, russischer Formalismus und Einzeluntersuchungen wie die »Mathematische Poetik« (1970) des rumänischen Linguisten Solomon Marcus das ihre.

All diese manchmal in rasch vergessene Abseitigkeit mündenden Wagnisse wiesen jedoch gegenüber einer potenziellen Durchkämmung des Kulturerbes der Menschheit mit Data Mining-Methoden den Nachteil auf, dass sie durchaus noch kreative Leistungen ihrer jeweiligen Urheber sein sollten. Noch der sublimste, als kosmischer Klangforscher posierende Komponist, wie sein literaturwissenschaftlicher Kollege von der rechnergestützten Germanistik, konnten und können nicht umhin, die Resultate ihrer Arbeit als eigene Werke, seien es nun Opern oder Schwarten, in den Kanon einzureihen.

Dank Alan Turing und seiner universalen Turingmaschine, des Sinnbilds des modernen digitalen elektronischen Computers, und ferner dank der neuerdings eroberten Gelegenheit, die Apparate mit Data Mining-Software zu bespielen, aber sind nunmehr völlig autonome, geradezu weltabgewandte Forschungsprojekte möglich geworden. Projekte, bei denen z.B. die Analyse eines Romans nicht allein nach den aus der Frühzeit des Strukturalismus in so unangenehmer Erinnerung gebliebenen statistischen Worthäufungen vorgenommen werden könnte, sondern selbst nach so diffizilen Kriterien wie »Stimmungen« und »Motivation von Figuren« - ohne jede menschliche Beteiligung.

Wenn erst die Sensorensoftware besser wird und die Apparate nicht nur hören und sehen, sondern vor allem sehr viel besser lauschen und erkennen werden als heute, steht der Erweiterung der Leistungsfähigkeit entsprechender Suchmaschinen auf zufällige Farbspritzer und gesampelte Sounds bald nichts mehr im Weg. Was das für die Klavierstunden unserer Urenkel bedeuten mag, kann man einstweilen nicht einmal ahnen.

In der ausgedehnten Anwendungsreichweite des Data Mining zeichnet sich damit aber auch eine neue, artifiziell gezogene Summe des kulturellen Ganzen - gewissermaßen ein »Humangenomprojekt Ästhetik« - ab, dessen alptraumhafte Schönheit die staunende Menschheit hoffentlich noch in diesem Jahrhundert wird bewundern dürfen. Es ist ja noch jung.